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01. Nov. 2019

Gekommen, um zu bleiben

Mit ihrer Offensive in Nordsyrien verfolgt die Türkei auch legitime Sicherheitsinteresen. Doch die Gewalt wird zu neuer Gewalt führen.

„Wir werden die Gebiete östlich des Euphrats mit Fontänen des Friedens begießen“, kündigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Anfang Oktober mit Blick auf die geplante Offensive im Nordosten Syriens an. Wenige Tage später macht die Türkei ernst. Eine Koalition regulärer Truppen und in Syriens Nordwesten ansässiger bewaffneter Oppositionsgruppen überquerte an mindestens drei Stellen die türkisch-­syrische Grenze und stieß in den von den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) kontrollierten Nordosten des Landes vor. Das erklärte Ziel: die Schaffung einer „­Sicherheitszone“, die sich entlang der Grenze 32 Kilometer ins Landesinnere erstrecken soll.

Durch die Zone sollen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) zurückgedrängt werden; zusätzlich soll Raum für mindestens eine Million geflüchteter Syrerinnen und Syrer aus der Türkei entstehen. Die rund drei Millionen syrischen Flüchtlinge werden für die Regierung in Ankara mehr und mehr zum Problem. Die Wut von Teilen der Bevölkerung auf die „Dauergäste“ hat sich bereits in Gewalt entladen. Erdoğans Popularität hängt nicht zuletzt davon ab, ob er eine Lösung dafür anbieten kann.

Angelehnt an Erdoğans Ankündigung heißt die Offensive „Fontäne des Friedens“. Nach Operation „Euphrat-Schild“ im Herbst 2016, in deren Rahmen türkische Truppen in den Norden der Provinz Aleppo vorstießen, sowie der rund zwei Jahre später erfolgten Operation „Olivenzweig“ in der Region um Afrin haben die euphemistischen Betitelungen türkischer Militärinterventionen in Syrien offenbar ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht.



Offensive mit Ansage

Seit Jahren hatte die Regierung in Ankara damit gedroht, militärisch gegen die YPG östlich des Euphrats vorzugehen. Das Argument lautete stets, die Kontrolle der YPG über den Nordosten Syriens bedrohe die nationale Sicherheit des türkischen Staates. Letztlich seien die SDF bloß ein Deckmantel für die YPG, die wiederum ein Teil der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sei, mit der sich der türkische Staat in einem bewaffneten Konflikt befindet.

Von der Hand zu ­weisen ist das nicht. Denn die YPG ist die dominierende Kraft innerhalb der SDF, die auch assyrische, arabische und turkmenische Einheiten in ihren Reihen zählen. Ebenso wenig besteht Zweifel an der Verbindung zwischen YPG und PKK. Zahlreiche Führungspersönlichkeiten der YPG gehören zu den alten Kadern der in Europa und den USA als Terrororganisation eingestuften Bewegung. Abbildungen von PKK-Anführer Abdullah Öcalan zieren Büros, öffentliche Plätze und Schulbücher der sogenannten kurdischen Selbstverwaltung.

Gegenstimmen argumentieren, dass von den Gebieten der Selbstverwaltung keine Angriffe auf türkischen Boden ausgingen. Von einer Bedrohung könne deshalb keine Rede sein. Doch es ist genau diese Ignoranz gegenüber der türkischen Perspektive, die seit Beginn des rasanten Machtzuwachses der YPG und ihres politischen Armes, der Partei der Demokratischen Union (PYD), zu einem unüberwindbaren Konflikt führte und in der Großoffensive mündete. Bis zuletzt beharrten die USA auf der Idee, die türkischen Sicherheitsbedenken durch eine schmale Pufferzone entlang der Grenze befriedigen zu können. Dass die „lokalen“ Kräfte, die dort anstelle der SDF Position beziehen sollten, sich in YPG-Uniformen vor Bildern Öcalans präsentierten, zeigt das maximale Auseinanderdriften der Vorstellungen zwischen der Türkei und den USA über den Sicherheitsmechanismus, der für Deeskalation sorgen sollte.

