IP

01. Juli 2012

Ein politisches Projekt

Die GSVP ist Sache Europas, nicht der NATO

Vor kurzem veröffentlichte die IP Vorschläge, wie Deutschland die GSVP beleben könnte. Die Autoren forderten unter anderem eine „NATO First Politik“. Ist das das richtige Signal? Wohl nicht, denn die gemeinsame Verteidigung ist eine Angelegenheit der weiteren europäischen Integration.

1 Die Geschichte der europäischen Integration weist drei Merkmale auf: Größere politische Projekte werden oftmals aus Krisen geboren, sie verbinden politische, strategische und wirtschaftliche Interessen und sie kommen meist unter Führung von Deutschland und Frankreich zustande. Dies galt für den Schuman-Plan, die Einheitliche Europäische Akte, die nach der „Eurosklerose“ der siebziger und achtziger Jahre das Interesse an einer Vollendung des Binnenmarkts mit dem einer Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) verknüpfte, und es galt für den Euro. Er wurde von Deutschland und Frankreich auch als ein Mittel gesehen, die europäische politische Integration in den Zeiten der Vereinigung Deutschlands voranzubringen. Schließlich sind auch in der Finanzkrise die politischen Dimensionen nicht mehr zu übersehen. Die Finanzmärkte bewerten nicht nur wirtschaftliche Daten, sondern die Fähigkeit der Regierungen, die richtigen politischen Entscheidungen zu treffen, also deren Handlungsfähigkeit. Die Regierungen haben diese Herausforderungen angenommen und europäische Lösungen gefunden. Was ist denn die beabsichtigte Fiskalunion anderes als „mehr Europa“?

Gibt es auch für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) eine Chance, die aus der Krise erwächst? Schließlich steht Europa als Ganzes vor der Frage nach seiner Handlungsfähigkeit. Wird es durch globale Kräfteverschiebungen nicht dazu gezwungen, eine Rolle in der multipolaren Welt zu spielen? Ist es nicht zum Handeln aufgefordert, wenn sich die USA – vor allem im Wahljahr 2012 – mit außenpolitischen Initiativen zurückhalten? Welches ist die europäische Antwort auf die pazifische Orientierung der USA? Was bedeutet die wachsende Erwartung an Europa, sich ebenfalls in Asien zu engagieren?

Für Europa und die Bundesregierung stellt sich zudem die Frage, mit welchen Partnern Probleme in den internationalen Beziehungen gelöst werden können. Es zeigt sich, dass es meist diejenigen sind, mit denen Europa Werte und Interessen teilt. Die so genannten „Gestaltungsmächte“ wie China, Russland, Indien oder Brasilien mögen wirtschaftlich an Bedeutung gewinnen. Sind sie aber auch bereit, Verantwortung bei der Bewältigung internationaler Konflikte zu übernehmen? Die transatlantische Partnerschaft ist bisher durch nichts zu ersetzen. Sie hat aber nur Bestand, wenn sie gleichgewichtig ist, wenn Europa stark ist.

Das neue Leitbild Europas ist Handlungsfähigkeit. Welcher Weg zu diesem Ziel führt, ist von zweitrangiger Bedeutung. Ob Europa nun gemeinschaftlich oder zwischenstaatlich organisiert ist, entscheidend ist der politische Wille. Sowohl GASP als auch GSVP sind im Vertrag von Lissabon zwischenstaatlich organisiert. Die Einführung einer kontinuierlichen Präsidentschaft, eines europäischen „Außenministers“, schließlich eines Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) aber ist ein Fortschritt. Es ist noch zu früh, das Potenzial dieser neuen Institutionen zu bewerten, aber sie zeigen immerhin erste Zeichen einer gewissen Eigendynamik.

Nicht nur das Beispiel des Euro beweist, dass Europa durch seine Avantgarde handlungsfähig ist. Was die GSVP angeht, so gehören hierzu sicher Deutschland, Frankreich und in wachsendem Maße auch Polen. Großbritannien wiederum hat zwar mit Frankreich zusammen 1998 in Saint Malo eine Initiative auf den Weg gebracht, die nichts weniger als die Mittel für „autonome Aktionen“ der EU in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik forderte. Hiermit wurde auch die Lehre aus den militärischen Einsätzen auf dem Balkan gezogen. Deutschland nahm diese Initiative ein Jahr später in Köln auf.

