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01. Apr. 2008

Gegengifte zur Verschweizerung

Buchkritik

Der ehemalige französische Premier Balladur und Exaußenminister Védrine malten kürzlich das Gespenst einer wirtschaftlich leidlich prosperierenden, aber weltpolitisch recht ehrgeizlosen Europäischen Union an die Wand. Droht Europa die Verschweizerung? Vier Neuerscheinungen zu dieser und anderen europäischen Kernfragen.

Wie könnte ein Gegengift zur Verschweizerung Europas aussehen? Stephan Bierling, Politikwissenschaftler in Regensburg, empfiehlt in seinem temperamentvollen Essay die „Huckepack-Strategie“: Europas Einfluss auf globale Entwicklungen könne „nur durch eine Juniorpartnerschaft mit der Supermacht USA gestärkt werden. Andere Optionen werden Europas Bedeutungsverlust in der Welt-politik nicht aufhalten können.“

Daran ist nichts falsch, und trotzdem ist das Bild nicht ganz stimmig. Denn Bierling überschätzt die Bedeutung der Vereinigten Staaten: „Trotz ihrer Selbstschwächung durch den Irakkrieg werden die USA ihren besonderen Status als Primus inter Pares in der Welt auch mittel- und langfristig behalten. Zwar können sie ihren Willen nicht immer durchsetzen, aber gegen sie gerichtete Initiativen oder Koalitionen haben kaum Erfolgsaussichten“, schreibt Bierling.

Hinter jenem „Zwar“ verbirgt sich indes mehr als nur der Fehler des Irak-Krieges. Zwei Beispiele: Die Europäische Kommission verhängt Millionenbußen gegen Microsoft oder untersagt Fusionen amerikanischer Firmen. Ein unerhörter Vorgang? Mitnichten, denn die rechtsetzende Macht der europäischen Politik bleibt in Washington weitgehend unwidersprochen. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag arbeitet ohne amerikanischen Segen, findet aber jenseits des Atlantiks in den Medien längst den gebührenden Respekt. Ist das wirklich nur Soft Power – wo doch die Hard Power vor aller Augen und trotz bester Absichten im Irak wie in Afghanistan nicht ans Ziel kommt? Wir leben, wie Bierling an anderer Stelle beschreibt, in einer Welt voller Herausforderungen, deren Lösung – wie bisher – politischen Willen voraussetzt, vor allem aber – anders als früher – strategisches Verhandeln erfordert. Was nicht unbedingt eine amerikanische Stärke ist, jedenfalls nicht während der Bush-Ära. Machtpolitik muss darum heute anders buchstabiert werden als Bierling dies in klassischer Manier tut.

Doch was hilft das, und verbessert es tatsächlich Europas Selbstbehauptung in einer multipolaren Welt, ja, verbessert es diese Welt? Eine Antwort gibt Erhard Busek, einst österreichischer Vizekanzler und bis vor kurzem Sonderkoordinator des Stabilitätspakts für Südosteuropa, in seinem erfahrungsgesättigten Essay „Zu wenig, zu spät“. Es hat seinen Reiz, Bierlings Büchlein und Buseks Essay miteinander zu vergleichen. Das Werk eines professionellen Beobachters der Politik und das Werk eines belesenen Praktikers. „Europa ist als Krisenmanager gefragt, engagiert sich auch, lässt aber jene Entschlossenheit vermissen, die andere Mächte aufgrund ihrer inneren Verfassung (USA) oder ihres Autoritarismus (Russland) bekunden“, schreibt Busek: „Die innere Verfasstheit der Europäischen Union ist mit den neuen Wirklichkeiten nicht mitgewachsen – noch nicht. Selbstverständlich braucht das Zeit! Die Frage ist, ob wir sie haben.“ Und man möchte rufen: Nein, wir haben sie nicht, der Mann hat ja so Recht.

Auch das freilich trifft die Lage nur zum Teil. Denn haben andere ihre Zeit denn besser genutzt, in Tschetschenien, in Tibet, im Nahen Osten? Haben wir es nur mit europäischer Machtschwäche zu tun – oder entziehen sich die Herausforderungen des frühen 21. Jahrhunderts womöglich der klassischen Antwort einer Machtprojektion? Ein „preemptive strike“ ist gegen lose vernetzte, orts- und gesichtslose Terroristen nun einmal nicht zu führen. Selbst das geheimdienstliche Ausspähen und Töten führt nicht zum Ergebnis, wie die Mächtigen vom kolumbianischen Urwald bis zum kaukasischen Bergland erfahren mussten.

