Essay

01. Juli 2015

Geschichte ist Ereignis

Deshalb ist es so schwer, das Richtige aus ihr zu lernen

Die Deutschen lieben ihre Gedenkkultur. Aber macht sie überhaupt Sinn? Oder ist sie nur eine bequeme Möglichkeit, sich gegen Bekanntes zu wappnen? Vielleicht lernt man am ehesten aus der Geschichte, wenn man sich der Kontingenz und der Widerrufbarkeit von allem und jedem stets bewusst bleibt. Die aktuelle Weltlage bietet dazu Anlass genug.

Kann man aus der Geschichte lernen? Gewiss, man kann vieles aus ihr lernen. Geschichte hält – wie ein riesiges Arsenal – ungeheuer viele Ereignisse, Schicksale und Persönlichkeiten bereit. Der Blick in die Geschichte zeigt, was möglich war und ist, er zeigt, wozu Menschen fähig und unfähig waren und sind. Caesar, Nero, Augustinus, Friedrich der Staufer, Papst Coelestin V., ­Luther, Riemenschneider, Kant, van Gogh, Hitler, Stalin nicht zu vergessen. Das Zitat aus der „Antigone“ von Sophokles, das über einer Tür des Niobidensaals im Berliner Neuen Museum steht, formuliert es durch die Zeitalter hindurch in Stein gemeißelt gültig: „Staunliches waltet viel und doch nichts Erstaunlichers als der Mensch.“ Die Geschichte ist eine schöne und schreckliche Wunderkammer.

Doch das alles ist heute nicht gemeint, wenn die Frage auftaucht, ob man aus der Geschichte lernen kann. Gemeint ist vielmehr: Können wir Lehren ziehen? Können wir das Richtige aus der Geschichte lernen? Und zwar so, dass Fehler und Verbrechen, die einmal geschehen sind, in Zukunft unterbleiben, ja sogar ausgeschlossen sind? Das sind sehr deutsche Fragen. Denen, die sie aufwerfen, steckt der Schock darüber in den Knochen, dass eine Kulturnation, wie sie sich selbst gerne sah, binnen weniger Jahre fähig war, das größte nur denkbare Menschheitsverbrechen zu begehen. Zwar mühten sich die Deutschen in den ersten Jahrzehnten nach 1945 nicht gerade, sich zu erinnern, zu gedenken, genau hinzusehen. Sie gingen vielmehr in ihrer Mehrheit, beschämt vielleicht, schnell zum Alltag über, sie „beschwiegen“ das Ungeheuerliche. War die Monstrosität der NS-Untaten anfangs ein Motiv dafür, nicht hinzusehen und ihnen nicht auf den Grund zu gehen, so war es später jedoch eben diese Monstrosität, die zum Hinsehen geradezu zwang. Nicht jeden Einzelnen und die vielen Einzelnen sicher in unterschiedlichem Maße. Aber seit etwa drei Jahrzehnten gehört das Hinsehen, gehört das – wie auch immer ritualisierte – Vergegenwärtigen der NS-Zeit gewissermaßen zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland. Nie wieder wegsehen!

In dieser Haltung unterscheidet sich Deutschland vermutlich von allen anderen Staaten des Globus – sieht man von Israel und dem jüdischen Volk ab, das den Holocaust erlitten hat und dem die Aufforderung „Zachor!“ (Erinnere Dich!) seit eh und je ein religiöses Gebot der Tora ist. Fast alle anderen Gesellschaften gehen, was die negativen Seiten ihrer Geschichte betrifft, ganz anders vor. Sie behandeln sie entweder gar nicht oder nur dilatorisch. Japan, das am Yasukuni-Schrein nach wie vor auch Kriegsverbrecher ehrt, gibt dafür das inzwischen klassische Beispiel ab. Hinter diesem auf das Vergessen angelegten Umgang mit der eigenen Geschichte steht auch, aber nicht nur der Unwille, Fehler der eigenen Nation auszuleuchten. Die Methode, die Erinnerung an Verbrechen zu löschen, hat seit der hellenisch-griechischen Zeit eine lange kulturelle Tradition. Ihr zufolge ist es nicht sinnvoll und der Zukunft nicht zuträglich, die Erinnerung an Untaten wach zu halten. Denn das, so das Argument, setze den Unfrieden nur fort, könne nur Anlass für neue Gewalt und neue Untaten sein. Es müsse daher der Zukunft wegen ein Schlussstrich gezogen werden, das sprichwörtliche Gras müsse über begangene Untaten wachsen. Nur die Fiktion einer – unschuldigen, entschuldeten – Stunde Null mache ein zivilisiertes Weiterleben möglich. Das Leid der Opfer müsse gewissermaßen auf dem Altar der Zukunft geopfert, das heißt dem Schweigen anheim gegeben werden.

