Unterm Radar

01. Mai 2020

Nicht ganz so eingefroren

Auch rund 30 Jahre nach seinem Beginn bleibt kaum Hoffnung auf eine rasche Lösung des Konflikts um Berg-Karabach, in dem nach wie vor aktiv gekämpft wird.

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Bild: Kriegsdenkmal in Martakert (Berg-Karabach)
Geschichte, die nicht vergehen will: Das Kriegsdenkmal in Martakert (Berg-Karabach) erinnert an eine Auseinandersetzung, die als der Urkonflikt beim Zerfall der Sowjetunion gilt und bis heute nicht beigelegt ist.
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Spätestens mit dem Schlag- abtausch zwischen Armeniens Premier Nikol Pashinyan und dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliew auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar wurde die Weltöffentlichkeit an einen fast schon vergessenen Konflikt im Südkaukasus erinnert: den Konflikt um Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan, der als der Urkonflikt beim Zerfall der Sowjetunion gilt.



Der älteste ungelöste Sezessionskonflikt im postsowjetischen Raum kostete in einem von 1991 bis 1994 erbittert geführten Krieg schätzungsweise bis zu 25 000 Menschen das Leben. Mehr als 700 000 Aserbaidschaner und über 400 000 Armenier flohen aus ihrer angestammten Heimat.



Das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Gebiet war im Rahmen des Sowjetföderalismus der aserbaidschanischen Sowjetrepublik zugeordnet worden. Der Wunsch nach einer Integration in ein unabhängiges Armenien mit dem Ende der Sowjetunion mündete in einen Krieg mit ethnischen Säuberungen auf beiden Seiten. Dabei brachte Armenien nicht nur Berg-Karabach unter seine Kontrolle, sondern auch sieben aserbaidschanische Gebiete, die außerhalb des umstrittenen Territoriums liegen.



Wie Kaschmir und Korea

Mit seinen 140 000 Einwohnern ist Berg-Karabach heute von keinem Land weltweit als eigenständiger Staat anerkannt; er bleibt von Armenien politisch, militärisch und finanziell abhängig. Während die armenische Seite sich auf das Recht auf Selbstbestimmung beruft, fordert Aserbaidschan sein Recht auf territoriale Integrität.



Zwar kam 1994 durch Vermittlung Russlands ein Waffenstillstandsabkommen zustande, dessen Einhaltung durch die 1992 gegründete Minsk-Gruppe der OSZE überwacht wird. Doch wirklich effektiv ist die Gruppe unter dem gemeinsamen Vorsitz von Frankreich, Russland und den USA dabei nicht. Die Folge ist kein eingefrorener, sondern ein aktiv bewaffneter Konflikt mit durchschnittlich 25 bis 30 Toten pro Jahr. Der Kaukasus-Experte Tom De Waal vergleicht Berg-Karabach mit Kaschmir und der Grenze zwischen Nord- und Südkorea und nennt ihn einen der gefährlichsten Orte der Welt.



Hinzu kommt, dass beide Länder sich auch mit Hilfe Russlands massiv hochgerüstet haben. Laut dem Globalen Militarisierungsindex des Bonn International Center for Conversion liegen beide Länder unter den Top 10 der am stärksten militarisierten Länder. 2018 belegte Armenien weltweit Platz 3 und Aserbaidschan Platz 10.



Während Aserbaidschan aus seinen Ressourceneinnahmen in Russland und Israel Waffen kauft, bekommt Armenien als Mitglied der von Russland geführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit Waffen zu vergünstigten Konditionen geliefert. Im Jahr 2018 gaben Armenien 4,8 Prozent und Aserbaidschan 3,8 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts fürs Militär aus.



Wie brisant die Lage nach wie vor ist, zeigte sich im April 2016, als es mit mehr als 90 Todesopfern zu den schwersten Gefechten seit dem Waffenstillstand 1994 kam. Aserbaidschan demonstrierte hier mit neuen Drohnen seine technologische Überlegenheit, was Armenien im Nachgang der Auseinandersetzungen auszugleichen versuchte.



Dass es dabei auf russische Unterstützung vertrauen konnte, hat mit der Strategie Moskaus zu tun: Man setzt in dem Konflikt auf ein militärisches Patt – und sorgt mit einer Militärbasis in der zweitgrößten Stadt Armeniens, Gyumri, dafür, dass es dabei bleibt. Und so war es die russische Führung, die bei der Eskalation 2016 ein Waffenstillstandsabkommen aushandelte. Im Gegensatz zu den anderen postsowjetischen Konfliktzonen (Georgien, Moldau, Ukraine) pflegt Moskau gute Beziehungen zu beiden Konfliktparteien.



Für Armenien hat der Konflikt zu erheblichen ökonomischen Kosten geführt – nicht nur durch Militärausgaben, sondern auch aufgrund der Isolation: Die Grenzen zu Aserbaidschan und der Türkei sind geschlossen. Ankara hat aus Solidarität mit Aserbaidschan 1993 seine Grenze zu Armenien abgeriegelt. Somit bleiben für die Versorgung und den Handel Armeniens nur der Iran und Georgien. Letzteres ist ein wichtiges Transitland für den Warenaustausch mit Russland, der allerdings mit dem georgisch-russischen Krieg 2008 und dem schwierigen Verhältnis zwischen Moskau und Tiflis zeitweise infrage stand.



