Geologie und Geopolitik
Buchkritik
Ihr habt immer nur weggesehen: Energie als Idee und Strategie
Zwei Autoren wollen die Energiekrise abwenden: Hermann Scheer plädiert für Energieautonomie, Frank Umbach für Versorgungssicherheit.
Das Spiel ist eröffnet. Zu Jahresbeginn hat Russland der Ukraine den Gashahn abgestellt. Schnell war die Krise gelöst – vorerst. Russlands Variante der Energiekooperation entpuppt sich als nationalistische Machtpolitik. Dahinter glaubt man die Klage des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu vernehmen, die „größte Katastrophe“ des vergangenen Jahrhunderts sei der Untergang der Sowjetunion gewesen. Hinzu kommt die permanente Instabilität des Nahen und Mittleren Ostens. Das sind nur die in den Medien sichtbarsten Bedrohungen der globalen Energiesicherheit. Es lässt sich im Augenblick nur schwer verdrängen, dass Europas Energieversorgung alles andere als dauerhaft gesichert ist.
Der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe zufolge reichen die Ölreserven bei gleichbleibendem Verbrauch und ohne Neufunde noch für 40 Jahre aus, das Erdgas für 67 Jahre. Legt man die realistischeren Zahlen des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts zugrunde, die mit einem statistisch ermittelten steigenden Energieverbrauch rechnen, so reduziert sich die Verfügung über das Erdöl auf 22 Jahre, die Gasreserven werden noch 42 Jahre anhalten. Selbst das vorhandene Uran würde beim derzeitigen Stand der Technik kaum länger als 50 Jahre Energie spenden können. Grund genug, endlich die Abhängigkeit von fossilen und spaltbaren Energieträgern zu verringern. So fordert es der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer in seinem Buch „Energieautonomie“.
Scheer stellt die Schwächen des Kyoto-Protokolls bloß, das hierzulande von allen politischen Lagern gefeiert wird. Er hält den Emissionshandel für globale Heuchelei: „Die Gesellschaften der Welt befinden sich in dieser Beziehung noch in einem vorzivilisatorischen Stadium. Vermeidbare Emissionen zu tolerieren ist damit vergleichbar, jedem Einzelnen ausdrücklich zu erlauben, seinen Müll einfach auf die Straße oder seinen Nachbarn vor die Tür zu kippen. Es ist die Legitimierung asozialen Verhaltens.“
Was Scheer mit Energieautonomie meint, illustrieren seine Beispiele – etwa die komplette Stromversorgung von 300 000 Dorfbewohnern einer indischen Region durch solare Energieanlagen. Um dieses Ziel zu erreichen, stellt Scheer zehn Maximen des Energiewandels auf. Die „Wiedergewinnung geistiger Autonomie“ als Voraussetzung des politischen Handelns und die „Überwindung des Wissensdefizits“ leuchten auf Anhieb ein, auch die Forderung nach Entflechtung der Energiewirtschaft. Allerdings kollidieren andere Maximen miteinander – oder mit der Realität. Einerseits sind alle verantwortlich und lokale Initiativen erfolgreich, andererseits soll der Staat Planer, Vorreiter und Anreizgeber spielen. Die nationale Politik soll heimische Ressourcen bevorzugen – wie sich das mit den Mechanismen des Weltmarkts vereinbaren lässt, bleibt offen. Schließlich wird das Problem technischer Machbarkeit nicht genug erörtert. Vor allem fehlt jede Behandlung der geostrategischen Dimension.
Wie Geologie in Geopolitik umschlägt, wird überzeugend von Frank Umbach in seiner Studie über „Globale Energiesicherheit“ behandelt. Dieses Buch wird wohl noch für einige Zeit die maßgebliche Untersuchung der strategischen Aspekte von Energiepolitik bleiben. Wenn dieser Tage die vier Staaten der Visegrad-Gruppe – Polen, die Slowakei, die Tschechische Republik und Ungarn – als Entgegnung auf die bilaterale Energiepolitik zwischen Deutschland und Russland in Sachen Ostsee-Pipeline eine gemeinsame Energiepolitik der EU fordern, so folgen sie darin Umbach. Die Renationalisierung der russischen Energiewirtschaft unter Putin wurde von ihm so kenntnisreich wie vorausschauend beschrieben, und auch der russisch-ukrainische Energiekonflikt wurde in seiner Entstehung analysiert und in seinem weiteren Verlauf zutreffend prognostiziert.
