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01. Apr. 2005

Multipolarität und „Europe puissance“

Auch die Europäer reden des öfteren aneinander vorbei: Auf der Suche nach der Logik der französischen Außenpolitik

Frankreich hält an seinen außenpolitischen Zielen fest: Wahrung des eigenen Ranges und der Unabhängigkeit. Es ist sich aber zunehmend bewusst, dass es diese Ziele nur als Teil eines handlungsfähigen Europas („Europe puissance“) erreichen kann. Auf dem Weg dorthin ist Deutschland der Partner „sine qua non“. Beide Staaten sehen sich ihrem Ziel gleichgewichtiger transatlantischer Beziehungen etwas näher gekommen.

Die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich sind immer wieder dem Zweifel an ihrer „raison d’être“ ausgesetzt.1 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Logik der französischen Außenpolitik und danach, ob sie mit der deutschen vereinbar ist.

Unterschiedliche Weltbilder hat es immer wieder vor allem von den transatlantischen Beziehungen gegeben. Nähern sich hierüber deutsche und französische Auffassungen an, weil diese Beziehungen im Wandel begriffen sind? Der Krieg im Irak und seine Folgen haben Europa und den USA so etwas wie eine „Stunde der Wahrheit“ beschert. Ihre Wirkung ist insgesamt eher heilender Art. Alle Seiten haben sich bewegt. Die Frage, „wer Recht gehabt hat“, wird heute nicht mehr gestellt. Frankreich nahm von seiner These Abstand, dass Europa ein Gegengewicht zu den USA bilden müsse. George W. Bush besuchte als erster Präsident der USA die europäischen Institutionen in Brüssel. Dort versicherte er, dass „Amerika ein starkes Europa unterstützt … weil wir einen starken Partner brauchen“. An die Stelle der Klage über die (vorausgesagten) Folgen des Krieges im Irak ist das gemeinsame Interesse am Wiederaufbau getreten. Die Europäer begnügen sich nicht damit, vor einer Übertragung westlicher Demokratiemodelle auf die arabische Welt zu warnen. Sie entwickeln eigene Konzepte und nehmen mit einer gewissen Verwunderung wahr, dass sich im Nahen Osten politischer Wandel abzeichnet: Wahlen der Iraker und Palästinenser, erstmals Kommunalwahlen in Saudi-Arabien, Demonstrationen im Libanon, politischer Druck auf Syrien, Wahlreform in Ägypten. Die transatlantische Diskussion wird nicht mehr vom Gegensatz zwischen „Venus und Mars“ bestimmt, sondern von der Frage, was Europa und die USA voneinander lernen können. Hat die Logik der französischen Außenpolitik diese Entwicklung  befördert?

Die Logik der französischen Außenpolitik erschließt sich aus einer historischen Perspektive. Haben die Krisen der internationalen Politik, vor allem in der Folge der Attentate des 11. September 2001 und des Krieges im Irak, einen Wandel der französischen Außenpolitik bewirkt oder offenbaren sie nur bestehende Tendenzen?2 Liegt die Logik der französischen Außenpolitik in ihrer Kontinuität? Stanley Hoffmann stellte im Jahr 2000 fest, dass sich zwar die Welt sehr verändert habe, nicht aber die Außenpolitik Frankreichs.3 Ihm kann man insoweit folgen, dass die Anpassung der französischen Außenpolitik an die veränderte Lage seit dem Ende des Kalten Krieges und der Vereinigung Deutschlands eher die Mittel dieser Außenpolitik als ihre Ziele betreffen.

