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01. Juni 2004

Gut gerüstet für die Zukunft

Die neue NATO – eine multifunktionale Sicherheitsagentur

Neue Sicherheitsbedrohungen in erster Linie ausgehend von der Nahost-Region haben eine Diversifizierung
des Aufgabenspektrums und damit eine Transformation der NATO unabdingbar
gemacht. Die Autoren schildern Maßnahmen, die im Rahmen dieses Transformationsprozesses
unternommen werden, sowie die Konzepte und Strukturen, die daraus hervorgegangen sind. Um
den nachhaltigen Erfolg dieses ambitionierten, aber notwendigen Projekts zu sichern, sei der Wille
zur Kooperation und zur Umsetzung von oft schwierigen Strukturreformen dringend geboten.

Ein T-Shirt, das der damalige NATO-Generalsekretär Lord
Robertson bei einem Ministertreffen in Colorado Springs im
Oktober 2003 erhielt, zierte der treffende Spruch: „This
ain’t your daddy’s NATO“. Dieser fundamentale
Wandel und Transformationsprozess wird sich auch auf dem
bevorstehenden NATO-Gipfel in Istanbul erneut beweisen. Denn
sowohl das Aufgabenspektrum als auch der geografische

Aktionradius der NATO haben sich in den letzten Jahren
erheblich erweitert. Entfernungen haben an Bedeutung verloren,
und Distanz ist nur noch ein sehr begrenzter Schutz vor
Angriffen. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die Sicherung des
unmittelbaren Umfelds der NATO an Bedeutung verloren
hätte. Im Gegenteil, eine Vielzahl von Konflikten
unterschiedlicher Intensität existiert auch im
strategischen Umfeld der Allianz, vor allem in der Region des
so genannten „Greater Middle East“, dem Krisenbogen
von Nordafrika bis Zentralasien. Die Palette der
sicherheitspolitischen Herausforderungen reicht dabei von
politischen Instabilitäten, z.B. in Algerien, Terrorismus
innerhalb und außerhalb der Region, Kriegen und
Bürgerkriegen wie im Kaukasus, Staatenzerfall à la
Afghanistan, dem seit Jahrzehnten virulenten
israelisch-palästinensischen Konflikt bis hin zur
mutmaßlichen Verbreitung von Massenvernichtungswaffen wie
in Iran. Die Anpassungsfähigkeit der NATO an diese neuen
sicherheitspolitischen Strukturen wird jedoch weitgehend
unterschätzt. Die NATO hat unlängst ihr
Aufgabenspektrum diversifiziert und sich zu einer
multifunktionalen Sicherheitsagentur gewandelt. Der NATO-Rat
hat in Prag im November 2002 beschlossen, das Bündnis zu
befähigen, weltweit „abschrecken, unterbinden und
verteidigen“ zu können.1 Eine Analyse von vier
ausgewählten Aufgabenfeldern (Terrorismus und
Massenvernichtungswaffen, Krisenmanagement, Friedenswahrung
sowie der Region „Greater Middle East“) soll den
Transformationsprozess der NATO verdeutlichen.

Terrorismus

Seit dem 11. September 2001 und mit der Verkündung des
Bündnisfalls nach von Artikel V des NATO-Vertrags bestimmt
der Terrorismus weite Teile der Agenda der NATO. Wenngleich die
NATO beim Kampf gegen den Terror allenfalls Hilfestellungen
leisten kann, da die vielfältigen Aufgaben ziviler Natur
sind und in die Zuständigkeit von Polizei und Justiz
fallen, unterstützt das Bündnis die
Terrorbekämpfung mit wichtigen militärischen
Fähigkeiten. So einigte sich beispielsweise der
Nordatlantikrat im März darauf, mit einer breiten Palette
von Antiterrormaßnahmen die Sicherheit der Olympischen
Spiele in Athen im August 2004 zu unterstützen. Hierzu
zählen unter anderem der Einsatz von luftgestützten
Frühwarn- und Aufklärungssystemen wie dem
„Airborne Warning and Control System“ (AWACS),
Seepatrouillen und die Unterstützung beim zivilen
Krisenmanagement insbesondere im Falle eines Angriffs mit
ABC-Waffen.

