Haiti: Fluch der Karibik
Politische und ökonomische Erklärungen für die Abwärtsspirale aus Gewalt und Unterentwicklung gibt es viele. Sicher ist: Die Elite des Landes ist Teil des Problems, und die Schutzmacht USA setzt weiterhin auf gescheiterte Strategien.
Ein Bandenchef, der Kinder mit der Aussicht auf zwei Mahlzeiten am Tag und ein Taschengeld rekrutiert. Ein anderer Krimineller, der ein ganzes Stadtviertel massakriert, weil er glaubt, dass die Ältesten dort seinen Sohn durch Voodoo-Zauber krank gemacht haben. Ein schwer bewaffnetes Kontingent aktiver und pensionierter Polizeibeamter, das Regierungsgebäude angreift, um bessere Gehälter und Arbeitsbedingungen zu fordern. Ein ehemaliger Polizeichef, der unter dem Kriegsnamen „Barbecue“ eine Art Wegezoll eintreibt – darunter Schutzgelderpressung am Hafen und Flughafen der Hauptstadt Port-au-Prince. Wenn nicht gezahlt wird, beschießt er die Flugzeuge oder blockiert die Hafenausfahrt.
All das sind Szenen aus der haitianischen Hauptstadt dieser Tage. Bittere Realität im 21. Jahrhundert, knapp 1100 Kilometer Luftlinie vom US-Bundesstaat Florida entfernt. Hilfloser Herr über das Chaos ist ein auf Druck der USA und einiger Karibikstaaten eingesetzter provisorischer Regierungsrat. Es gibt weder einen gewählten Präsidenten noch ein Parlament oder ein Oberstes Gericht. Die letzten regulären Wahlen sind ein Jahrzehnt her. Haiti ist ein Beispiel für einen Staatskollaps. In Port-au-Prince kontrollieren Banden 80 Prozent des Territoriums. Ihr Einfluss erstreckt sich auch auf angrenzende Städte und Provinzen. Einige Stadtviertel haben Selbstverteidigungsgruppen gegründet, die wiederum vermeintliche Bandenmitglieder brutal lynchen.
Wie konnte es dazu kommen? Linke Historiker und Analysten behaupten, die Kolonialmächte hätten den Haitianern nie die Schmach des Sklavenaufstands 1804 verziehen, durch den die französischen Kolonialherren vertrieben wurden. Für die Anerkennung der neuen Republik verlangten die Franzosen immense Reparationszahlungen und belasteten damit die Wirtschaft schwer. Und auch danach kam es immer wieder zu ausländischen Interventionen – nur die Besatzer waren andere. Anfang des 20. Jahrhunderts übernahmen die USA das Zepter und intervenierten mehrfach.
Dann gibt es kritische Intellektuelle, die das Versagen auch bei den lokalen Eliten sehen. Denen sei es nicht gelungen, aus den unterschiedlichen afrikanischen Ethnien, deren Mitglieder als Sklaven nach Haiti verschleppt worden waren, so etwas wie eine kohärente Nation zu bilden – außer durch brutale Gewalt. So wie die Diktaturen der Duvaliers, Papa Doc und Baby Doc zwischen 1957 und 1986. Im Zuge der Demokratisierung imitierte Haitis Elite die Kolonialmächte und mischte die Verfassungen der USA und Frankreichs zu einem dysfunktionalen Potpourri zusammen.
Das Nebeneinander eines direkt gewählten Präsidenten und eines von ihm eingesetzten Premierministers führte nicht wie in Frankreich zu Kompromissen, sondern zu Blockaden und politischer Dauerinstabilität. Den unterschiedlichen Interessengruppen – von Parteien kann man angesichts der programmatischen Inkohärenz und kurzen Überlebensdauer dieser Gruppen nicht sprechen – ist es beispielsweise bis heute nicht gelungen, einen Wahlrat einzusetzen. Die Organisation von Wahlen übernimmt jeweils ein provisorisches Gremium, dessen Mitglieder von Wahlen wenig verstehen, aber unterschiedliche politische Interessengruppen vertreten.
Ökonomen verweisen auf die misslungene Integration Haitis in die Weltwirtschaft. Die Franzosen hatten dort Plantagen für Zucker, Kaffee und Holz angelegt, die unverarbeitet exportiert wurden. Diese extraktivistischen Strukturen konnte Haiti nie abschütteln. Dafür fehlten Infrastruktur, Fachkräfte und eine gebildete Mittelschicht. Die heimische Elite, hauptsächlich Mestizen, hatte an einer ausgewogeneren Entwicklung und diversifizierten Wirtschaft nur wenig Interesse, denn sie schöpfte im Handel von Kolonialwaren (z.B. Rum und Tabak) den Reichtum ab. Haiti ist bis heute nicht nur das ärmste, sondern auch eines der ungleichsten Länder der westlichen Hemisphäre.