Die Außenpolitik Frankreichs lässt sich weitgehend immer noch dadurch erklären, dass als Ziele die Wahrung des eigenen Ranges sowie der Unabhängigkeit verfolgt werden. Spätestens seit den siebziger Jahren ist sich Frankreich bewusst, dass es diese Ziele nur mit Hilfe der europäischen Integration erreichen kann. Außenminister Michel Barnier stellte auf der letztjährigen Konferenz seiner Botschafter fest: „Die Europäische Union ist von nun an der natürliche Rahmen und der Multiplikator unseres Einflusses.“4

Dabei hält Frankreich an seinem Anspruch fest, eine weltpolitische Rolle zu spielen. Dieser Anspruch stützt sich auf ein Netz weltweiter Besitzungen, den Status eines ständigen Mitglieds des UN-Sicherheitsrats  und einer Nuklearmacht, eine in einigen Bereichen führende Wirtschaft, moderne, weltweit einsetzbare Streitkräfte sowie ein starkes Bewusstsein nationaler Identität, zu der die Universalität eigener Werte gehört.5

Andererseits ist sich Frankreich zunehmend der Grenzen seiner Ausstrahlungskraft und seines Einflusses bewusst. Gerade deshalb stellte der Quai d’Orsay seine Botschafterkonferenz unter das Motto „Strategien des Einflusses“. Außenminister Barnier warnte seine Diplomaten bei dieser Gelegenheit vor „Arroganz“. Die außenpolitische Bilanz ist in der Tat gemischt. Die politische Klasse und Öffentlichkeit stellen die Frage nach Kosten und Nutzen der Konfrontation mit den USA über die irakische Frage. Die französische Nahost-Politik stieß an die Grenzen der mangelnden Ausgewogenheit. Der Einfluss in Afrika geht zurück. Frankreich erkennt, dass es Mittel- und Osteuropa mehr Aufmerksamkeit schenken muss.

Vor allem aber fühlt sich Frankreich, ein Gründerstaat der Europäischen Union, in seiner europäischen Rolle verunsichert. Der Ausgang des Referendums über die europäische Verfassung ist ungewiss. Bei einem Scheitern besteht die Gefahr, dass Frankreich sich auf das „karolingische Europa“ zurückzieht. Schließlich macht sich auch in der Innenpolitik ein Gefühl der Malaise bemerkbar. Die durch Autoren wie Nicolas Baverez belebte Diskussion um einen „Niedergang Frankreichs“6 muss das Selbstverständnis von der „singularité de la France“ in seinem Kern treffen.

Zur Kontinuität der französischen Außenpolitik gehört das klassische Dilemma zwischen dem Anspruch auf Unabhängigkeit und dem Wunsch nach einer Stärkung Europas, die diese Unabhängigkeit in Frage stellt. Die französische Konzeption der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), ist weitgehend eine intergouvernementale geblieben. Frankreich besteht darauf, dass eine solche Konzeption Fortschritte auf dem Weg zu einem handlungsfähigen Europa nicht ausschließt. Aus französischer Sicht vollzieht sich europäische Integration in konkreten Projekten wie dem Euro oder der ESVP. Hat sich letztere seit ihren Anfängen 1998 nicht „mit Lichtgeschwindigkeit“ (Javier Solana) entwickelt? Immerhin verfügt sie heute über Institutionen, Fähigkeiten und ein strategisches Konzept.

Die Logik der französischen Außenpolitik liegt nicht nur in den Interessen, sondern auch in den Ideen und Konzepten. Gerade in Frankreich prägen sie die Außenpolitik mit. Sie bilden dort eine eigene Logik. In einer Bilanz der Außenpolitik von Staatspräsident Jacques Chirac seit seinem Amtsantritt 1995 fallen vor allem zwei Leitmotive auf: Multipolarität und „Europe puissance“.

Multipolarität

Aus französischer Sicht ist Multipolarität mehr als eine analytische Kategorie. Sie ist eine normative Kategorie, letztlich eine politische Strategie. Sie ist die Konsequenz, die Frankreich aus dem Ende des Kalten Krieges gezogen hat. Indem Multipolarität als Überwindung der Bipolarität gesehen wurde, lag sie in der Logik des Gaullismus. Heute bedeutet sie gleichsam die Überwindung der (amerikanischen) Unipolarität. Multipolarität suggeriert einen Gewinn an Handlungsspielraum.