Terroristische Herausforderungen verlangen der NATO
militärische Fähigkeiten ab, auf die sie bisher nur
unzureichend oder gar nicht vorbereitet war. Inzwischen wird in
vielen Bereichen gegengesteuert, wobei der Erfolg der
Transformation der NATO naturgemäß von den
Anstrengungen ihrer Mitglieder abhängt, die ihrerseits
erheblichen finanziellen Sachzwängen unterworfen sind.
Nichtsdestotrotz haben die Rüstungsdirektoren der
NATO-Mitgliedstaaten im Mai 2004 ein Aktionspaket
geschnürt, um die eingesetzten Streitkräfte der NATO
und die Zivilbevölkerung vor den Bedrohungen des
Terrorismus zu schützen. Zu den acht verabschiedeten
Rüstungsinitiativen gehören u.a. der Schutz von
Transportflugzeugen und Helikoptern gegen tragbare
Boden-Luft-Raketen („Man Portable Air Defense
Systems“/MANPADS) der Schutz von Hafenanlagen und
Schiffen beispielsweise gegen Angriffe mit sprengstoffbeladenen
Schnellbooten, verbesserte Aufspürfähigkeiten
für Sprengsätze sowie neue Aufklärungs- und
Informationssysteme zur nachrichtendienstlichen
Überwachung von terroristischen Aktivitäten.

Eine besonders brisante und bedrohliche Mischung ist die
Verbindung von Terrorismus mit Massenvernichtungswaffen (MVW).
Daher stellt für das Bündnis die Weiterverbreitung
von atomaren, biologischen sowie chemischen MVW und
entsprechenden Trägersystemen eine der zentralen
zukünftigen Aufgaben dar. Zusätzlich zu ABC-Waffen
besteht auch zunehmend ein Gefahrenpotenzial durch den Einsatz
von so genannten „schmutzigen Bomben“. Hierzu
werden radiologische Materialien durch die Zündung von
konventionellem Sprengstoff in Bevölkerungszentren
ausgebracht. Auch bei dem Einsatz von MVW hat die
Variabilität der Trägersysteme zugenommen. Neben den
Gefahren eines Angriffs mit ballistischen Trägersystemen
sind alle Arten von Trägern denkbar, die insbesondere von
nichtstaatlichen Akteuren wie Terroristen genutzt werden
können. Denkbare Szenarien reichen hierbei von einer in
einem Container deponierten Kernwaffe im Hamburger Hafen, der
Ausbringung von chemischen Kampfstoffen wie VX durch ein
Sprühflugzeug über einem Fußballstadion bis hin
zum biologischen Kampfstoff Milzbrand, der per Post versendet
wird.

Ebenso facettenreich wie das Bedrohungspotenzial sind die
Versuche der NATO, auf die Gefahren durch MVW zu reagieren. Der
NATO-Gipfel in Prag 2002 hat hierzu eine Reihe von
Defensivmaßnahmen initiiert.2 Neben den Bemühungen,
die Proliferation von ballistischen Trägersystemen
einzudämmen und die Machbarkeit einer Raketenabwehr zum
Schutz des Territoriums, der Bevölkerung und der
eingesetzten Streitkräfte der Allianz zu prüfen,
setzt das Bündnis auf eine ganzes Spektrum von
Abwehrmaßnahmen. Hierzu zählen unter anderem auch
die Entwicklung und Bevorratung mit geeigneten Impfstoffen und
Medikamenten und ziviles Krisenmanagement. Bereits im Herbst
2000 wurde zudem das „Weapons of Mass Destruction
Center“ (WMD Center) im NATO-Hauptquartier in
Brüssel eingerichtet. Das Aufgabenspektrum dieses
Kompetenzzentrums reicht vom Informationsaustausch
proliferationsrelevanter Daten über die Stärkung der
Fähigkeiten der Allianz, um in einem kontaminierten Umfeld
operieren zu können, bis hin zur Unterstützung und
Stärkung internationaler Nichtverbreitungsregime. Die
Personaldecke des WMD Center ist jedoch trotz der Gefahren
durch Massenvernichtungswaffen denkbar dünn und bedarf
dringend der Aufstockung.