Der Einwand bedeutet gewiss keine Einladung zu Nichtstun und Resignation. Denn die Europäische Union versteht sich ja, belehrt durch die Schmach der Balkan-Kriege in den neunziger Jahren, zusehends als globaler Akteur, von Haiti über den Kongo und den Libanon bis nach Ost-Timor. Sie sieht sich dabei in bewusster Differenz zur eigenen Kolonialvergangenheit als ehrlicher Krisenmanager in Friedensmissionen, selbst wenn sie Waffen einsetzen muss. Und tut sich dabei unendlich schwer – siehe Afghanistan.

Europa will, kann aber nicht, wie es will: Das ist die eine Erklärung seiner weltpolitischen Schwäche. Die Ursachen kann man wie Bierling und mitunter auch Busek im mangelnden politischen Willen suchen. Oder doch eher wie der Erlanger Politikwissenschaftler Stefan Fröhlich im falschen Maßstab. Mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) hätten die Mitgliedsstaaten, so Fröhlich, einen „pragmatischen Ansatz“ gewählt und „die Existenz divergierender Vorstellungen über die Weiterentwicklung und Finalität einer gemeinsamen europäischen Stimme in Kauf“ genommen. Deshalb könne man „im Falle der europäischen Außenpolitik auch nicht den Maßstab staatlichen Handelns“ anlegen. Der richtige Maßstab vergibt also an europäische Machtpolitik andere Noten.

Fröhlich argumentiert hier mit dem Mehrebenen-System der Union, was in der politischen Praxis etwas ganz anderes bedeutet als das Tun und Wirken eines Staates, Bundesstaats oder Staatenbunds. Der „Gestaltungsanspruch“ sei (nur) das eine Element der GASP: „Sie ist aber gleichzeitig als Ergänzung zu den traditionellen Bereichen gemeinschaftlicher Außenwirtschafts-, Assoziierungs- und Entwicklungspolitik zu betrachten.“ Konsequent und durchaus anregend setzt Fröhlich darum an den Anfang seiner Studie nicht klassische, militärische Machtpolitik, sondern den Welthandel, die Entwicklungspolitik, den Euro und die Rolle der EU in internationalen Finanzorganisationen. Daraus wird kein Plädoyer auf mildernde Umstände. Fröhlich sieht sehr wohl, dass „aufgrund der ökonomischen Kräfteverschiebung zugunsten neuer und wieder erstarkter globaler Akteure wie China, Indien, Brasilien oder Russland sowie der demographischen Entwicklung gerade in Europa“ die Führungsrolle des Westens obsolet wird, zumindest in Teilen. Aber er bleibt bei der Klage um verblichene Größe nicht stehen, sondern sucht nach einer „zeitgemäßen Definition von Souveränität im Sinne der Fähigkeit, so effizient wie irgend möglich Ergebnisse mit anderen Akteuren zu erzielen“.

Überspitzt gesagt: Macht bemisst sich heute nicht nach der Kraft zum harten Eingriff, sondern nach der Geduld im Verhandeln und Überzeugen. Eine Übung, die die EU im eigenen Haus tagtäglich absolviert, nicht immer übermäßig elegant, aber doch mit einer einzigartigen Beharrlichkeit. Das ist souveränes und gemeinsames Handeln. Den Gedanken einer Juniorpartnerschaft allerdings schließt dieses Vorgehen im europäischen Haus ebenso aus wie innerhalb der transatlantischen Partnerschaft. Und die Gefahr der Verschweizerung auch.

Europas künftige Politik verlagere sich auf die „Selbstbehauptung Europas in der Welt“, erklärte unlängst Klaus Hänsch, der frühere Präsident des Europäischen Parlaments. Dazu sollte man wissen, was sich da behaupten soll – und wie. Und was dieses „Selbst“ nun eigentlich meint. Genau bei diesen Fragen setzen die deutschen und französischen Betrachtungen zur Zukunft der Europäischen Union an, welche die Herausgeber Martin Koopmann und Stephan Martens unter dem messianisch angehauchten Titel „Das kommende Europa“ präsentieren. Im Detail geht der Band dann ganz bodenständig vom Bestehenden aus, da wird ein wenig zurück- und viel nach vorn geschaut, nach der künftigen Handels- oder Nachbarschaftspolitik der EU ebenso gefragt wie nach der unvollendeten Parlamentarisierung oder den Chancen für einen Neuanfang deutsch-französischer Zusammenarbeit in der Europa-Politik. Das ist der rote Faden der zwei Dutzend Beiträge.