Man ist versucht, die Vorstellung einer multipolaren Welt nur als typische Ausprägung eines realistischen, geopolitischen Denkens in der Außenpolitik zu begreifen. Es wäre allerdings ein Missverständnis, Frankreich auf dem Weg ins 19. Jahrhundert zu sehen. Multipolarität ist keine Machtpolitik, kein „Konzert der Mächte“. Sie ist eng mit dem Multilateralismus verknüpft. Multilateralismus ist das Mittel, in einer multipolaren Welt das Primat der Politik zu wahren. Frankreich verfolgt seine Interessen innerhalb der multilateralen Institutionen, achtet aber genau darauf, wie dort der Einfluss verteilt ist. Multipolarität und Multilateralismus setzen ein gewisses Gleichgewicht voraus, was Frankreich durch die Hegemonie und den Unilateralismus der USA in Frage gestellt sieht. Aus diesem Gegensatz von Multipolarität und Multilateralismus auf der einen und Unipolarität und Unilateralismus auf der anderen Seite ergibt sich die „Fixierung“ auf die USA, weniger aus einem „besessenen Antiamerikanismus“.7

Frankreich erinnert die USA an deren eigenen Anspruch, die transatlantische Partnerschaft auf zwei gleichgewichtigen Säulen ruhen zu lassen. Es sieht die USA als „revisionistische Macht“. Sie seien es, die die bestehende internationale Ordnung in Frage gestellt hätten. Die Politik von Präsident Bush erscheint manchem als eine Mischung aus dem Sendungsbewusstsein Woodrow Wilsons und der Machtpolitik Theodore Roosevelts, als „Wilsonismus in Stiefeln“ (Pierre Hassner: „Wilsonisme botté“).

Gerade in der Irak-Politik von Präsident Chirac ist das Wirken der Konstanten der französischen Außenpolitik zu erkennen. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist aus französischer Sicht ein Instrument der Wahrung des eigenen Ranges und der Unabhängigkeit, das in jedem Fall verteidigt werden muss. Die französische Regierung befürchtete, dass sich in der Irak-Krise gleichsam das Schicksal des Sicherheitsrats entscheiden könnte. Im Elysée sah man eine größere Gefahr darin, dass die USA den Sicherheitsrat als Instrument ihrer Irak-Politik nutzen, als dass sie ohne ihn handelten.

Schließlich wandte sich Frankreich so entschieden gegen jedweden „Automatismus“ in Resolutionsentwürfen der USA, um nicht nur die Handlungsfreiheit im Sicherheitsrat, sondern grundsätzlich die eigene Unabhängigkeit zu verteidigen. Aus französischer Sicht standen in der Irak-Krise Grundprinzipien der internationalen Politik auf dem Spiel. Hierzu wurden vor allem die Stärkung der Vereinten Nationen, die Geltung des Völkerrechts und der Bestand einer multipolaren Welt gezählt.

Es konnte nicht ausbleiben, dass – mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur Irak-Krise – in der öffentlichen Diskussion in Frankreich Fragen zur Glaubwürdigkeit dieses Anspruchs gestellt wurden:8 Kann der Sicherheitsrat, dem nicht nur Demokratien angehören, Legitimität verleihen? Ist er in der Lage, Recht durchzusetzen? Muss er nicht reformiert werden, da er eine Welt widerspiegelt, in der die Grundsätze der souveränen Gleichheit der Staaten, der Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten und des Gewaltverbots noch gegolten hätten?9 Kommt – angesichts der Verbrechen des Regimes – dem Krieg im Irak wenn nicht Legalität, so doch Legitimität zu?10 Auch der ehemalige Außenminister Dominique de Villepin findet in einem Rückblick11 keine eindeutigen Antworten auf diese Fragen.