Umbach stellt die Verwundbarkeit Europas fest, das seinen Energiebedarf zunehmend in Ländern stillt, die politisch und ökonomisch instabil sind. Europa fehlt noch das Bewusstsein, „dass jede ausreichend gesicherte, wirtschafts- und sozialverträgliche Energieversorgung unter zunehmender Berücksichtigung ökologischer Faktoren auch in der Zukunft von nationaler und regionaler politischer Stabilität abhängig sein wird und daher ordnungs- sowie sicherheitspolitische Rahmenbedingungen auch unter Kriterien der Nachhaltigkeit für künftige Generationen stets beachtet werden müssen“.
Am einschneidendsten für die globale Energiesicherheit ist die Verschiebung des wirtschaftlichen Gravitationszentrums nach Asien. Das größte Problem stellt China dar – auch wegen der unberechenbaren Natur seines politisch-ideologischen Systems. Umbach beschreibt und begrüßt die chinesischen Bemühungen um Liberalisierung seiner Energiepolitik und Diversifizierung seiner Energieimporte. „Je sicherer sich China bei der Lösung seiner Energieprobleme fühlt, um so sicherer werden auch seine Nachbarstaaten und der Rest der Welt sein“, so Umbach, der Chinas Einbindung in die Weltwirtschaft und internationale Arbeitsteilung empfiehlt.
Diversifizierung ist das Schlüsselwort – Afrika und besonders Zentralasien bieten sich als Öl- und Gasexporteure für Europa an. Über Georgien verbinden mittlerweile drei Pipelines den Westen mit dem Kaspischen Raum, ohne russisches Territorium zu berühren. So kann sich Europa aus der Abhängigkeit von Russland und Mittelost befreien. Der „strategische Partner“ Russland verfolgt ohnehin langfristig andere Ziele, wie Umbach zeigt und bei den jüngsten Verhandlungen um das iranische Nuklearprogramm immer wieder deutlich wurde. Umbachs Forderung nach einer europäischen Energiestrategie bleibt aktuell. Dazu rechnet er neben der Diversifizierung der Importe die staatliche Förderung erneuerbarer Energien. Selbst der Ausstieg aus der Atomenergie ist längst nicht europäischer Konsens – je bedrohlicher der Gasriese Russland erscheint, desto intensiver wird über neue Kernkraftwerke nachgedacht.
Anders als Scheer, der zwischen der Energieautonomie „von unten“ und staatlicher Intervention schwankt, stellt Umbach die wahren Vorreiter der „Energiewende“ vor: Der freie Markt verhindert politische Erpressung, und die globalen Energieriesen wirtschaften aus Eigeninteresse selbst zunehmend nachhaltig. Multinationale Konzerne stimmen ihre Strategien auf die ökologischen, außen- und sicherheitspolitischen Notwendigkeiten ab, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Symbolisch steht dafür das 2000 geänderte Logo von BP: Aus British Petroleum wurde Beyond Petroleum.
Hermann Scheer: Energieautonomie. Eine neue Politik für erneuerbare Energien. Verlag Antje Kunstmann, München 2005. 320 Seiten, € 19,90.
Frank Umbach: Globale Energiesicherheit. Strategische Herausforderungen für die europäische und deutsche Außenpolitik. R. Oldenbourg Verlag, München 2003. 328 Seiten, € 44,80.
TIM B. MÜLLER, geb. 1978, Redakteur der IP, ist Historiker und schreibt regelmäßig für die Süddeutsche Zeitung.
Internationale Politik 2, Februar 2006, S. 131 - 132