Unterm Radar

24. Apr. 2023

Vormarsch mit Schattenseiten

China hat seine Präsenz in Lateinamerika massiv ausgebaut. Der Kontinent sieht das als Chance für Investitionen und Diversifizierung, kommt aber nicht aus seiner Rolle als Rohstofflieferant heraus und droht in eine neue Yuan-Abhängigkeit zu geraten.

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Bild: Arbeiten am Staudamm von Coca Codo Sinclair, die die Firma Sinohydro in Ecuador
Erst ging es nur um Zugänge zu Rohstoffen, mittlerweile bauen die Chinesen im ehemaligen Hinterhof der USA auch große Infrastrukturprojekte: Arbeiten am Staudamm von Coca Codo Sinclair, die die Firma Sinohydro in Ecuador ausführt.
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Vor 22 Jahren in Montevideo, der Hauptstadt von Uruguay, fielen sie mir erstmals auf. In den Supermärkten und Einkaufszentren der Stadt waren plötzlich auffällig viele Chinesen unterwegs. Sie waren immer zu zweit, machten Fotos von Produkten und notierten Preise. China war gerade der Welthandelsorganisation bei­getreten und bereitete seine ­Globalisierung vor.



Heute sind die Regale in Montevideo und ganz Lateinamerika voll mit Waren aus China, von Haushaltselektronik bis hin zu billigen Kopien von indigenem Kunsthandwerk. Den Waren folgten die chinesischen Kulturinstitute und Staatsmedien wie Xinhua und CCTV, die Redaktionen in Lateinamerika eröffneten und auch in Spanisch und Portugiesisch berichten. Meine Beobachtungen im Supermarkt waren Vorboten einer geopolitischen Entwicklung, die heute China und die USA in Lateinamerika zu Rivalen gemacht hat.



Chinas rasante wirtschaftliche Modernisierung ließ zunächst die Nachfrage nach Rohstoffen boomen. Doch inzwischen bauen chinesische Firmen im ehemaligen Hinterhof der USA Staudämme und Flughäfen und verkaufen Smartphones. China hat sieben Filialen der staatlichen Entwicklungsbank auf dem Kontinent eröffnet. Chinesische Investoren kontrollieren Logistikzentren an beiden Seiten des Panamakanals, die zwei wichtigsten Stromversorger Chiles und investieren in E-Auto-Fabriken in Mexiko. Mit Brasilien entwickelt China Satelliten, mit Chile kooperiert es in der Astrophysik, mit Argentinien in der Atomenergie. Aber weiterhin ist der Handel unausgeglichen und Lateinamerika vor allem ein Rohstofflieferant: Chile verkauft heute 67 Prozent seines Kupfers an China, Brasilien 70 Prozent seiner Soja.



Zwei-Achsen-Diplomatie

China verfolgt in Lateinamerika zwei Ziele: den Einfluss Taiwans zurückdrängen und sich Rohstoffe für die eigene wirtschaftliche Entwicklung sichern. Mit beidem ist es gut vorangekommen: Von 12 auf 485 Milliarden US-Dollar steigerte sich der Handel zwischen 2000 und 2022. Chinesische Staatsbanken vergaben zwischen 2005 und 2020 Kredite in Höhe von 141 Milliarden Dollar an Staaten in der Region – mehr als Weltbank, Interamerikanische Entwicklungsbank und Südamerikanische Entwicklungsbank zusammen. In den letzten sieben Jahren wechselten fünf Länder vom protaiwanesischen ins Pro-­China-Lager, darunter Honduras, El Salvador und Nicaragua; derzeit unterhalten nur noch sieben Staaten Lateinamerikas Beziehungen zu Taiwan.



Chinas Kredite kommen zwar nicht ganz so konditionslos wie die Scheckbuchdiplomatie Taiwans, dennoch sind die Auflagen für viele Länder attraktiv. Denn China lässt sich als Garantie vor allem Rohstoffe verpfänden; Umwelt- und Transparenzauflagen oder ausführliche Risikostudien macht Peking nicht. Das beschleunigt auch die Auszahlung. Regierungen wie die von Rafael Correa in Ecuador oder Nicolás Maduro in Venezuela konnten mit Hilfe chinesischer Kredite wirtschaftliche Engpässe überbrücken oder rasch Prestigeobjekte hinstellen, um sich ihre Wiederwahl zu sichern. Argentinien hat ein Währungsswap-Abkommen mit China geschlossen, um seine erschöpften Devisen­reserven aufzustocken.



Darüber hinaus wird China in Lateinamerika auch generell als Chance begriffen, um die eigene Infrastruktur und Industrie zu entwickeln, den Außenhandel zu diversifizieren und den bis dato dominanten US-Einfluss ein Stück weit zurückzuschrauben. Hinzu kommt eine ideologische Komponente, insbesondere bei den linken Regierungen der Region. Sie kokettieren gerne mit Peking, um die USA zu ärgern und zugleich bei den eigenen Wählern zu punkten. Denn mit den USA verbinden viele Lateinamerikaner Erinnerungen an Militärputsche und Interventionen.



Inzwischen ist Chinas Geo­politik in eine neue Phase getreten. Das Land versucht intensiv, für sein politisches Modell zu werben: als Alternative zu den liberalen Demokratien des Westens. Dem dienen wissenschaftlicher Austausch, Stipendien oder gesponsorte Geschäftsreisen von Journalisten und Unternehmern. In lateinamerikanischen Luxushotels finden sich Hochglanz-Zeitschriften, in denen China modern und selbstbewusst für sein vermeintlich effizienteres und erfolgreicheres Modell wirbt. Autoritäre Regime wie Venezuela, Bolivien und Kuba werden mit chinesischer Sicherheitstechnologie ausgestattet, um Regimegegner auszuspionieren.