Heute sieht sich Frankreich angesichts der Entwicklung im Irak in seiner Haltung bestätigt. Das Bemühen der amerikanischen Regierung um Koalitionen zum Wiederaufbau im Irak und in der Region gilt als Beleg der Grenzen amerikanischer Macht und damit einer wachsenden Multipolarität. In dem Augenblick, in dem in den USA die Zweifel an der Unipolarität wüchsen, wünschten immer mehr Europäer eine unabhängige Rolle ihres Kontinents. So werden jedenfalls die Ergebnisse der jüngsten, vom German Marshall Fund in Auftrag gegebenen Studie12 interpretiert.

Die Außenpolitik Frankreichs erhielt in der Irak-Krise eine gewisse Eigendynamik. Sie wurde vor allem vom Vorgehen der USA einerseits und Deutschlands andererseits (in geringerem Maße Russlands) bewirkt. Das Konzept der Multipolarität nahm im Verlauf der Krise schärfere Konturen an.

Bis in den Herbst 2002 hinein hatte Präsident Chirac den „Rückgriff“ auf militärische Gewalt bei der Abrüstung des Irak nicht ausgeschlossen. Im Verteidigungsministerium wurde eine Beteiligung an einem militärischen Vorgehen der USA mit bis zu 15 000 Soldaten erwogen. Andererseits wurde angenommen, dass die USA ein militärisches Vorgehen nicht schon grundsätzlich beschlossen hätten. Präsident Bush wurde nicht nur unter dem Einfluss von Vizepräsident Cheney und Verteidigungsminister Rumsfeld, sondern auch des als gemäßigt geltenden Außenministers Powell gesehen. Der damaligen Sicherheitsberaterin Rice schrieb man eine vermittelnde Position zu.

Die Ausweitung der amerikanischen Kriegsziele – über die Abrüstung des Irak hinaus zu einer Neuordnung der Region – führte dann aber zur Wende der französischen Politik. Außenminister de Villepin sprach am 21. Januar 2003 in New York erstmals von der Möglichkeit eines französischen Vetos. Präsident Chirac verurteilte das amerikanische Verhalten als „Kriegslogik“. Er vermutete, dass die USA und Großbritannien Frankreich im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und in der EU isolieren wollten. Die Formulierung  Rumsfelds vom „alten Europa“ war ihm hierfür eine Bestätigung. In seinem Interview vom März 2003 legte sich Chirac – „unter welchen Bedingungen auch immer“ – auf ein Nein zum britisch-amerikanischen Resolutionsentwurf fest. Seine Entscheidung zielte ebenfalls darauf ab, die zögernden Mitglieder des Sicherheitsrats auf die französische Seite zu bringen. Schließlich fühlte sich Chirac auch in Übereinstimmung mit der „europäischen Öffentlichkeit“.13

In der französischen Regierung wird immer wieder betont, dass Frankreich in seiner Irak-Politik vor allem durch die deutsche Haltung bestätigt und gestärkt worden sei. Die Entscheidung Deutschlands, sich nicht an einem Krieg gegen den Irak zu beteiligen, wurde in ihrer grundsätzlichen Bedeutung gesehen. Indem Deutschland sich hierbei gegen die USA stelle, sei es gleichsam „europäischer“ geworden. Die Unterschiede in den Positionen – Festlegung auf deutscher Seite und Handlungsspielraum auf französischer Seite – fielen nur wenigen Beobachtern auf. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Nationalversammlung Edouard Balladur sprach von einer „Verwandtschaft der Positionen und keiner Identität“.

Viel Aufmerksamkeit ist während der Irak-Krise auch der so genannten Achse Berlin–Paris–Moskau gewidmet worden. Der Begriff ist eine Schöpfung französischer Intellektueller.14 Im Quai d’Orsay wird es abgelehnt, von einer Achse zu sprechen. Im Verteidigungsministerium hält man es ohnehin für „absurd“, Achsen gegen die USA zu bilden.