Heute aber widersetzt sich Großbritannien einer Weiterentwicklung der GSVP. Seine militärischen Fähigkeiten sind für die GSVP zwar unverzichtbar; alle großen Projekte der europäischen Integration aber haben bewiesen, dass es für den Erfolg vor allem auf den politischen Willen, auf die Konzepte ankommt, die sich hinter den Interessen verbergen. Was Deutschland und Frankreich bei der GSVP verbindet und was sie von Großbritannien unterscheidet, ist die Idee, dass Europa autonom handlungsfähig sein muss, ist das Verständnis der GSVP als politisches, europäisches Projekt. In der französisch-britischen Erklärung über Sicherheit und Verteidigung vom Februar 2012 findet man hierzu nichts.

Jetzt wäre ein günstiger Zeitpunkt für eine deutsch-französische Initiative zur Wiederbelebung der GSVP. Sie sollte Kern des strategischen Dialogs sein, den Deutschland und Frankreich ebenfalls im Februar 2012 beschlossen haben. In einer gemeinsamen Erklärung sprachen sich beide Regierungen für eine „gemeinsame Verantwortung für die europäische Sicherheit“ aus. Der 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags im Januar 2013 böte eine weitere Gelegenheit, der GSVP Impulse zu verleihen. Die Bestandteile einer solchen Initiative finden sich in der deutsch-französischen Erklärung ebenso wie in der Weimarer Initiative mit Polen. Die neuen Spitzenbeamten in Paris sollten sich hierauf einstellen. Im Elysée gibt es erstmals einen Sicherheitsrat. Der einflussreiche Generalsekretär für nationale Verteidigung ist bei einem Premierminister angesiedelt, der mit Deutschland vertraut ist. Der neue Präsident François Hollande hat schon vor der Wahl erkennen lassen, dass er den deutsch-französischen Motor in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu verstärken gedenkt.

Die Vorschläge kulminieren im gemeinsamen Ziel, eine ständige europäische zivil-militärische Planungs- und Führungsfähigkeit aufzubauen. Auf europäischer Ebene aber wurde wegen des britischen Widerstands mit der Aktivierung des bestehenden EU-Operationszentrums nur ein erster Schritt in diese Richtung getan. Dem Projekt kommt aber deshalb eine so große Bedeutung zu, weil es die Handlungsfähigkeit der GSVP institutionalisierte, den politischen Willen hierzu gleichsam manifestierte. Dieses europäische Hauptquartier wäre auch schon deswegen keine Duplizierung von Strukturen der NATO, weil es eben zivil-militärisch ist. Gerade hierin liegt der Mehrwert der GSVP. Die Stärkung der GSVP und des europäischen Pfeilers der NATO sollten komplementär sein.

Es ist jedoch nicht zu leugnen, dass die Beziehungen zwischen EU und NATO in einer Sackgasse stecken. Die Bewältigung künftiger Krisen wird eher einen vernetzten als einen rein militärischen Ansatz erfordern. Hierbei hat die EU bereits wertvolle Erfahrungen auf dem Balkan, in Asien und in Afrika gesammelt. Neue Missionen am Horn von Afrika und im Sahel stehen bevor. Im Nahen Osten oder in Osteuropa sind sie nicht ausgeschlossen. Es wird wohl immer mehr Krisen der Art geben, in denen „die NATO als Ganzes nicht engagiert ist“. Der deutsche Verteidigungsminister, Thomas de Maizière, ist kürzlich nicht ohne Grund zu dem Schluss gelangt, dass die Europäische Union „sich innerhalb kurzer Zeit zu einem wirkungsvollen Akteur im Bereich Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit entwickelt“ hat.

