Gegen den Strich

01. Juli 2011

Global Governance

Von atomarer Weiterverbreitung bis Zerstörung der Umwelt: Lösen lassen sich viele Probleme nur noch auf globaler Ebene. Doch sind die G-8 oder die G-20 dafür die richtigen Foren? Und was für eine neue Weltordnung zeichnet sich ab? Fünf verbreitete Annahmen auf dem Prüfstand.

» Wir erleben die Geburtsstunde einer neuen Weltordnung «

Vielleicht. Doch wir wissen nicht genau, wie diese aussieht. Krisen und Umwälzungen allerorten von Fukushima bis zur arabischen Welt, gleichzeitig der Aufstieg neuer Mächte wie China, Indien und Brasilien: Die Welt ist in Bewegung, soviel ist sicher. Aber sind wir „Auf dem Weg zu einer neuen Weltordnung“? Unter diesem Titel versuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel jüngst auf dem Evangelischen Kirchentag 2011 eine Sinngebung weltpolitischer Umbrüche. So richtig schälten sich die Konturen der neuen Weltordnung in Merkels Rede nicht heraus. Aus der Wissenschaft hingegen gibt es konkurrierende Deutungsangebote, die vermeintlich klar erklären, wohin die Reise geht.

„Zurück ins 19. Jahrhundert“, verkünden die Anhänger des klassischen Realismus, die sich im Zeitalter der Multipolarität an das Europa des (Un)gleichgewichts der Mächte erinnert fühlen. Sie sehen ein „Mächtekonzert“ der großen Staaten als die bestmögliche Steuerungsform der Weltpolitik. Und sie weisen gleichzeitig darauf hin, wie prekär ein solches Konzert ist, wenn aufstrebende Mächte das Gleichgewicht durcheinander bringen. Historisch hat der Aufstieg neuer Mächte oft zu Kriegen geführt. Dies gilt nicht nur für Deutschland und Japan Ende des 19. Jahrhunderts. Die Dynamik beschrieb Thukydides bereits im „Peloponnesischen Krieg“: Die Angst vor dem relativen Machtgewinn Athens machte für Sparta den Krieg  unvermeidlich. Skeptiker sehen heute ähnliche Mechanismen am Werk, die zu einem Krieg zwischen den USA und China führen werden, zumal ein Land wie China keinen Anreiz habe, sich einfach in die bestehende Ordnung einzupassen.

„Wir bleiben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, meinen hingegen Optimisten, die auf die Attraktivität der vom Westen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffenen Weltordnung auch für aufstrebende Mächte hinweisen. In einem Zeitalter der wechselseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit ist es für ein Land wie China attraktiver, einen Platz in der ersten Reihe der liberalen Weltordnung einzunehmen, als einen Krieg zu riskieren. Neue Mächte würden so in die bestehenden Arrangements „hineinsozialisiert“, internationale Institutionen „verdichtet“. „Das 21. Jahrhundert erlebt die Geburt einer parallelen ‚Ordnung ohne den Westen‘“, hält eine dritte Gruppe entgegen. Sie argumentieren, dass die neuen Mächte (zum Beispiel im Rahmen der BRICS-Konfiguration, die Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika zusammenbringt) eine parallele „world without the West“ aufbauen, basierend auf eine Verstärkung der politischen und wirtschaftlichen Verbindungen untereinander. Diese Ordnung hat ihre eigenen, dem liberalen westlichen System entgegengesetzten Regeln, die einen Staatskapitalismus à la China und Russland sowie das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten an vorderster Stelle sieht.

Alle drei Schulen können auf reale Entwicklungen verweisen, die ihre Sicht der Dinge untermauern: militärisches Wettbewerbsdenken zwischen China und den USA; die Beständigkeit bestehender internationaler Institutionen und das Hinzukommen neuer; nichtwestliche Zusammenschlüsse wie BRICS oder die Shanghai Cooperation Organization. Insofern ist die Richtung unklar. Unzweifelhaft ist jedoch die dreifache Herausforderung, vor der die Weltordnungspolitik steht: den geopolitischen Übergang friedlich zu organisieren, grenzüberschreitende Probleme von Klimawandel bis hin zur nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung wirksam anzugehen und sich gleichzeitig auf ein Mindestmaß an gemeinsamen Normen und Werten zu einigen, die Legitimität begründen.