Es kann aber nicht übersehen werden, dass Russland in der Außenpolitik Präsident Chiracs ein besonderer Platz zukommt. Chirac hat Russland auf den „ersten Rang der Demokratien“ gesetzt und dieses Urteil auch angesichts der jüngsten Entwicklungen in Russland nicht in Frage gestellt. Führende französische Intellektuelle werben um Verständnis für diese Politik.15 Russland ist ein Partner Frankreichs in der multipolaren Welt, wie es schon im gemeinsamen Kommuniqué der Präsidenten Chirac und Putin im Jahr 2001 zum Ausdruck gekommen war. Der außenpo-litische Berater Präsident Chiracs Maurice Gourdault-Montagne, nennt Russland einen „Pol des Westens“, neben Europa und den USA, was eine gewisse Gleichrangigkeit nahe legt. Aus französischer Sicht entwickelt Russland immer mehr eine auch politische „europäische Vision“.

„Europe puissance“

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen dem französischen Begriff der „Europe puissance“16 und dem deutschen des „handlungsfähigen Europas“? Präsident Chirac definiert „Europe puissance“ als „Europa, das in der Lage ist, seine Rolle in der internationalen Politik zu spielen“. Deutschland und Frankreich haben ihre gemeinsamen Vorschläge zur institutionellen Architektur der Europäischen Union auch unterbreitet, um „Stärke und Glaubwürdigkeit der Union auf internationaler Ebene sicherzustellen“.17 Schließlich kommt das Wort Außenminister Joschka Fischers von der „strategischen Dimension Europas“18 dem französischen Verständnis ziemlich nahe.

Bei der Verwirklichung des Projekts der „Europe puissance“ ist Deutschland für Frankreich der Partner „sine qua non“. Präsident Chirac hatte die Grundsatzentscheidung zu einer noch engeren Entente bereits vor der Irak-Krise im Sommer 2002 getroffen. Der Quai d’Orsay hatte sich in einem internen Papier sogar mit dem Gedanken einer „deutsch-französischen Union“ befasst, um diese aber als „kaum realistischen und risikoreichen Ansatz“ abzulehnen.

Die deutsch-französischen Vorschläge zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion (ESVU) und den institutionellen Fragen der EU, die dem Europäischen Konvent im Herbst 2002 vorgestellt wurden, verraten eine merkliche Entwicklung auch der französischen Position. Im Interesse eines handlungsfähigen Europas hatte Frankreich sich der Per-spektive einer gemeinsamen europäischen Verteidigung und dem Prinzip von Mehrheitsentscheidungen in der GASP geöffnet. In dem Maße, wie im Europäischen Konvent Erfolge in der letzteren Frage ausblieben, wandte sich Frankreich wieder verstärkt der alten Idee Jacques Delors von einer europäischen Avantgarde bzw. von europäischen „Kernen“ zu. Präsident Chirac misst die europäischen Partner daran, inwieweit sie Europa als politisches und nicht nur wirtschaftliches Projekt mittragen. Deshalb fiel seine Kritik an den Vertretern des „neuen“ Europas so heftig aus.

Heute ist die Diskussion um „altes“ oder „neues“ Europa überwunden, nicht nur weil Partner wie z.B. Polen ihre langfristigen Interessen in der Europäischen Union erkennen. Partner wie Großbritannien oder Spa-nien suchen den Anschluss an den deutsch-französischen Kern. Dieser hat – bei aller Kritik – seine Legitimität bewahren können. Der Präsident der Kommission der Europäischen Union José Manuel Durão Barroso hält „das deutsch-französische Paar für notwendiger denn je“.19Aber auch die französische Diplomatie erhielt einen neuen Akzent in diesem Zusammenhang. Außenminister Michel Barnier kündigte auf seiner Botschafterkonferenz an, die Abstimmung über Deutschland hinaus auf Partner wie Großbritannien, Spanien, Italien und Polen ausdehnen zu wollen. Auch in dieser Frage nähern sich der deutsche und der französische Außenminister an. Fischer hegt Zweifel an „kleineuropäischen Vorstellungen“.20