Hinzu kamen Schicksalsschläge, oft gepaart mit politischen Fehlentscheidungen: Hurrikane, das verheerende Erdbeben von 2010, die von UN-Blauhelmen eingeschleppte Cholera. Der Ausbruch von HIV/Aids zerstörte den Tourismus in den frühen 1980er Jahren. Danach schwappte die Afrikanische Schweinepest aus der Dominikanischen Republik herüber: Haitis Bauern verarmten, das Land verlor seine Ernährungssouveränität. Verschärft wurde das durch das Freihandelsabkommen mit den USA 1998. Haitis Reis- und Hühnerbauern konnten nicht mit den billigen, subventionierten Importen aus den USA konkurrieren. Bis in die 1980er Jahre hatte die haitianische Landwirtschaft 90 Prozent der Bevölkerung versorgt; inzwischen hungern dort 5,4 Millionen Menschen nach Schätzungen der UN.
Die Jugend flieht, und zwar schon seit Jahrzehnten. 84 Prozent der jungen Menschen mit Hochschulabschluss verlassen Haiti, damit wurden die Fortschritte bei der Bildung zunichte gemacht. „Auf dieser Basis kann man unmöglich einen Staat aufbauen“, sagt der haitianische Bildungsexperte Conor Bohan.
Geschäfte machen kann man aber trotzdem. Haitis Elite, die größtenteils im Ausland lebt, kontrolliert Supermärkte, Gasverteilung, Textilfertigungsbetriebe oder lukrative Importgeschäfte mit Nahrungsmitteln. Meist sind es Oligopole, bei denen sich Legalität und Illegalität vermischen. Schätzungen zufolge stammt über die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts von 18 Milliarden Euro aus der Schattenwirtschaft, ein Großteil davon aus dem Schmuggel aus der Dominikanischen Republik.
Beutestaat in Clan-Händen
All dies ergibt das Bild eines Beutestaats in den Händen mächtiger Clans, die den Gegner vernichten oder blockieren wollen, um selbst an die Macht zu gelangen und sich zu bereichern. „Wer da nicht mitmacht, gilt als Spielverderber“, sagt der ehemalige Innenminister Paul Gustave Magloire. Gewalt ist nicht verpönt, sondern Teil des politischen Kalküls. Jeder Staatschef, von den Duvaliers über Aristide bis zum 2021 ermordeten Moise, unterhielt paramilitärische Milizen.
Gibt es einen Ausweg aus so einem dysfunktionalen System? Die internationale Gemeinschaft hat immer wieder eingegriffen – und dadurch die Institutionen nachhaltig geschwächt.
Inoffizielle Schutzmacht sind die USA. Washington hat ein direktes strategisches Interesse, Drogen-, Waffenhandel und Migration zu kontrollieren. Ohne das Plazet der amerikanischen Botschaft in Tabarre wird niemand Präsident in Haiti.
Manchmal intervenierten die USA unilateral – siehe die Wiedereinsetzung des vom Militär gestürzten Jean-Bertrand Aristide im Jahr 1994 oder 2016 die manipulierte Wahl Jovenel Moises zum Präsidenten. Oft agieren sie unter dem Deckmantel der Vereinten Nationen – etwa beim Wiederaufbau nach dem Erdbeben von 2010. Doch die UN werden immer handlungsunfähiger. Der geopolitische Konflikt der Großmächte lähmt den Sicherheitsrat politisch, und die USA amputieren die Handlungsfähigkeit der UN finanziell durch schleppende Bezahlung ihrer Beiträge.
Als die Lage in Haiti eskalierte, überzeugte die US-Regierung 2024 auf bilateralem Wege Kenia, eine Polizeitruppe zu entsenden. Diese ist jedoch mit der Aufgabe überfordert, und ein Teil der haitianischen Bevölkerung lehnt diese Art der Hilfe rundheraus ab. Ausländische Interventionen hätten mehr Schaden angerichtet als Fortschritt gebracht, wird argumentiert.
Trotzdem setzen die USA diese Strategie fort: Eine provisorische Regierung und ein provisorischer Wahlrat sollen 2025 Wahlen abhalten. Doch der Rat ist zerstritten, ein zuverlässiges Wahlregister gibt es mangels Volkszählung auch nicht, und dass die Banden Wahlen zulassen, ist mehr als fraglich. Beim letzten Urnengang gaben nur 18 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Daraus kann keine legitimierte Regierung hervorgehen.
Aus der haitianischen Zivilgesellschaft kommen daher andere Ideen, etwa der Ruf nach einem umfassenden nationalen Dialog, um eine neue Verfassung auszuarbeiten. Dabei müssten endlich jene Teile der Bevölkerung berücksichtigt werden, die sonst keinen politischen Einfluss haben: Frauen, Bauern, Händlerinnen. Politik und kriminelle Geschäfte müssten mit Hilfe einer Wahrheitskommission entflochten werden. Die Bevölkerung müsse wieder Vertrauen in den Staat gewinnen. Erst danach hätten Wahlen und ausländische Aufbauhilfe Sinn.
Die Forderungen sind löblich, finden aber wenig Gehör bei der US-Regierung, die nur sehr kurzfristig denkt und angesichts der zersplitterten haitianischen Zivilgesellschaft skeptisch ist, dass so ein Projekt funktionieren könnte. Es wäre eine Chance für andere Regionalmächte oder regionale Bündnisse wie die CARICOM oder die OAS, sich außenpolitisch zu profilieren und eine konstruktivere Strategie für Haiti zu initiieren.
Internationale Politik 2, März/April 2025, S. 12-14
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