Mit Blick auf diese dreifache Herausforderung kann man das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nur als verlorene Dekade bezeichnen. Die vertrauensbildenden Maßnahmen zwischen den Militärs aus China und den USA finden auf einem viel zu niedrigen Niveau statt. Es gibt kaum Fortschritte im Bereich der Effektivität internationaler Institutionen. Und mit Blick auf grundlegende Normen (beispielsweise die Balance zwischen Souveränität und Schutzverantwortung) gibt es tiefe Gräben zwischen den Staaten. Insofern hat der ehemalige UN-Vizegeneralsekretär Mark Malloch Brown Recht: Noch nie war die Lücke zwischen realer wechselseitiger weltpolitischer Abhängigkeit und der Kapazität zur Bereitstellung globaler öffentlicher Güter – und dem politischen Willen, diese Lücke durch die Stärkung internationaler Institutionen und die Koordinierung nationaler Politiken zu schließen – so groß.

» Mit öffentlich-privaten Partnerschaften und Netzwerken zieht Global Governance in eine goldene neue Zeit «

Nur bedingt. Grenzüberschreitend organisierte Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen sind in den vergangenen 20 Jahren zu wichtigen Akteuren auf der weltpolitischen Bühne geworden. Insofern liegt der Gedanke nahe, ihre Ressourcen (Organisationsmacht, Geld, Wissen, Legitimität) zu nutzen, um globale Herausforderungen etwa im Umwelt- oder im Gesundheitsbereich anzugehen – und dies nicht in starren Organisationsformen, sondern flexiblen Netzwerken und öffentlich-privaten Partnerschaften zu tun. Ob die Global Alliance for Vaccines and Immunization (GAVI) oder das Forest Stewardship Council, es gibt eine Vielzahl solcher institutionellen Innovationen. Gleichzeitig arbeiten internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen verstärkt mit Unternehmen und NGOs auf freiwilliger Basis zusammen, etwa im Global Compact. Dies ist prinzipiell zu begrüßen. Es scheint doch reichlich überzogen, wenn Gegner des Global Compact fürchten, hier würde ein politischer Ausverkauf an gierige multinationale Konzerne betrieben.

Doch nach fast 15 Jahren institutionellen Experimentierens ist es an der Zeit, stärker als bisher die Frage nach der Wirksamkeit öffentlich-privater Partnerschaften zu stellen. Dies umfasst auch die Frage, inwieweit öffentlich-private Partnerschaften in ihrem jeweiligen übergeordneten Problemfeld einen Beitrag zur Lösung grenzüberschreitender Probleme geleistet haben. Eine solche Wirkungsanalyse sollte auch die möglichen Schattenseiten der Vielzahl institutioneller Neuerungen in den Blick nehmen, etwa Überlappungen zwischen den Mandaten von Initiativen, die einen wirklichen Überblick von außen schwer machen, Effektivitätsverluste durch mangelnde Koordinierung zur Folge haben und es mächtigen Spielern (ob Staat, Unternehmen oder NGO) erlauben, „forum shopping“ zu betreiben und sich das jeweils günstigste Arrangement auszusuchen oder verschiedene Institutionen gegeneinander auszuspielen.

» Aufstrebende Mächte sind noch nicht reif für globale Verantwortung «

Es gibt keine Alternative zur Einbindung von China, Indien und Co. „Not ready for prime time“ – mit diesen Worten wandte sich der ehemalige mexikanische Außenminister Jorge Castañeda jüngst gegen die Einbindung aufstrebender Mächte in die inneren Führungszirkel internationaler Institutionen. Die Newcomer, so Castañeda, unterstützten zentrale Werte der westlich geprägten Weltordnung nicht oder nur teilweise: die kollektive Verteidigung der Demokratie, nukleare Nichtverbreitung, wirtschaftliche Liberalisierung, internationale Strafjustiz, Umweltschutz sowie Respekt für Menschenrechte. Sicherlich gibt es diese Wertdivergenzen (ebenso wie es innerhalb des Westens mit Blick auf internationale Strafjustiz oder Umweltschutz Unterschiede gibt). Doch dies kann kein Grund sein, neuen Mächten einen Platz in der ersten Reihe der Weltpolitik zu verwehren. Denn: Bei grenzüberschreitenden Herausforderungen wie Klimawandel und Pandemien werden die neuen Mächte dringend bei der Problemlösung gebraucht. Und je eher der Westen den Neuankömmlingen im Kreis der wichtigen Mächte einen adäquaten Platz zugesteht, umso glaubwürdiger kann er von ihnen auch einen Beitrag zur Problemlösung verlangen.