Sabine von Oppeln etwa bekommt in ihrem Aufsatz über „Das Europäische Sozialmodell“ jenen Teil des Ganzen zu fassen, der in den kommenden Jahren über Wohl(-stand) und Weh(-geschrei) in der Union entscheiden wird. Die Sozialpolitik habe sich, so schreibt von Oppeln, „von einem Accessoire der europäischen Zusammenarbeit zu einem Kernbestandteil“ entwickelt. Und das eher auf pragmatische Weise denn auf programmatischem Wege. Die Autorin beschreibt treffend, wie sehr dieser Fortschritt über die Jahrzehnte hinweg eher tapsend denn tänzelnd stets ein, zwei Bewegungen nach vorn machte, um dann wieder zaudernd auf der Stelle zu treten.

Der Erfolg dieses Modells, so von Oppeln, müsse sich erst noch erweisen. Stimmt, und beschreibt doch nicht die ganze Herausforderung: Denn wenn vom niederländischen und französischen Nein zum Verfassungsvertrag, wenn vom europaweiten Streit um die Dienstleistungsrichtlinie eine Botschaft ausging, dann wohl doch der Ruf, dieses Sozialmodell auszubauen und zu verteidigen. Überspitzt gesagt: Das kommende Europa muss sozial sein, sonst wird es einen schweren Stand haben. Laurent Bouvet stellt in seinen Überlegungen zum Solidaritätsprinzip in der EU die entscheidende Frage: „Nationale oder europäische Solidarität?“ Solidarität habe die Gemeinschaft, so Bouvet, eher funktionalistisch entwickelt. Er bleibt skeptisch gegenüber der Chance eines europäischen Gemeinsinns – und schließt auf sehr französische Weise mit einem langen Delors-Zitat, das dessen Unglauben in die Gleichzeitigkeit von Erweiterung und Föderierung der europäischen Nationen dokumentiert.

Aber liegt das Problem tatsächlich im alten Dilemma von Erweitern und Vertiefen? Solidarität und Gemeinsinn werden den Europäern auch bei internationalen Militäreinsätzen abverlangt. Krisen- und Konfliktprävention verlangt dabei einerseits „einiges an politischem Willen“, wie Ronja Kempin richtig feststellt. Aber eben auch eine zumindest stillschweigende Billigung durch den Bürger.

Ob im Umgang mit der sozialen Frage oder mit den nächsten Nachbarn, denen es ja in aller Regel wirtschaftlich nicht übermäßig gut geht, stets ist die entstehende, aber eben noch längst nicht entwickelte Solidarität das Schlüsselelement auf dem Weg ins kommende Europa. Ein Wir-Gefühl, das auf alle Fälle komplexer sein wird als das nationale oder regionale Wir-Gefühl, denn europäische Identität muss die nationale einschließen und nicht etwa im Hegelschen Sinne aufheben. Man darf den lesenswerten Sammelband ruhig unter diesem Blickwinkel lesen: Ohne Solidarität wird die Selbstbehauptung Europas schwächeln.

Stephan Bierling: Die Huckepack-Strategie. Europa muss die USA einspannen. Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2007, 110 Seiten, 10,00 €

Erhard Busek: Zu wenig, zu spät. Europa braucht ein besseres Krisenmanagement. Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2007, 84 Seiten, 10,00 €

Stefan Fröhlich: Die Europäische Union als globaler Akteur. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, 305 Seiten, 24,90 €

Martin Koopmann und Stephan Martens (Hg.):Das kommende Europa. Deutsche und französische Betrachtungen zur Zukunft der Europäischen Union. Baden-Baden: Nomos 2008, 398 Seiten, 49,00 €

JOACHIM FRITZ-VANNAHME, geb. 1955, leitet den Projektbereich Europa der Bertelsmann Stiftung. Zuvor war er als Europa-Korrespondent für die ZEIT in Brüssel.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2008, S. 132 - 136

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