Geübte, bequeme Gedenkkultur

Es steckt Lebensweisheit in dieser Haltung. In Deutschland aber konnte man nach 1945 auf Dauer so nicht verfahren. Denn die Verbrechen, die hätten „vergessen“ werden sollen, sprengten jeden Rahmen, sie kündigten sämtliche zivilisatorischen Übereinkünfte auf. Das Leben ging danach zwar weiter – als hätte es die Negation aller bürgerlichen Werte nicht gegeben. Ohne das unausgesprochen vorausgesetzte, tatsächlich aber grundlose Vertrauen in die Gültigkeit ziviler Regeln wäre ein Fortleben in Deutschland nicht möglich gewesen (Jan Philipp Reemtsma etwa setzt sich in seiner Studie „Vertrauen und Gewalt“ ausführlich mit diesem schmerzlichen Paradoxon auseinander).

Auf Dauer zeigte sich aber, dass dieses Fortleben die Konfrontation mit der Vergangenheit erforderte, ja erzwang. Seit geraumer Zeit sind die Deutschen in dieser Konfrontation geübt. Der 8. Mai, der 9. November und – weniger schon – der 27. Januar sind Fixtage im deutschen Gedenkkalender, und vom Bundespräsidenten über den Bundestagspräsidenten, die Leiter der Gedenkstätten bis hin zu fast jedem Schuldirektor verfügt das Land über eine Vielzahl von Persönlichkeiten, die unter eifriger Zustimmung aller Gutgesonnenen in wohl gesetzten, so bescheiden wie erhaben klingenden Worten kundtun und bezeugen können, dass die Deutschen ihre Lektion gelernt haben und dass es stets nötig sei, wachsam zu sein.
Auch wenn das alles manchem zu leicht und zu glatt über die Lippen kommt: Es ist gut so. Aber macht das immun oder wenigstens widerstandsfähiger gegen zukünftige Gewaltversuchungen? Ich bezweifle es. Denn so notwendig es ist, dieses Gedenken hat längst etwas Gefälliges und Selbstbezogenes. So ernst der Ton klingt, es ist doch nicht zu überhören, dass da auch eine gewisse Genugtuung mitschwingt. Ich halte das Wort „Sündenstolz“ für fatal, und teile auch nicht die These, die Deutschen hätten sich flugs von Weltmeistern im Verbrechen zu Weltmeistern im Erinnern, Gedenken und „Wiedergutmachen“ gemacht.

Doch zweifellos ist ein Gutteil unserer Gedenkkultur von geistiger Bequemlichkeit geprägt. „Wie isses nun bloß möglich?“ Dieser Standardsatz der Mutter von Walter Kempowski, der ihre pure Verwunderung ob der turbulenten Zeitläufte ausdrückte, kann beim Blick auf die Schoah kaum hilfreich und der Einsicht förderlich sein. Denn obwohl es möglich war, ist es nicht zu verstehen. Den Mord an den Juden Europas aus dem sicheren Hort einer gefestigten Demokratie als das entsetzlich Andere abzulehnen, ist zwar notwendig, aber vollkommen banal. Es zeichnet den Ablehnenden nicht aus. Manchmal wäre Schweigen besser als geübtes Bereden und Gedenken.

„Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung“: Dieser viel zu oft und viel zu oft falsch bemühte Satz aus dem Talmud sollte bei uns geflissentlich aus dem Gebrauch genommen werden. Das gilt auch für George Santayanas in diesem Zusammenhang oft bemühten, aus dem Jahr 1905 stammenden Satz: „Wer sich nicht seiner Vergangenheit erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“ (im Original: „Those who cannot remember the past are condemned to repeat it“). So rund und schön diese Wendung des Philosophen auch sein mag, sie enthält nicht den Teil der Wahrheit, der verstört: Auch der, der sich an die Vergangenheit zu erinnern bemüht, ist nicht davor gefeit, Un­taten zu begehen oder ihnen gegenüber blind zu sein. Der Althistoriker Christian Meier notierte in seiner Schrift „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns“: „Es ist keineswegs ausgemacht, dass tätige Erinnerung Wiederholung ausschließt.“