Das Herzstück der Abwehr von MVW bildet das neue
multinationale „Chemical Biological Radiological Nuclear
Defense Battalion“ (CBRN-Bataillon), das zur direkten
Gefahrenabwehr befähigt sein soll und somit die
NATO-Reaktionskräfte (NRF) in diesem Bereich
unterstützt. Die Entscheidung zur Einrichtung einer
solchen Einheit wurde durch den Nordatlantikrat im Juni 2003
getroffen. Die Indienststellung des CBRN-Bataillon erfolgte im
Dezember 2003 im tschechischen Liberec mit 160 ABC-Experten als
Kern der Einheit.3 Die Einheit besteht unter anderem aus einer
Führungseinheit, Aufklärungseinheiten, mobilen
Laboratorien und einer leichten und schweren
Dekontaminierungskompanie, was erneut beweist, dass auch die
kleinen neuen NATO-Mitglieder durchaus wichtige
Nischenbeiträge in das Bündnis einbringen
können. Neben Tschechien stellen Deutschland, Belgien,
Großbritannien, Italien, Kanada, Norwegen, Polen,
Portugal, Rumänien, Spanien, die Türkei, Ungarn und
die Vereinigten Staaten Einheiten, wobei das Kommando jeweils
halbjährlich rotiert.

Krisenmanagement

Wie sehr sich das Aufgabenspektrum im Bereich des
Krisenmanagements gewandelt hat und welche
Spezialfähigkeiten hierzu erforderlich sind, mag ein
Studienseminar auf der Tagung der NATO-Verteidigungsminister in
Colorado Springs im Herbst 2003 verdeutlicht haben: In diesem
Szenario übernehmen in einem Staat „Corona“ im
Nahen Osten – irgendwo zwischen Saudi-Arabien und
Afghanistan – Terroristen die Macht. Die NATO schickt
5000 Soldaten, um eigene Staatsbürger in Sicherheit zu
bringen und zu evakuieren. Die neuen Machthaber interpretieren
das Engagement der NATO als Bedrohung und verwickeln die
NATO-Einheiten in Kämpfe. Zugleich werden zwei Schiffe im
Mittelmeer geortet, die möglicherweise MVW an Bord haben.
Eine abgefeuerte ballistische Trägerrakete kann vor
Italien noch abgefangen werden und die NATO muss nun
überlegen, wie sie gegen diese Bedrohungen vorgeht. Das
dargestellte Krisenszenario hat die beteiligten
NATO-Verteidigungsminister zu tief greifenden Überlegungen
angeregt. Denn neben der zentralen Frage, ob die jeweiligen
nationalen Entscheidungsprozesse einen reaktionsschnellen
Einsatz von Streitkräfte erlauben, stellt sich auch die
Frage nach dem zügigen Aufbau der
NATO-Reaktionskräfte.

Die NRF setzt sich aus hochmodernen, flexiblen,
dislozierbaren, zur Interoperabilität tauglichen und
durchhaltefähigen Truppenteilen zusammen. Bis Oktober 2004
soll die NRF bedingt, bis 2006 vollständig
einsatzfähig sein.4 Die bis zu 21 000 Mann starke
Eingreiftruppe soll innerhalb von nur fünf Tagen 5000 Mann
in ein Einsatzgebiet verlegen können, die restlichen
Kräfte sollen innerhalb von 30 Tagen vor Ort sein. Erste
Elemente der NRF stellten in der Türkei im November 2003
ihre Einsatzfähigkeit bei der Übung „Allied
Response 2003“ unter Beweis. Die absehbare reibungslose
Realisierung der NRF steht jedoch vor mancherlei Hürden.
Zum einen leisten die Vereinigten Staaten mit ca. 300 Soldaten
nur einen minimalen Beitrag und tragen nicht wie
gewöhnlich die Hauptlast. Zum zweiten existieren bei den
europäischen NATO-Partnern erhebliche Defizite im Bereich
des strategischen Lufttransports, der Aufklärung, der
Kommunikation, der Luftbetankung, bei
Präzisionsabstandswaffen, der Durchhaltefähigkeit,
der Bekämpfung feindlicher Luftabwehr sowie dem Schutz vor
und der Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen. Alles
Fähigkeiten, die für die Einsatzfähigkeit der
NRF essenziell sind. Deswegen steht die Entwicklung der NRF
auch im direkten Zusammenhang mit der
Streitkräfteentwicklung der EU („single set of
forces“). Das symbiotische Verhältnis zwischen NRF
und dem „European Capabilities Action Plan“ (ECAP)
wurde im Dezember 2003 nochmals durch den Nordatlantikrat
betont: „The NRF and the related work of the EU Headline
Goal should be mutually reinforcing while respecting the
autonomy of both organisations“.5 Insbesondere für
Washington ist der Aufbau der NRF der Lackmustest für die
Zukunftsfähigkeit und den strategischen Wert des
Bündnisses.