Für die Türkei geht es schlicht um das Gefahrenpotenzial, das von einem von der YPG kontrollierten Gebiet derartigen Ausmaßes ausgeht. Denn der bewaffnete Konflikt mit der PKK dauert bis heute an. Ein potenziell sicherer Rückzugsraum für die PKK in Syrien kombiniert mit andauernden Waffenlieferungen der USA an die YPG war aus türkischer Perspektive nicht tolerierbar. Schon einmal, Mitte der 1980er Jahre, hatte Hafez al-Assad, Vater des amtierenden syrischen Präsidenten, der PKK eine sicheren Rückzugsraum in Syrien geboten. Und bereits damals eskalierten die Spannungen deshalb in einer Kriegsdrohung der Türkei, woraufhin die Regierung in Damaskus Öcalan des Landes verwies. 1998 endete dieser Konflikt mit dem Abkommen von Adana, dessen Anhang der Türkei das Recht einräumt, alle „nötigen Sicherheitsmaßnahmen“ bis zu fünf Kilometer tief in syrisches Territorium zu ergreifen, falls die syrische Seite die Aktivitäten der PKK nicht unterbindet. Die aktuellen Pläne der Türkei orientieren sich an diesen rund 20 Jahre alten Vereinbarungen.



Verfehlte US-Politik

Vor diesem Hintergrund ist die Krise nicht zuletzt das unweigerliche Ergebnis von Jahren verfehlter US-Politik, die vergeblich versucht hat, ihre Intervention in Syrien losgelöst vom Gesamtkonflikt und ausschließlich als Operation gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) zu gestalten – und dabei den unausweichlichen Konflikt mit dem NATO-Partner Türkei zu ignorieren.

Im Kampf gegen den IS haben sich die SDF als verlässlicher Partner erwiesen. Mit US-Unterstützung hat die Koalition den IS sukzessive aus dem Nordosten Syriens gedrängt. Im März dieses Jahres eroberten sie schließlich das Gebiet um Baghuz, die letzte Bastion der Dschihadisten östlich des Euphrats nahe der Grenze zum Irak. Mindestens 10 000 Kämpferinnen und Kämpfer der SDF sind in den vergangenen Jahren gefallen. Und trotz – oder wegen – ihrer autoritären Führung hat die Selbstverwaltung in den vom IS eroberten Gebieten relative Sicherheit und Ruhe herstellen können.

Der Einmarsch der Türkei und der Abzug der USA mischen die Karten neu. Die Türkei hat ihre Fühler im Vorfeld von Operation „Fontäne des Friedens“ in Richtung arabischer Stämme in Nordost-Syrien ausgestreckt. Die stille Opposition

gegenüber der YPG könnte nun laut werden, Opportunisten könnten das Zweckbündnis verlassen.



Von Widerstand zur Abhängigkeit

Die Strategie der Türkei spiegelt sich auch in der Wahl der bewaffneten Oppositionsgruppen wider, die den Angriff an vorderster Front führen; darunter Ahrar al-Sharqiya, deren Mitglieder großteils aus dem Nordosten Syriens stammen und nun, der türkischen Propaganda folgend, an ihren rechtmäßigen Platz zurückkehren. Ahrar al-Sharqiya ist eine von zahlreichen Gruppen, die aufseiten der Türkei kämpfen. ­Bereits in den zwei zuvor erfolgten Offensiven in Syrien hat Ankara auf Bündnisse mit arabischen Oppositionellen gesetzt. Kurz vor Beginn von Operation „Fontäne des Friedens“ hat die Türkei den politischen Anspruch dieser Gruppen noch einmal gestärkt: Am 4. Oktober erklärte die National Liberation Front (NLF), eine im Nordwesten Syriens ansässige Dachorganisation bewaffneter Oppositionsgruppen, ihre Vereinigung mit der Syrian National Army (SNA). Zwar erhielt die NLF bereits Unterstützung von der Türkei, ist als Teil der SNA jedoch noch enger in die türkischen Befehlsstrukturen eingebunden. Gemäß Angaben der SNA folgen nun knapp 100 000 Mann dem Befehl des „Verteidigungsministeriums“ der syrischen Übergangsregierung, die ihren Sitz in Nord-Aleppo und der Türkei hat. Letztlich aber hat die Türkei das Sagen.