Die alte Geschichte vom betrunkenen Schlüsselsucher: Ein Mann, der zuviel Alkohol genossen hat, ist des Nachts auf dem Heimweg. Ein Polizist sieht ihn, wie er im Schein einer Laterne panisch den Boden absucht. Als ihn der Polizist fragt, was er da tue, antwortet er, er suche seinen verlorenen Hausschlüssel. Ob er sicher sei, dass er ihn genau hier verloren habe, erwidert der Polizist. Der Mann antwortet: „Nein, aber hier ist es hell.“

Man kann die Pointe dieser Anekdote auf die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit übertragen. Diese ist zwar hell ausgeleuchtet – es spricht aber wenig dafür, dass wir den Schlüssel zur Vermeidung zukünftiger Zivilisationsbrüche finden, wenn wir den Nationalsozialismus absuchen. Noch einmal: Ihn zu vergegenwärtigen, ist notwendig und wichtig – und zwar im Interesse unseres moralischen Empfindungsvermögens. Allein deswegen, ohne dass davon eine Botschaft an uns als Akteure von heute ausginge. Vielleicht haben wir Glück und die deutsche Beschäftigung mit dem deutschen Zivilisationsbruch hilft uns, Zivilisationsgefahren zu erkennen, gar zu meistern. Aber eine Garantie gibt es dafür nicht. Mehr und noch mehr und noch einmal mehr an Gedenkkultur bringt uns da keinen Schritt voran.

Geschichte ist nur im Rückblick „erklärbar“

Aus einem einfachen Grund: Geschichte ist Ereignis. Ein Ereignis zeichnet sich dadurch aus, dass es geschieht, dass es passiert, dass es in aller Regel nicht zu erwarten ist. Wir können so viele Blicke auf vergangene Ereignisse werfen, wie wir mögen; das erhöht keineswegs die Wahrscheinlichkeit, dass wir Ereignisse, die gerade im Kommen oder im Gange sind, besser erkennen oder entschlüsseln können.

Der antiken Geschichtsschreibung in der Tradition Herodots war das ganz geläufig. Hier gab es kein Ziel, keine Richtung der Geschichte, im Grunde auch keinen Fortschritt. Geschichte geschah. Es war faszinierend und auch auf eine Weise lehrreich, von den Taten und Untaten vergangener Generationen, von Helden und Schurken zu erfahren. Aber niemand wäre auf die Idee gekommen, diese Beschäftigung mit den Ahnen könne eine Anleitung zum besseren Bestehen der Gegenwart hergeben. Auch deswegen nicht, weil Geschichte nur im Rückblick Konsequenz, Folgerichtigkeit haben und damit „erklärbar“ werden kann. Ist sie noch im Gang, bewegt sie sich ununterbrochen von Weggabelung zu Weggabelung. Und an jeder von ihnen hätte es anders kommen können, als es dann gekommen ist.

Nur eine Kleinigkeit, und Napoleon hätte die Schlacht von Waterloo gewonnen. Hätte sich Hitler am 8. November 1939, wie eigentlich geplant, nur 13 Minuten länger im Münchner Bürgerbräukeller aufgehalten, dann hätte Georg Elsers Bombe womöglich den Zweiten Weltkrieg und die Schoah verhindert. Oder: Hätte Deutschland Lenin nicht freies Geleit nach Petersburg gegeben, wären den Russen und der Welt vielleicht die Oktoberrevolution und 70 Jahre Sowjetreich erspart geblieben und so weiter und so fort.

Dass ein entwickeltes Geschichtsbewusstsein und eine anspruchsvolle Gedenkkultur nicht helfen müssen, für gegenwärtige Herausforderungen gewappnet zu sein, ist derzeit gut zu beobachten. Dem Historiker Karl Schlögel kann man gewiss nicht vorwerfen, er habe keinen Sinn für Geschichtsbrüche und er glaube, die Zivilität von Europas Nachkriegsgeschichte sei unwiderruflich gesichert. Und doch scheint auch er, der Kenner Russlands und Mitteleuropas, geglaubt, zumindest gehofft zu haben, mit dem wundergleich friedlichen Ende der Sowjetunion hätten wir das Schlimmste hinter uns gelassen und die bindende Kraft von Verträgen werde auf Dauer die Gewaltdrohung ersetzen, die in der Zeit des Kalten Krieges stets virulent war.