Die Bilanz ist bislang gemischt. Die Wirtschaftselite in Südamerika (Brasilien, Chile, Peru) ist heute teilweise prochinesisch und kann dem dortigen Autoritarismus etwas abgewinnen. In der breiten Masse hingegen hat Peking einen schweren Stand. Für die Mittel- und Unterschicht sind die USA weiterhin die wichtigste Referenz – und der Sehnsuchtsort der Migration.



Vielerorts regt sich Widerstand gegen chinesische Investoren. Unlängst gab es Proteste etwa in Morococha in Peru gegen die Umsiedlung durch die chinesische Mine Chinalco oder in Kolumbien gegen die chinesische Ölfirma Emerald Energy, weil die ihr Versprechen vom Bau einer Straße nicht erfüllt hatte. Derartige Proteste sind allerdings nicht primär antichinesisch; ähnliche Rohstoffkonflikte gibt es auch mit US-amerikanischen, kanadischen und europäischen Investoren.



Die USA blicken mit Sorge auf chinesische Investitionen in strategische Infrastruktur, etwa Häfen, Züge, Halbleiter, Energie, Atomkraft und Telekommunikation. China ist an etwa 40 Häfen in Lateinamerika beteiligt sowie an elf Satellitenbodenstationen: Diese Infrastrukturen sind sowohl zivil als auch militärisch nutzbar. Als kritisch stuft das US-Verteidigungsministerium auch Chinas 5G-Technologie ein sowie Apps wie DiDi und TikTok, die massiv Daten sammeln, ebenso wie die DJI-Drohnen weltweit oder die zehn von China finanzierten „smart cities“ in Lateinamerika. Washington hat auf zahlreiche Regierungen Lateinamerikas, darunter Mexiko und Brasilien, Druck ausgeübt, um den Konkurrenten Huawei aus Sicherheitsgründen von 5G-Ausschreibungen auszuschließen – nicht immer mit Erfolg.



Ein weiterer Reibungspunkt sind die Rohstoffe für die Energiewende, insbesondere Kupfer, Lithium und seltene Erden. Hier war China deutlich schneller als die USA und hat beim Lithium mit Investitionen oder Firmenübernahmen in Chile, Argentinien, Mexiko und Bolivien klar die Nase vorn.

Inwieweit die USA den chinesischen Vormarsch verlangsamen können, ist unklar. Die finanziellen Versprechungen, mit denen Washington ein Gegengewicht zur Seidenstraßen-­Initiative schaffen will, haben sich bislang nicht materialisiert. Allerdings gibt es punktuell durchaus erfolgreiche technische oder geheimdienstliche Kooperationen mit lateinamerikanischen Regierungen – etwa bei der Bekämpfung der chinesischen Raubfischerei im Pazifik oder des Schmuggels von Flora und Fauna, in den chinesische Triaden verwickelt sind.



Krisen- und Konfliktpotenzial

Mittlerweile sind einige dunkle Wolken am Horizont der chinesisch-lateinamerikanischen Beziehungen aufgezogen. Infolge der Corona-Pandemie, des Ukraine-Krieges, hoher Inflation, von Zinserhöhungen in den USA und steigender Energie- und Lebensmittelkosten sind viele lateinamerikanische Länder nicht in der Lage, ihre Kredite an China zurückzuzahlen. Peking steht vor massiven Zahlungsausfällen und möglicherweise einer Schuldenkrise in Übersee. In den vergangenen drei Jahren haben chinesische Außenhandelsbanken deshalb keine neuen Kredite mehr in der Region vergeben.



Thinktanks wie China Dialogue nehmen das chinesische Treiben in Lateinamerika kritisch unter die Lupe. Die Geschäftsmethode, Projekte mit eigenen Firmen und Arbeitern komplett schlüsselfertig zu erstellen und die Verträge geheim zu halten, erweckt verstärkte Kritik in der lateinamerikanischen Öffentlichkeit. So sind Knebelklauseln bekannt geworden, dass China verlangt, bei Zahlungsausfällen vor allen anderen Gläubigern bedient zu werden; und für den Fall, dass das Gastland seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, gehen die Projekte in chinesische ­Hände über.



Angesichts des Risikos von Zahlungsausfällen dürfte China nach Auffassung von Experten wie Ariel Slipak von der Universität von Buenos Aires Druck ausüben, um die Ausbeutung von Rohstoffen in Lateinamerika zu intensivieren – was wiederum aufgrund des wachsenden Widerstands der Bevölkerung die dortigen Regierungen destabilisieren könnte. Denkbar ist auch, dass hoch verschuldete Länder wie Argentinien so schrittweise aus der Dollar-Abhängigkeit in die Yuan-Abhängigkeit überführt werden. Daher bleibt fraglich, ob die Beziehung zu China eine emanzipatorische Entwicklungschance für Lateinamerika ist – oder lediglich eine neue Art der Abhängigkeit.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2023, S. 12-14

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Sandra Weiss

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Sandra Weiss ist Politologin und ehemalige Diplomatin. Sie arbeitet seit 1999  als freie Korrespondentin in Lateinamerika, u.a. für die ZEIT, NZZ am Sonntag, Geo, Tagesspiegel, den Schweizer Rundfunk und die Deutsche Welle.

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