Handlungsfähigkeit

Die öffentliche Diskussion über die GSVP hat sich allzu oft in der Forderung erschöpft, mehr Geld für Rüstung auszugeben. Die Finanzkrise und die Verschuldung öffentlicher Haushalte hat diese Beschwörung von Selbstverständlichkeiten vorerst beendet. An ihre Stelle ist die Forderung nach Pooling and Sharing (EU) und Smart Defense (NATO) getreten. Beides bezeichnet verschiedene Formen der Zusammenarbeit bei militärischen Fähigkeiten. Verteidigungsminister de Maizière hat zwar zu Recht darauf verwiesen, dass diese Zusammenarbeit kurzfristig kein Mittel zum Sparen ist. Weitaus wichtiger aber wäre ein öffentlicher Aufruf dazu gewesen, den Aufbau europäischer militärischer Fähigkeiten als politisches Projekt zu begreifen und vorrangig anzugehen.

Ironischerweise ist es in diesem Fall der Primat der Politik, der eine Lösung – die Integration militärischer Fähigkeiten – erschwert. Die Wirtschaft hat längst begriffen, dass angesichts des immer schärferen internationalen Wettbewerbs in der Rüstungsindustrie das Angebot europäischer Unternehmen konsolidiert werden muss. Drei europäische Firmen (EADS, Dassault, Saab) traten in Konkurrenz zueinander bei einem Geschäft über die Lieferung von Kampfflugzeugen an Indien. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2012 wurde es einem führenden Vertreter der Wirtschaft, dem EADS-Chef Thomas Enders, überlassen, die Integration der europäischen Rüstungsindustrie und die politische und wirtschaftliche Stärkung der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) zu fordern. Sie sollte in der Tat die zentrale Stelle für die gemeinsame Entwicklung und Beschaffung von militärischen Fähigkeiten werden. Der Vertrag von Lissabon fordert sie dazu auf, den Regierungen aber fehlt der politische Wille.

Angesichts der Dringlichkeit, die der Frage gemeinsamer militärischer Fähigkeiten und Strukturen für ein handlungsfähiges Europa zukommt, ist das Zögern der Politik gefährlich. Die Regierungen sind offenbar gelähmt von der Angst, Souveränität aufzugeben. Eine solche Haltung ist eine Konstante in der Geschichte der europäischen Integration. Sie wurde aber immer wieder überwunden, weil irgendwann das gemeinsame Interesse überwog. Die wichtigste „Währung“ in Verhandlungen dieser Art ist Vertrauen. Es kann vor allem auf zweierlei Weise gestärkt werden: Jede Regierung braucht Klarheit über die Interessen und Absichten der anderen. Sie muss sich aber auch darauf verlassen können, dass diese Regierungen ihre „Fähigkeiten im Falle eines Einsatzes auch sicher und verlässlich zur Verfügung“ stellen. So hat es die Bundeskanzlerin kürzlich unmissverständlich festgestellt.

Beide Kriterien gelten auch für Deutschland. Die Bundesregierung kann nicht länger einer Diskussion über eine nationale Sicherheitsstrategie ausweichen, die sie für ihre Partner berechenbarer machte. Über ihre Handlungsfähigkeit im Krisenfall darf es keine Zweifel geben. Die aktuelle Diskussion in Deutschland zeigt, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen Parlamentsvorbehalt und Bündnisfähigkeit geben kann. Deutschland hat aufgrund seiner Geschichte und seines Potenzials ein besonderes Interesse an einem handlungsfähigen Europa. Es sieht sich in Europa zudem gewissen Erwartungen an eine Führungsrolle ausgesetzt. Dies sollte Deutschland auch für eine Revitalisierung der GSVP nutzen.

Botschafter Dr. HANS-DIETER HEUMANN ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und Lehrbeauftragter an der Universität Bonn.
 

  • 1Patrick Keller, Almut Möller, Svenja Sinjen und Johannes Varwick: Zivilmacht mit Zähnen. Deutsche Vorschläge für eine Neubelebung der GSVP, IP, März/April 2012, S. 80–87.
Bibliografische Angaben

Interntionale Politik 4, Juli/ August 2012, S. 118-121

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