Wie Russland mit der Ukraine umspringen würde, das hatte er sich nicht vorstellen können, es war ein Schock für ihn. In dem Magazin Cicero schrieb er (mehr darüber werden wir aus seinem neuen Buch „Entscheidung in Kiew“ erfahren, das im Herbst erscheint): „Von diesem Schock sind besonders jene betroffen, die sich ein Lebtag lang mit Russland und der Verbesserung der Beziehung zwischen Deutschen und Russen befasst haben; es sind nicht wenige. Sie alle fragen sich, ob sie etwas überhört oder übersehen, sich selbst und anderen sogar etwas vorgemacht haben und sich jetzt ihr Scheitern eingestehen müssen.“

Es gab wohl keine Zeichen oder Signale, die übersehen werden konnten. Es war aber vielleicht ein Fehler, hoffnungsfroh zu glauben, die Rückkehr Ost- und Mitteleuropas in die Geschichte bedeute zugleich insofern deren Ende, als nun – zum Nutzen und Frommen aller in Ost wie West – das im Prinzip immerwährende Zeitalter der Herrschaft des Rechts angebrochen sei. Nachher ist man immer klüger, und so nehmen wir jetzt mit Erschrecken das eigentlich Selbstverständliche zur Kenntnis, das uns jeder Blick in die Geschichte welcher Epoche auch immer hätte lehren können: Regeln gelten so lange, bis einer daherkommt, der sich nicht an sie hält. Solch einer kann immer kommen, solch eine Konstellation kann immer entstehen, auch die hingebungsvollste Diplomatie eines Frank-Walter Steinmeier kann das nicht verhindern.

Verwunderlich ist vor allem unsere Verwunderung darüber. 25 Jahre Ende des Kommunismus, fast 70 Jahre Rechtsstaat in Deutschland, knapp 250 Jahre Demokratie in den Vereinigten Staaten: nur Wimpernschläge der Geschichte. Weil wir dazu neigten, das zu vergessen, stehen wir so ratlos vor Putins Rückkehr zur Geopolitik und seiner kühl kalkulierten und geschickt choreografierten Abkehr von der Politik der Übereinkunft. Putin hat uns gelehrt, dass das Nein, das sich auch durch die sanftesten Engelszungen der Diplomatie nicht in ein Ja überführen lässt, eine stets vorhandene Möglichkeit ist. Das spricht nicht gegen Verträge und Diplomatie, ganz im Gegenteil. Es spricht nur gegen den Glauben, Verträge und Diplomatie könnten Rechtsstaat und Demokratie auf immer weltweit wetterfest machen.

Von Problem zu Lösung zu Problem

Warum neigen wir zu diesem Glauben? Es hat, in Deutschland zumindest, viel mit der Europäischen Union zu tun. Sie wird, zum Schaden der EU, notorisch heilsgeschichtlich überhöht. Sie soll, wie in fast jeder Festrede zu hören ist, die Konsequenz sein, die wir ein für allemal aus der europäischen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts gezogen haben: die EU als Gefahren- und Geschichtsabwehr, als Bollwerk. Aus der Trümmerlandschaft ins Reich des immerwährenden europäischen Friedens – das soll der Weg des europäischen Vereinigungsprozesses sein. Die inhärente Logik würde demzufolge die Abkehr vom prinzipiell streitsüchtigen und gewaltheckenden Nationalstaat und das Aufgehen der einzelnen Staaten in einem übergeordneten Gebilde erfordern, das gewissermaßen ein Vorgriff auf Weltstaat und Weltregierung wäre.