Die neuen Aufgaben der NATO erfordern zudem auch neue
Organisations- und Kommandostrukturen. Auf diesem Gebiet wurden
bereits erste sinnvolle Maßnahmen getroffen. Die
bisherige Gliederung nach den strategischen Kommandobereichen
„Europa“ und „Atlantik“ wurde
aufgelöst. Stattdessen gliedert sich die neue
Kommandostruktur in die Bereiche „Operation“
(vormals SHAPE) und „Transformation“ (vormals
SACLANT). Das „Allied Command Operations“ (ACO) ist
zuständig für die Vorbereitung und Durchführung
von militärischen Operationen einschließlich der
Bündnisverteidigung. Zum Nukleus des
Transformationsprozesses avanciert das „Allied Command
Transformation“ (ACT), das insbesondere für die NRF
die entsprechenden Konzepte und Doktrinen ausarbeiten und die
Interoperabilität der eingesetzten Kontingente
sicherstellen soll.

Friedenswahrung und Nation Building

Der Wandel im Aufgabenspektrum der Allianz zeigt sich sehr
deutlich an der gewachsenen Rolle der Friedenswahrung für
die NATO. Gegenwärtig führt die NATO drei
Friedensmissionen: in Bosnien-Herzegowina (SFOR), in Kosovo
(KFOR) und in Afghanistan (ISAF). Darüber hinaus
unterstützt die Allianz Polen durch Kommunikation,
Logistik und Transport bei seinen Aufgaben in Irak6 und die
Europäische Union bei ihrer Mission in Mazedonien. Zur
klassischen Friedenswahrung, wie sie die Vereinten Nationen
seit ihrer Gründung durchführen, ist mit dem so
genannten „nation building“ eine neue und sehr
komplexe Aufgabe hinzugekommen. Mit dem militärischen
Vorgehen gegen Serbien im Rahmen des Kosovo-Konflikts hat die
NATO erstmalig in ihrer Geschichte aktiv eine
Friedenserzwingung durchgeführt und seitdem auch
weitgehend die Verantwortung für die Sicherheit und die
Stabilität der Provinz übernommen. Dies trägt
sehr nachhaltig auch zu einem Wandel im Selbstverständnis
der Allianz bei und unterstreicht die Abkehr von Problemen der
Bündnisverteidigung hin zu einer globalen
Sicherheitsagentur. Peacekeeping und „nation
building“ zeigen deutliche Auswirkungen auch auf die
NATO-Einsatzplanungen. So erfordern diese Missionen eine andere
Zusammensetzung der militärischen Kräfte als reine
Kampfeinsätze. Dies umfasst zum einen besonders
ausgestatte und ausgebildete Einheiten wie Pioniere,
Feldjäger, aber auch so genannte funktionelle Spezialisten
mit überwiegend zivilberuflichen Qualifikationen, so z.B.
aus den Bereichen Verwaltung, Rechtspflege und
Wirtschaftsförderung.

Im Rahmen von Friedensmissionen sieht sich die NATO einer
Vielzahl von neuen Herausforderungen gegenüber. Hierzu
zählen in besonderem Maße nichtmilitärische
Aufgaben, vor allem die Kooperation mit der
Zivilbevölkerung und mit anderen internationalen
Organisationen (z.B. der UN oder dem Roten Kreuz) und
Nichtregierungsorganisationen. Diese als CIMIC
(„Civil-military Cooperation“) bezeichnete
Zusammenarbeit stellt neben der genuinen Aufgabe der
militärischen Friedenssicherung die wichtigste Aufgabe der
eingesetzten NATO-Kräfte dar. Hierbei zeigen sich sehr
deutliche Unterschiede zwischen politischen und
militärischen Zielsetzungen. Während von politischer
Seite eine nachhaltige Unterstützung des
Entwicklungsprozesses gefordert wird, zielt der
militärische Ansatz vor allem auf die Unterstützung
der eigenen Truppen ab. So beschreibt die NATO-CIMIC Doktrin
zivilmilitärische Zusammenarbeit folgendermaßen:
„ … [T]o establish or maintain the full
co-operation of the NATO commander and the civilian
authorities, organisations, agencies and population within a
commander's area of operations in order to allow him to
fullfill his mission“.7 Letzteres bedeutet vor allem die
Schaffung eines den NATO-Truppen gegenüber positiv
gesonnen zivilen Umfeldes, die Unterstützung der eigenen
Kräfte sowie die Koordination mit nationalen und
internationalen Behörden und Organisationen. Innerhalb der
NATO wurde auch in organisatorischer Hinsicht auf diese neuen
Anforderungen reagiert. Seit September 2001 besteht im
niederländischen Budel die multinationale CIMIC Group
North (CGN).8 Der CGN wurde 2003 der Rang eines internationalen
militärischen Hauptquartiers der NATO zugestanden. Aufgabe
dieser Einrichtung ist die Verbesserung der Ausbildung von
Soldaten für den Bereich CIMIC, die Koordination zwischen
den beteiligten Streitkräfte sowie die Durchführung
von Operationen. So stellt die CGN gegenwärtig auch
Personal für das CIMIC Coordination Centre (CCC) der ISAF
in Kabul.9 Sowohl auf dem Balkan als auch in Afghanistan haben
die beteiligten NATO-Streitkräften eine Vielzahl von
unterschiedlichen Hilfsprojekten durchgeführt bzw.
unterstützt. Hierzu zählten neben Verbesserungen der
Infrastruktur die Ausbildung von lokalen Polizei- und
Militäreinheiten, wozu die NATO ausreichend qualifiziertes
Personal benötigt und vorhalten muss. Die Agenda der
friedenserhaltenden Operationen führt nach wie vor die
Mission in Afghanistan an, sie beschränkt sich jedoch im
Wesentlichen auf die Sicherung der Hauptstadt Kabul mit ca.
5500 Soldaten aus 33 Nationen. Die so genannten
„Provisional Reconstruction Teams“ (PRT) stellen
den Versuch dar, die relative Stabilität Kabuls in die
Provinzen zu exportieren, um somit den gesellschaftlichen,
politischen und wirtschaftliche Aufbauprozess zu
unterstützen.