Derweil üben die USA Druck auf die armenische Führung aus, sich ihrer Isolationspolitik gegenüber Teheran anzuschließen. Doch wie soll Jerewan dem Folge leisten? Für Armenien bleibt der Austausch von Atomstrom gegen Gas mit dem Iran die einzige Möglichkeit, um energiepolitisch nicht völlig von Russland abhängig zu sein.



Konflikt und Identität

Wie die mitunter skurril anmutende Geschichtsstunde der beiden Führungspersönlichkeiten Armeniens und Aserbaidschans auf der MSC gezeigt hat, ist die Mythologisierung des Konflikts zum Bestandteil des Nationbuildings beider Staaten geworden. Dabei vertritt jede Seite ihre eigene, einseitige Lesart der Ursachen und Wurzeln des Konflikts. Diese identitätsstiftende Erinnerungspolitik war es, die neben den Gräueln des Krieges Anfang der 1990er Jahre in beiden Ländern zu einem grundlegenden Mangel an Kompromissbereitschaft geführt hat.



Mit der Samtenen Revolution und dem demokratischen Regierungswechsel in Armenien 2018 keimten Hoffnungen auf, dass der neue, gewählte Premier den Anstoß für eine positive Entwicklung geben könnte. Anders als seine Vorgänger stammt Nikol Pashinyan nicht aus Berg-Karabach und war selbst nicht durch den Krieg geprägt.



Pashinyan traf Aliew mehrfach am Rande internationaler Gipfel. Seine ersten Statements zu Berg-Karabach („Kompromiss ist möglich“) ließen Hoffnung auf einen neuen Diskurs aufkommen. Beide Seiten fuhren für einige Zeit ihre aggressive Rhetorik runter; 2018/19 gab es die geringsten Todeszahlen an der Front. Eine Hotline zwischen hochrangigen Militärs wurde eingerichtet, ein Abkommen zur Deeskalation militärischer Aktivitäten an der gemeinsamen internationalen Grenze wurde geschlossen.



Und doch gibt es derzeit nur wenig Hoffnung auf substanzielle Verhandlungen um den künftigen Status von Berg-Karabach und die sieben von Armenien besetzten Gebiete. In diesen Territorien haben sich inzwischen armenische Bauern angesiedelt, und die dürften wohl kaum gewillt sein, ihr Land ohne Widerstand aufzugeben.



„Karabach ist Armenien“

Äußerungen Pashinyans zeigen, dass er zurzeit nicht bereit ist, politisches Kapital in eine grundlegende Revision der Berg-Karabach-Politik zu investieren. Bei einem Auftritt in Stepanakert, der Hauptstadt der Region, trat der armenische Premier für eine Vereinigung Berg-Karabachs mit Armenien ein und wurde mit den Worten zitiert: „Artsakh (Karabach auf Armenisch) ist Armenien, und das bleibt es.“



Pashinyan versucht derzeit, Wirtschaft und Politik in Armenien zu liberalisieren sowie Korruption zu bekämpfen. In dieser Phase möchte der Premier sich nicht angreifbar durch die alten Eliten machen. Da er nicht aus Berg-Karabach stammt, muss er immer wieder beweisen, dass er zur umstrittenen Region steht.



Insgesamt verfolgt die postrevolutionäre Regierung in Armenien beim Thema Karabach, wie bei vielen anderen Themen, keine kohärente Politik. So fanden am 31. März 2020 trotz massiver öffentlicher Kritik wegen der Corona-Pandemie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Berg-Karabach statt. Diese gelten als die freiesten Wahlen, die die Region seit ihrer Unabhängigkeitserklärung erlebt hat. Dabei hat der ehemalige Premierminister von Karabach, Arayik Harutyunyan, knapp die 50-Prozent-Marke verfehlt und muss als Präsidentschaftskandidat in eine zweite Runde gehen.



Mit ihm und seiner Partei sind es jedoch vor allem die alten, korrupten Eliten, die künftig weiter in der umstrittenen Region regieren werden. Somit hat zwar die Demokratisierung Armeniens mehr Wettbewerb ermöglicht, aber bisher nicht dazu geführt, dass die alten oligarchischen Strukturen sich verändert haben. Premier Pashinyan scheint nicht die Macht oder den Willen zu haben, das zu ändern.



Auch fast 30 Jahre nach dem Beginn des Krieges um Berg-Karabach bleibt wenig Hoffnung auf eine baldige Lösung des Konflikts. Nur ein Wandel der innenpolitischen Diskurse in Armenien und Aserbaidschan kann langfristig zu einer Lösung führen und zu einer Überwindung des Phänomens, das der US-Psychologe Martin E. P. Seligman einmal als „erlernte Hilflosigkeit“ bezeichnet hat. Dafür kann eine Demokratisierung Armeniens ein Baustein sein. Jedoch bedarf es auf beiden Seiten mutiger Akteure, die die historischen Narrative infrage stellen und alternative Lösungen anbieten.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2020, S. 10-12

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