Auch wenn etliche Manifeste aus der Zeit vor 1945 – etwa das schöne, von Altiero Spinelli inspirierte Manifest von Ventotene (1941) – diese Lesart nahe legen, in Wahrheit wäre der europäische Einigungsprozess heillos überfordert gewesen, hätte man ihn mit diesem geschichtsphilosophischen und teleologischen Drall in Gang gesetzt. Die EU verfolgt kein Heilsprogramm, sondern stolpert mehr oder minder geschickt von Problem zu Lösung zu Problem und abermals zur vorläufigen Lösung. Das ist ihre Stärke. Sie wäre dagegen vollkommen überfordert, würde man ihr die Mission andichten, sie müsse Europa und möglichst auch die ganze Welt vom Geist des Nationalsozialismus, des Totalitarismus insgesamt und damit von dem der Menschheitsgeschichte innewohnenden Gewaltpotenzial befreien. Die EU ist gut und nützlich, aber sie ist nicht der Phönix, der sich aus den Aschen des 20. Jahrhunderts erhoben hat. Kein Phönix nirgends, die Furien der Geschichte sind nie gebannt.

Weil nicht wenige Gutmeinende die EU als eine Maschine verstanden und verstehen, die zumindest den Kontinent dauerhaft von den Verhängnissen der Geschichte befreien würde, wurde das europäische Vereinigungsprojekt geschichtsteleologisch überfrachtet. Im politischen, von pragmatischem Fingerhakeln bestimmten Alltag wird das zwar beharrlich bestritten, ist aber dennoch – wie ein geheimes Schmiermittel – stets gegenwärtig. Die EU scheint nie nur das Naheliegende und Ratsame  zu sein, sie soll immer auch von einem geschichtsphilosophischen Überschuss leben. Sie soll das zivile Gewächs sein, das auf der Grabplatte erblüht, die den Nationalsozialismus und die gesamte europäische Gewaltgeschichte versiegelt. Diese – ex negativo erfolgende – Begründung der EU schneidet diese zugleich von den europäischen Vergangenheiten ab.

Es gibt ja eine lange vornationalstaatliche Geschichte Europas als Födera­tion, als lockeren, in staatsphilosophischen Begriffen kaum fassbaren und beschreibbaren Zusammenschluss: nicht Staat, sondern Bund. Eben dies setzt die EU im Grunde fort, vor allem in dieser Tradition steht sie. Es ist daher mehr als seltsam, dass im heutigen Europa-Diskurs der vergleichende Bezug auf ältere föderale und Reichstraditionen – Römisches Reich, Altes Reich, Habsburger Reich – fast ganz fehlt. Der Schlüssel wird da gesucht, wo es hell ist. Die Abkehr von den – gut ausgeleuchteten – Totalitarismen des 20. Jahrhunderts soll der Urgrund der EU sein. Das aber ist eine falsche, in die Irre führende und wenig anspruchsvolle Begründung. Wollten wir an dieser Stelle aus der Geschichte lernen, müssten wir die Selbstbezüglichkeit unseres Geschichtsbilds hinter uns lassen, in dem das Jahr 1933 die einzige Wasserscheide ist. Aus der Geschichte lernen heißt auch: Umwege gehen und Liegengebliebenes wieder aufnehmen.

Dass eine so prächtig entwickelte Gedenkkultur wie die deutsche keineswegs zum offenen Umgang mit Geschichte anregen muss, hat im Übrigen das vergangene Gedenkjahr für 1914 gezeigt. Zwar gedachte man allerorten des Beginns des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, und es erschienen zahlreiche neue und zum Teil überraschende Untersuchungen zum Thema. Doch einen Ertrag, einen Erkenntnisgewinn, ein Neudenken des scheinbar Bekannten hat es nicht gegeben. Am Ende setzte sich, im deutschsprachigen Raum zumindest, jene Orthodoxie durch, die Heinrich August Winkler gegen alle Neu­erkundungen am brüskesten in ihr altes Recht eingesetzt hat: die Orthodoxie, dass wir eigentlich schon alles wussten über den Großen Krieg und dass sich am Ende doch alles um die Schuldfrage dreht. Als der Große Krieg 1914 begann, standen die Staaten Europas vor einer blühenden Zukunft und es nahm ein Verhängnis seinen Lauf.

Der öffentliche Diskurs des vergangenen Jahres hat sich fast nur mit dem Verhängnis befasst. Eine Chance, den Blick zu weiten, wurde vertan. Vermutlich weil die Angst obsiegte, mit einem unvoreingenommenen, frischen Blick auf den Großen Krieg würden wir eine Vielzahl von Zufällen erkennen. Und diese Zufälle würden das Verhängnis relativieren und das eingeübte geschichtsphilosophische Bogenschlagen beschädigen.