Der Nahe und der Mittlere Osten

Die sicherheitspolitischen Herausforderungen für die
NATO und ihrer Mitglieder konzentrieren sich in besonderem
Maße in der Region des Nahen und Mittleren Ostens sowie
darüber hinaus bis nach Afghanistan. Eine rein
militärische Lösung der Probleme ist nicht
möglich. Aus diesem Grunde befindet sich die Allianz in
einem Prozess der Intensivierung ihrer politischen
Handlungsmöglichkeiten in der Region, um Stabilität
in ihrem unmittelbaren und mittelbaren strategisches Umfeld
herzustellen. Hierbei kann das Bündnis auf bereits in der
Vergangenheit gewonnene Erfahrungen im Umgang mit den Staaten
Mittel- und Osteuropas zurückgreifen. Vor allem das 1994
aufgelegte
„Partnerschaft-für-den-Frieden“-(PfP)-Programm
hat einen wichtigen Teil dazu beigetragen, Vertrauen zu bilden,
die Kooperation zwischen Streitkräften zu ermöglichen
sowie politische Werte der NATO zu vermitteln. Wenngleich die
Aufgabe der weiteren Stabilisierung in Europa, besonders auf
dem Balkan, noch nicht abgeschlossen ist, so haben sich doch
viele der drängenden sicherheitspolitischen Probleme z.B.
im Baltikum mittlerweile gelöst.

Mit dem so genannten Mittelmeer-Dialog (MD) hat die Allianz
bereits vor den Anschlägen vom 11. September 2001 den
Versuch unternommen, eine Form der Kooperation mit Staaten des
erweiterten Mittelmeer-Raumes (Algerien, Ägypten, Israel,
Jordanien, Mauretanien, Marokko und Tunesien) zu etablieren.
Die Grundüberlegung des MD ist ähnlich gelagert wie
jene des PfP, Vertrauensbildung und Kooperation, wenngleich
praktische Aspekte in diesem Fall eine geringere Bedeutung
haben und ein NATO-Beitritt keine Perspektive darstellt. Der
Dialog findet vor allem in Form von bilateralen Kontakten
zwischen der NATO und den einzelnen Staaten statt (NATO+1),
aber auch multilateral mit allen Partnern (NATO+7), wobei diese
Art und Intensität der Verhandlungen selber bestimmen
können.