Bislang konnten China, Indien und Brasilien ihre Ideen- und Mutlosigkeit bei globalen Herausforderungen oft hinter der Beschwerde verstecken, nicht in der ersten Reihe zu sitzen. Dieser Ausrede sollte der Westen den Boden entziehen, indem er Stimmgewichtung und Zusammensetzung in allen internationalen Gremien grundlegend reformiert. Bei alledem sollte auch nicht der vom jetzigen Weltbank-Präsidenten Robert Zoellick geprägte Begriff der „verantwortlichen Teilhaber“ („responsible stakeholders“), in die sich China und die anderen verwandeln sollen, Mantra westlicher Politik sein – dieser Begriff klingt zu paternalistisch, weil er eine allzeit gelebte Verantwortung des Westens nahelegt. Leitmotiv sollte die „gemeinsame Teilhabe“ sein. Unter diesem Motto gilt es, ohne Illusionen mit Blick auf Konflikte und unweigerlich auftretende Enttäuschungen den Dialog mit aufstrebenden Mächten um innovative Ideen für die Weltordnung im 21. Jahrhundert zu suchen. In China, Indien und Brasilien gibt es bislang nur eine sehr schwach ausgeprägte Diskussion zu Global Governance – hier kann auch der Dialog zwischen Wissenschaft und Think-Tanks im Dreieck Europa-USA – aufstrebende Mächte viel leisten.

» Deutschland und Europa sind Garanten für einen  effektiven Multilateralismus «

Schön wär’s. Oft hört man aus Deutschland und der EU Bekenntnisse zu einem „effektiven Multilateralismus“. Deutsche Sonntagsredner bekunden, wie sehr der Bundesrepublik der Multilateralismus in Fleisch und Blut übergegangen ist. Doch allzu selten folgen den wohlfeilen Worten Taten. Kluge Macht auszuüben in der gegenwärtigen Phase des geopolitischen Übergangs hieße für Deutschland in Europa zweierlei: internationale Institutionen durch vorausschauende Maßnahmen zukunftsfähig zu machen und mit einer europäischen Stimme zu sprechen. In beiden Punkten ist man gescheitert – und Deutschlands Politik ist ein wichtiger Grund dafür.

Statt Zukunftskonzepte für globale Institutionen vorzulegen, strebt Deutschland einen Sitz im UN-Sicherheitsrat an – ein aus der Zeit gefallenes Ansinnen, das Europa schwächt. Dass Deutschland, in selten gesehener Eintracht mit Frankreich, trotz anders lautender Versprechungen am IWF-Chefsessel im Zuge der Strauss-Kahn-Nachfolge festgehalten hat, gehört ebenfalls in die Reihe kurzsichtiger Entscheidungen. Nicht weniger peinlich sind die ständigen Scharmützel, welche europäischen Staaten und EU-Vertreter am Tisch der G-20 Platz nehmen dürfen. Hier drängt sich der Eindruck auf, dass Europa sich krampfhaft an die alten Pfründe klammert. Damit verspielt es seine eigene Legitimität und den Erfolg internationaler Institutionen. Zudem verpasst Europa die Chance, geeint auf der weltpolitischen Bühne aufzutreten. Die Führerinnen und Führer der europäischen Nationalstaaten, Deutschland vorneweg, verteidigen lieber ihren immer kleiner werdenden Platz an der Sonne, als Raum für kraftvolle Persönlichkeiten zu schaffen, die die EU-Außenpolitik auf der weltpolitischen Bühne repräsentieren könnten. Europas Staaten kochen gegenüber China lieber ihre eigenen Süppchen und lassen sich so gegeneinander ausspielen, als mit geeinter Stimme nicht nur in Wirtschafts-, sondern auch in Menschenrechtsfragen aufzutreten.

Dadurch beraubt sich das europäische Projekt ganz ohne Not der Zukunftsvision für eine neue Generation von Europäern, für die die Gefahr eines innereuropäischen Krieges nicht mehr als Movens für die Integration taugt. Das Projekt „Mitgestaltung der Weltordnung im europäischen Sinne durch ein einiges Europa“ würde durchaus als neuer Leitstern für die Integration taugen – gegen allen Defätismus im Lichte der Euro-Krise. Doch Europas Führer verspielen diese Chance und überlassen dadurch dem Anti-EU-Populismus allzu leicht das Feld. Auch für Global Governance hat dies Folgeschäden. Europa würde gegenwärtig, wo die USA sich ihres relativen Machtverlusts und ihrer Grenzen bewusst werden und die neuen Mächte bislang kaum eine konstruktive Rolle spielen, besonders gebraucht. Und ein einiges Europa mit weltpolitischer Vision hätte Strahlkraft auch für andere Weltregionen – nicht zuletzt für Asien, wo eine stabile Regionalordnung noch in weiter Ferne liegt.