Sich der Widerrufbarkeit stets bewusst bleiben

Es gibt eine Furcht, sich auf den Zufallscharakter und die Stummheit der Geschichte einzulassen. Hinter dieser Furcht stehen gute Gründe: Wir wollen uns mit der prinzipiellen Kontingenz von Geschichte nicht abfinden. Was nützt, könnte man fragen, die ganze Beschäftigung mit der Historie, wenn sie nur zum Delektieren oder Entsetzen oder zum schieren Betrachten gut ist? Als sinn­orientierte und zur Zukunftsplanung grundsätzlich fähige Wesen käme es den Menschen sehr gelegen, wenn jedes Ereignis der Geschichte Teil eines Verlaufs wäre, in dem – zur Not auch ex negativo – eine Richtung, ein Ziel erkennbar wäre. Das hat, zumindest in der christlich-jüdischen Tradition, einen aus dem Religiösen stammenden Grund.

Heilsgeschichte bedeutet auch: Geschichte verläuft nicht mehr zyklisch, zerfällt nicht mehr in rätselhafte und eigentlich bedeutungslose Einzelheiten. Sie hat vielmehr ein überirdisches Telos, das – so die Pointe des Christentums – auch das irdische Geschehen kräftig beeinflussen kann. Es zählt, stärker noch in der protestantischen Variante als in der katholischen, was hienieden geschieht, und der Mensch ist angehalten, das Seine gut und vernünftig zu tun. Geschichte könnte, so gesehen, ein Prozess der Akkumulation von Gelingen, Sinn und Kohärenz sein. Ist sie aber nicht, wie sie selbst nachdrücklich gezeigt hat.

Vielleicht lernt man dann am ehesten aus der Geschichte, wenn man so vorsichtig wie denkbar an der Möglichkeit des Fortschritts zwar festhält, sich der Kontingenz und der Widerrufbarkeit von allem und jedem aber stets bewusst bleibt. Das wäre letztlich ein viel anspruchsvolleres Programm als das, das unsere in sich selbst kreisende Gedenkkultur zu bieten hat, die nur gegen das Bekannte wappnet. Die gegenwärtige Weltlage, die von der Ukraine bis Libyen das Nein zum Vertragsdenken so eindrucksvoll in Stellung gebracht hat, bietet reichlich Anlass und Grund, damit schnell und entschlossen zu beginnen. Weil der Nationalsozialismus das absolut Böse war, konnte alles als gut erscheinen, was sich gegen ihn wandte.

 Die deutsche Beschäftigung mit der NS-Zeit beförderte auch ein moralisch aufgeladenes Schwarz-Weiß-Denken: hier die Guten, dort die Bösen. Es ist verständlich, dass es entstehen konnte, kommt es doch auch dem – im Kindlichen wurzelnden – menschlichen Bedürfnis nach Klarheit und Eindeutigkeit entgegen. Es hindert aber daran, komplizierte Wirklichkeiten zu verstehen. Wir hätten tatsächlich schon einiges aus der Geschichte gelernt, wenn wir uns etwa bemühten, den Ukraine-Russland-Antagonismus nicht mehr unter der Fragestellung zu betrachten, wer dabei die Guten und wer die Bösen sind. Der Verzicht darauf trainiert im Umgang mit Dilemmata.

Vielleicht wäre es schön, wenn die Menschheit die Fähigkeit besäße, einmal gemachte Erfahrungen zu verinnerlichen, in den genetischen Code zu integrieren und so einmal gemachte Fehler fürderhin zu vermeiden. Doch so ist es nicht. Die kollektiven Erfahrungen lagern sich nicht im Bewusstsein der Einzelnen ab. Der Mensch geht – nicht nur zu Unrecht – von der Voraussetzungslosigkeit seines Handelns aus. Er ist frei, sein Handeln ist nicht vorbestimmt, und er neigt – mehr unbewusst als bewusst – zu der Annahme, dass mit ihm die Welt beginnt. Er weiß, dass er in einer langen Kette steht, aber dieses Wissen ist in aller Regel nicht handlungsbestimmend. Jeder Mensch macht jede neue Erfahrung – bis hin zur letzten, dem Tod – zum ersten Mal. Dass andere sie auch schon gemacht haben, hilft ihm nicht. Deswegen ist es so ungeheuer schwer, aus der Geschichte zu lernen.

Dr. Thomas Schmid war bis Juni 2014 Herausgeber der Welt-Gruppe.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2015, S. 116-123

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