 

Ein günstiger Zeitpunkt

Mangels Luftwaffe und geeigneter Luftabwehr sind die SDF dem türkischen Militär hoffnungslos unterlegen. Der PYD/YPG, die ihre Kooperation mit der Assad-Regierung nie aufgegeben hat, blieb nur der Schulterschluss mit Damaskus. Entsprechende Verhandlungen liefen seit Monaten, scheiterten aber bisher an den Forderungen nach einem föderalen System, das die Assad-Regierung kategorisch ablehnte. Angesichts des US-Abzugs musste sich der PYD/YPG nun den Bedingungen der Assad-Regierung beugen, mit ungewissen Folgen.

Der Zeitpunkt könnte für die Assad-Regierung nicht günstiger sein und legt eine türkisch-russische Verständigung über den Beginn der Operation nahe. Jüngst haben nämlich Russland, Iran und die Türkei ein neues Kapitel des von ihnen konzertierten Astana-Prozesses aufgeschlagen: Am 22. September erklärte UN-Generalsekretär António Guterres, dass die Verhandlungen über das von den UN unterstützte Verfassungskomitee abgeschlossen seien. 150 Delegierte, darunter Vertreter der Opposition, der Assad-Regierung und sogenannte Neu­trale, sollen die syrische Verfassung überarbeiten.

Dieser Prozess ist nicht mehr als ein Schatten des politischen Transformationsprozesses, der 2015 im Rahmen von UN-Resolution 2254 beschlossen worden war. Dennoch dient er den Astana-Mächten als Rahmen, das vermeintliche Ende des Krieges mit einem öffentlichkeitswirksamen politischen Anstrich zu versehen. Die SDF sind auf Druck der Assad-Regierung und der Türkei vom Verfassungskomitee ausgeschlossen, obwohl die Koalition rund ein Drittel Syriens kontrolliert(e). So gesehen ist es unwahrscheinlich, dass der Zeitpunkt der Marginalisierung der SDF zufällig ist. Und auch wenn die Assad-Regierung nun vermutlich einen Verlust von Territorium hinnehmen muss, profitiert sie von der politischen Konsolidierung, auf die sich die Astana-Mächte geeinigt zu haben scheinen.



Luftschloss Selbstverwaltung

Die USA verhalten sich bei all dem eher reaktiv, Washington verfolgt keine erkennbare Strategie. Das taktische Bündnis mit den SDF scheint zumindest passé. Dessen Aufrechterhaltung hatten die USA allerdings auch nie in Aussicht gestellt. Und obwohl die Koalition den IS effektiv zurückdrängte, waren die Aussichten auf eine langfristig erfolgreiche Strategie gegen die Dschihadisten stets trübe. Zehntausende IS-Kämpfer und deren Familien sind in Lagern in Nordost-Syrien untergebracht. Den SDF fehlen die Ressourcen, um diese Menschen zu versorgen, geschweige denn, ihre Rückkehr in die Gesellschaft zu ermöglichen. Eine Verbesserung ist nicht absehbar, denn die Assad-Regierung limitiert geschickt den Zugang humanitärer Hilfe in die Region.

Auch wenn die USA mit den SDF erkennbare Fortschritte hinsichtlich des Kampfes gegen den IS und für die politische Entwicklung der Region erzielt haben, verhindern interne wie externe Konflikte eine langfristige Konsolidierung des Gebiets. So gesehen profitiert der IS zwar von dem neu entfachten Chaos, ohnehin stand die Stabilität – und damit einhergehende Anti-Terror-Kapazitäten – der Selbstverwaltung aber auf tönernen Füßen.

Noch sind die Auswirkungen von Operation „Fontäne des Friedens“ nicht gänzlich abzusehen. Doch eines scheint bereits sicher: Die Türkei ist gekommen, um zu bleiben. Ähnlich wie in Nord-Aleppo, wo die Türkei Postfilialen, Krankenhäuser, ein Wärmekraftwerk und sogar Hochschulfakultäten unterhält, geht es um den Aufbau von langandauernder Kontrolle. All dem wohnt eine unbeschreibliche Tragik traumatisierter Menschen auf Seiten aller Konfliktparteien inne, die Schreckliches erlitten haben, bevor sie selbst zu Tätern wurden. Dieser Teufelskreis bekommt nun weiteren Schwung und garantiert das Fortbestehen von Gewalt und Gegengewalt auf unbestimmte Zeit.

Lars Hauch schreibt als freier Journalist über Sicherheitspolitik und Islamismus im Mittleren Osten. Er ist spezialisiert auf Syrien.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2019, S. 52-55

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