» Die G-20 ist die neue Weltregierung «

Weit gefehlt. Durch die Weltwirtschaftskrise von 2008 ist die G-20 quasi über Nacht zu einem führenden Gremium aufgestiegen, auf dem Hoffnungen effektiver Zusammenarbeit ruhen und in dem nun alle maßgeblichen Mächte vertreten sind. Trotz gewisser Erfolge in der globalen Wirtschafts- und Finanzpolitik wird die G-20 auf absehbare Zeit nicht zu einem wirklich effektiven Gremium zur Abstimmung der großen Mächte zu weltpolitischen Fragen werden. Dafür ist der Vorrat an wechselseitigem Vertrauen zu gering, das unabdingbar ist für die „diffuse Reziprozität“ (John Ruggie), die wiederum Grundstein für Multilateralismus mit Weitsicht ist. Dies beschreibt die Erwartung, dass sich Gewinne und Verluste für jede Partei über einen längeren Zeitraum ausgleichen, auch wenn es bei einzelnen Deals nicht immer eine hundertprozentig gleiche Verteilung von Kosten und Nutzen gibt. Zudem ist die G-20, wie schon die G-8, nur schwach institutionalisiert, was selbst bei einer Ausweitung der G-20-Agenda dazu führen würde, dass jede Präsidentschaft ihre Lieblingsthemen verfolgt und keine Implementierungskontrolle der Beschlüsse stattfindet. Auch ist die G-20 zwar repräsentativer als die G-8, aber ein großer Teil der Staaten fühlt sich weiterhin ausgeschlossen, was mit Blick auf die Legitimität dieses Clubs bislang ungelöste Fragen aufwirft.

Sicherlich könnte die G-20 zur Koordinierung der Politiken der mächtigsten Staaten einen wichtigen Beitrag leisten. Doch gerade im Klimabereich, wo die real praktizierte G-192 im Rahmen des UNFCCC wenig Fortschritte zustande bringen, wären die G-20 ebenso gelähmt, da es vor allem die USA und China sind, die eine ambitionierte Übereinkunft unmöglich machen. In einem solchen Fall bleibt Europa nichts anderes übrig, als auf „Koalitionen der Ambitionierten“ (die auch Städte und Landesregierungen sowie Unternehmen einschließen) als Ergänzung zum UNFCCC zu setzen – so wie es die deutsch-chinesisch- amerikanische Expertenarbeitsgruppe des „Global Governance 2020“-Programms in ihrem Abschlussbericht „Beyond a Global Deal“ empfohlen hat. Dass die G-20 auf absehbare Zeit keine Weltregierung wird, heißt im Umkehrschluss nicht, an der G-8 festzuhalten. Die G-8 hat sich überholt. Weder sind sie eine Wertegemeinschaft (die „lupenreine Demokratie“ Russland sitzt mit am Tisch) noch sind sie eine effektive Problemlösergemeinschaft (weil viele wichtige Staaten nicht repräsentiert sind).

Was sind dann die Aussichten für Global Governance in einer Welt, in der nicht nur der Westen den Ton angibt? Wie die Politologen Steven Weber und Bruce Jentleson in ihrem 2010 erschienenen Buch „The End of Arrogance: America in the Global Competition of Ideas“ schreiben, wird es keinen „Schlüsselmoment geben, in dem sich die nächste Weltordnung einfach ergibt. Keine umfassende G-20-, G-8-, G-2- oder G-irgendwas-Konferenz, keine Trompetenfanfare, keine Vertragsunterzeichnung, kein weißer Rauch. Aber die Menschen werden mit größerer Bestimmtheit zwischen konkurrierenden Vorschlägen auswählen, wie die Weltpolitik geordnet und betrieben werden soll.“ Das verheißt hitzige Auseinandersetzungen und viel Durchwursteln – spannende Aussichten für die Forschung, eher schlechte für globale Einigungen.

THORSTEN  BENNER ist stellvertretender Direktor des Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2011, S. 60-65

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