Das Schlüsselprojekt der „Europe puissance“ ist aus französischer Sicht die europäische Verteidigung, die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Vielleicht erklärt sich hieraus das Misstrauen, das die USA der ESVP entgegenbringen, obwohl die Leidenschaft dieser Debatte inzwischen abgekühlt ist. Frankreich hat sich immerhin – auf deutschen Wunsch – darauf eingelassen, dass die ESVU „auch zur Stärkung des europäischen Pfeilers der Allianz beitragen soll“, wie es in den gemeinsamen Vorschlägen zur ESVU vom 21. November 2002 heißt.21

Auch die französische NATO-Politik zeigt weniger, dass Frankreich die NATO schwächen, als dass es sie reformieren will. Der Wunsch nach Gleichberechtigung der Europäer in der NATO entspricht aus französischer Sicht der Zwei-Säulen-Theorie. Er folgt auch der Überlegung Außenminister Fischers zur Bildung einer „Eurogroup“ innerhalb der NATO. Im Übrigen hat Frankreich mit seiner Zustimmung zur Einigung über das Verhältnis von EU und NATO („Berlin plus“), mit der Teilnahme französischer Soldaten an mehreren NATO-geführten Operationen und nicht zuletzt durch sein Engagement in den neuen Strukturen der NATO, vor allem der NATO Response Force, gerade in letzter Zeit Pragmatismus und den Willen zur Mitgestaltung bewiesen.

Deutsch-Französische Logik?

Sie ergibt sich nicht allein schon daraus, dass Deutschland und Frankreich in den anstehenden Fragen weitgehend einer Meinung sind: der Ratifizierung der europäischen Verfassung, der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der Gemeinsamen Agrarpolitik, des Stabilitätspakts, der europäischen Perspektive der Türkei, der Nahost-Politik, des Verhältnisses zu Russland.

Die Ausgangsfrage, nämlich ob die Logik der französischen Außenpolitik mit der deutschen langfristig vereinbar ist, entscheidet sich am Problem der transatlantischen Beziehungen. Wenn sich der Staub der Irak-Krise endgültig gelegt hat, wird deutlich werden, dass Deutschland und Frankreich die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen für die Lösung globaler Probleme und die Notwendigkeit einer gleichgewichtigen Partnerschaft ähnlich bewerten. Beide Regierungen fordern „nicht weniger Amerika, sondern mehr Europa“. Sie sehen die Notwendigkeit eines strategischen Dialogs mit den USA, für den die Europäische Sicherheitsstrategie eine gute Grundlage ist. Das neue amerikanische Engagement für den Frieden im Nahen Osten führt Europa und die USA in einer Schlüsselfrage zusammen.

Dem französischen Verständnis von Multipolarität und „Europe puissance“ wird schließlich zu Unrecht eine gegen die USA gerichtete Aggressivität unterstellt. Überzeugende Belege dafür, dass Frankreich die Bildung von Gegenmacht gegen die USA zur außenpolitischen Strategie und Priorität erhoben hat, aber fehlen. Es wird auch in Frankreich nicht übersehen, dass eine solche Strategie im Widerspruch zum Ziel stünde, den eigenen Einfluss zu mehren. Ein über die transatlantischen Beziehungen zerstrittenes Eu-ropa hätte keine Chance, „puissance“ zu werden.

Wenn es in Frankreich Antiamerikanismus im eigentlichen Sinne gibt, so ist er – nach Emmanuel Todd22 eher „konjunktureller“ als „struktureller“ Art. Auch der Gaullismus, in dessen Tradition sich Staatspräsident Chirac sieht, wurde als Antiamerikanismus missverstanden. Er war eine Strategie zur Wahrung der nationalen Unabhängigkeit. General de Gaulle hatte aber auch in den Krisen der transatlantischen Beziehung darauf geachtet, die Substanz dieser Beziehung nicht anzutasten. Wenn vitale Interessen der USA auf dem Spiel standen, befand er sich an der Seite des amerikanischen Präsidenten, wie z.B. in der Kuba-Krise.23