Die Erfolge des MD sind bisher bescheiden ausgefallen. Dies
ist sicherlich nicht nur auf das NATO-Programm als solches
zurückzuführen, sondern auf die allgemeine politische
Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten. Schon im Oktober 2002
hatte der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, General
Harald Kujat, einen Bedeutungszuwachs für den MD angemahnt
und erklärt: „[T]he Mediterranean Dialogue will have
to become much more relevant. While again a political issue,
NATO may be needed in accordance with its policy to expand
stability“.10

Die weitere Politik der Allianz gegenüber dem Nahen und
Mittleren Osten wird eines der zentralen Probleme auf dem
kommenden NATO-Gipfel in Istanbul darstellen. Die amerikanische
Regierung hat mit der so genannten „Greater Middle East
Initiative“ einen sehr ambitionierten Plan vorgelegt, der
eine Modernisierung und vor allem Demokratisierung der Region
vorsieht. Die Aufgabe der NATO könnte in diesem
Zusammenhang ein weiterer Ausbau der vertrauensbildenden
Maßnahmen sowie Kooperation in Bereichen der so genannten
„soft security“, z.B. dem „NATO Science
Program“ sein. Vergleichbar mit dem sehr erfolgreichen
PfP-Programm könnte eine engere Kooperation der NATO mit
den MD-Partnern von innenpolitischen Reformen abhängig
gemacht werden. Zwar ist der Terrorismus der aktuelle Anlass
für eine intensivierte Beschäftigung mit dem Nahen
und Mittleren Osten, jedoch sollte die Politik der NATO
angesichts weiterer Herausforderungen in der Region nicht nur
auf diesen Aspekt reduziert werden.

Wenngleich die Zielsetzung einer Modernisierung der Staaten
von Nordafrika bis Zentralasien unter den NATO-Staaten
unbestritten ist, so wird die Rolle der Allianz jedoch sehr
unterschiedlich bewertet. Die NATO mag zwar von ihren
militärischen Fähigkeiten her für einen
Friedenswahrungseinsatz im Irak gerüstet sein, das
Engagement der NATO am Persischen Golf bleibt aber eine heikle
politische Frage, die es auf dem Gipfel in Istanbul zu
lösen gilt.

Fazit

Der Transformationsprozess der NATO weist zwar den richtigen
Weg, er bedarf aber der nachhaltigen Umsetzung insbesondere
durch die europäischen NATO-Mitglieder. Der Aufbau und die
Einsatzfähigkeit der NRF wird hierbei der entscheidende
Versuchsballon für die Zukunftsfähigkeit und den
politischen Willen der Europäer sein. Die dargestellten
Reformvorhaben der NATO beschränken sich
naturgemäß auf militärische und institutionelle
Bereiche. Grundlegende strukturelle und politische Asymmetrien
im transatlantischen Verhältnis, wie sie der Irak-Krieg
aufgeworfen hat, können so nur ansatzweise gekittet
werden. Die Reformen sind aber dazu geeignet, die NATO
moderner, flexibler und handlungsfähiger und somit
letztendlich attraktiver für all ihre Mitglieder zu
gestalten. Der Wandlungsprozess der NATO ist kein Garant
für ein gemeinsames transatlantisches Handeln, aber die
Grundvoraussetzung.

Anmerkungen

1 Vgl. Prague Summit Declaration, NATO
Press Release (2002) 127, 21.11.2002, unter:
<http://www.nato.int/docu/pr/2002/p02-127e.htm&gt;;
abgedruckt in:Internationale Politik, 3/2003, S.
90–97.

2 Ebenda.

3 Vgl. Launch of NATO Multinational CBRN
Defence Battalion, NATO Press Release, 26.11.2003, unter:
<http://www.nato.int/docu/pr/2003/p031126e.htm&gt;.

4 Vgl. NATO launches Response Force,
unter:
<http://www.nato.int/shape/news/2003/10/i031015.htm&gt;.

5 Vgl. Statement on Capabilities issued
at the Meeting of the North Atlantic Council in Defence
Ministers Session, NATO Press Release (2003) 149, 1.12.2003,
unter:
<http://www.nato.int/docu/pr/2003/p03-149e.htm&gt;.

6 Vgl. Final Communiqué
Ministerial Meeting of the North Atlantic Council Held in
Madrid on 3 June 2003, NATO Press Release (2003) 059, unter
<http://www.nato.int/docu/pr/2003/p03-059e.htm&gt;.

7 Vgl. NATO Civil-Military Co-operation
(CIMIC) Doctrine (AJP-9) Brüssel 2003, S. 10.

8 Mitglieder der CIMICGroup North sind
die Niederlande, die Tschechische Republik, Dänemark,
Polen, Norwegen und Deutschland.

9 Vgl. CIMIC Group North, CGN in Action
– Current Activities, unter:
<www.cimicgroupnorth.org&gt;.

10 Harald Kujat, NATO’s New
Capabilities, 22.10.2002, unter
<http://www.nato.int/ims/2002/s021007e.htm&gt;.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2004, S.25-32

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