Frankreich befindet sich auch heute im transatlantischen Konsens über vitale Interessen des „Westens“, darunter der Schutz vor Terrorismus, die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Lösung regionaler Konflikte sowie der globalen Probleme. Deutschland und Frankreich teilen die Vorstellung, dass die Entwicklung Europas eher einer inneren Logik folgt, als dass sie bloße Reaktion auf äußere Rahmenbedingungen der internationalen Politik ist. Auch wenn die USA unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und später der Ost-West-Konflikt durchaus die Rolle eines „Föderators“ Europas gespielt haben, sehen Deutschland und Frankreich die großen Projekte der Integration – von der deutsch-fran-zösischen Aussöhnung über den gemeinsamen Markt und Euro zur ESVP – als Ergebnis eigener historischer Erfahrung und der Einsicht in die eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen.

Die Logik der französischen Außenpolitik ist mit der deutschen vereinbar. Dies gilt auch im Hinblick auf die transatlantische Partnerschaft, wenn diese auf der Grundlage der Ideen John F. Kennedys erneuert wird. Der amerikanische Präsident hatte vor 40 Jahren in der Frankfurter Paulskirche seine Hoffnung ausgedrückt auf „ein vereintes und starkes Europa …, das in der Lage ist, sich als vollwertiger und gleichberechtigter Partner den Problemen der Welt zu stellen“.

1 Martin Koopmann: Looking for the raison d’Etre: France-german relations need a new start, American Institute for Contemporary German Studies, 2003, <http://www.aicgs.org&gt;.

2 Der frühere französische Außenminister Hubert Védrine bezeichnet diese Krisen als „révélateur“ (aufschlussreich) im Hinblick auf die grundlegenden Tendenzen der internationalen Politik. Seitdem ist dieser Begriff in der französischen Diskussion gängig.

3 Stanley Hoffmann: La France dans le monde 1979–2000, Politique Etrangère, 2/2000, S. 307–317.

4 Ministère des Affaires Etrangères, <http://www.diplomatie.gouv.fr&gt;, 27.8.2004.

5 Dies macht den Umgang mit den USA, die den gleichen Anspruch haben, so schwierig.

6 Nicolas Baverez: La France qui tombe, Paris 2003.

7 Jean-François Revel: L’Obsession Anti-Américaine, Paris 2002.

8 Vor allem Jean Claude Casanova in Le Monde, 25.7.2003.

9 Diese Frage wird auch vom stellvertretenden Leiter der UN-Abteilung im Quai d’Orsay, Pascal Teixeira, gestellt, in: Revue politique et parlementaire, 2003.

10 Diese Unterscheidung von Legalität und Legitimität trifft Dominique Moïsi in Le Monde, 14.6.2003.

11 Dominique de Villepin: Le requin et la mouette, Paris 2004.

12 Gallup: http://www.transatlantictrends.org.

13 Auf die Jürgen Habermas seine Hoffnung auf eine „Wiedergeburt Europas“ setzt, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 31.5.2003.

14 Z.B. von Emmanuel Todd, Regis Debray.

15 Die Mitglieder der „Académie Française“ Hélène Carrère d´Encausse, Maurice Druon und Thierry de Montbrial sowie Alexandre Adler.

16 Vielleicht erregt der Begriff „puissance“ Anstoß. Er  besitzt im Sprachgebrauch aber eine neutrale, jedenfalls keine aggressive Bedeutung.

17 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 15.1.2003.

18 Die Rekonstruktion des Westens, Interview mit der FAZ vom 6.3.2004.

19 Vgl. Le Monde, 22.9.2004.

20 Die Rekonstruktion des Westens, a.a.O. (Anm. 18).

21 Siehe Deutsch-Französischer Verteidigungs- und Sicherheitsrat, Chronologie 1963–2003, Paris 2003, S. 243 ff.

22 Emmanuel Todd: Après l’Empire, Paris 2002.

23 Vgl. Guillaume Parmentier, Michael Brenner: Reconcilable Differences, US-French Relations in the new era, Washington D.C., 2002.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2005, S. 116 - 123.

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