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01. Jan. 2009

Ansichtssache Europa

Buchkritik

Zur Politikanalyse gehört gemeinhin eine gehörige Portion Psychologie. Nicht anders im Falle der EU: Fremd- und Selbstbilder bestimmen ihre inneren Auseinandersetzungen und spielen auch im Verhältnis zu Ländern wie China oder der Türkei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Vier Neuerscheinungen zu Fakten und Fiktionen.

Marion Gräfin Dönhoff, die 2002 verstorbene, große Zeit-Journalistin, wies jüngere Kollegen gelegentlich auf eine Eigenart des Politischen hin: Die Wahrnehmung der Fakten sei mindestens so ernst zu nehmen wie die Fakten selbst. Den hier besprochenen Büchern ist gemeinsam, dass sie allesamt Europa nicht allein als handelnden, sondern auch als wahrgenommenen Akteur zeigen. Sie tun dies nicht unbedingt bewusst, aber doch mit erstaunlicher Hartnäckigkeit.

Nehmen wir, um in der Ferne zu beginnen, zunächst den Essay von Charles Grant und Katinka Barysch „Can Europe and China Shape a New World Order?“. Die beiden Autoren vom angesehenen Londoner Centre for European Reform nennen diese gut hundert Seiten ein „Pamphlet“, doch ihre Antwort ist weniger Streitschrift denn dichte und gründliche Analyse. Ausgangspunkt von Grant und Barysch ist eine sehr europäische Idee: Sollte es der Europäischen Union gelingen, China davon zu überzeugen, dass Multilateralismus in dessen ureigenstem Interesse liegt, so würde sich das internationale System in Richtung „cooperation“ statt in Richtung Wettstreit, „competition“, neigen. Europa habe eher das Zeug dazu als die Vereinigten Staaten, die sich zu lange über internationale Regeln und Institutionen hinweggesetzt hätten.

Dabei raten die Autoren Europa und Amerika dazu, sich auf drei Themen zu konzentrieren: die Klimaveränderung, die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Afrika. Wo China und die EU aneinander geraten, etwa bei Fragen des geistigen Eigentums oder der Währungspolitik, da sollten beide den bilateralen Schlagabtausch meiden und ihren Zwist in multilateralen Foren wie der WTO oder erweiterten G-8-Treffen lösen.

Der gute Ratschlag ist allemal den Versuch wert. Doch hier kommt die Psychologie ins Spiel. Grant und Barysch verfassten ihre Analyse vor den Olympischen Spielen in Peking, die zum Lehrstück in politischer Wahrnehmung und Völkerpsychologie wurden. Für viele Europäer wurde weniger die organisatorische Leistung der Ausrichter denn deren Umgang mit Menschenrechten und Meinungsfreiheit zum Gradmesser für Chinas Modernität. Umgekehrt waren die chinesischen Kommentare nicht zu überhören, die den Westen insgesamt für ein überholtes Modell im Wettlauf durchs 21. Jahrhundert erklärten. Beide Seiten arbeiteten also mit einer verkürzten Wahrnehmung des Anderen, was den politischen Umgang nicht erleichterte.

Den Autoren war eine solch mögliche Entwicklung während der Niederschrift ihres Buches durchaus bewusst. Allein, sie konnten dieses Wechselspiel zwangsläufig nicht beschreiben. Ist China zu mächtig? Diese Frage umkreisen Grant und Barysch eher. Ist Europa zu schwach? Hier werden sie zwar deutlich und streng – ja, diese EU schwächelt strategisch –, doch sie übersehen leicht, dass diese Schwäche in chinesischen Augen keine Frage der Wahrnehmung ist, sondern Fakt. Alles andere als ein harmloses Spiel

Genau diesen Aspekt der wechselseitigen Wahrnehmung rückt Bülent Küçük, Soziologe an der Sabancı Universität in Istanbul, in seiner Dissertation über „Die Türkei und das andere Europa“ ins Zentrum. „Phantasmen der Identität im Beitrittsdiskurs“ gibt der Untertitel vor. Im Gefolge (und durchaus im Widerspruch) zu Edward Saids klassischer Studie von 1978 über den „Orientalismus“ kreist seine Analyse anhand poststrukturalistischer und postkolonialer Theorien um Orientalismus und Okzidentalismus, um Diskurse und Repräsentationen – und um eingängigere Begriffe wie Grenze, Brücke, Identität(en).

Wer bezieht sich im Zuge der Beitrittsverhandlungen auf wen – und wie? Zu Recht deutet Küçük Dichotomien wie Ost/West, Europa/Islam als „die gesuchten identifikatorischen Motive eines vorgestellten Europa“ zum einen, als Versuch der Problematisierung des „Europäischseins der Türkei“ zum anderen. Kurz, als ein Spiel wechselseitiger Wahrnehmung, das alles andere als unschuldig daherkommt und im Bild vom Anderen unbewusst, jedenfalls ungenannt ein bestimmtes Selbstbild einschließt. Dabei verweigert sich Küçük der (damals durchaus anregenden) Schuldzuweisungen eines Edward Said und argumentiert, „dass die nichtwestlichen Gesellschaften zwar von den westlichen Subjekten zum Anderen gemacht werden, jedoch (...) nicht allein als Opfer dieses Prozesses zu verstehen sind“. Fortsetzung folgt, denn der Wandel der Türkei im und durch den Beitrittsprozess ist so augenfällig wie unabgeschlossen.

Und der Wandel der EU? Auch da wird man beobachten, was die Zukunft an neuen Einschätzungen mit sich bringt. Adam Krzeminski erklärt in seinem Essay „Testfall für Europa“ die deutsch-polnische Nachbarschaft zum Lackmustest. Wir erinnern uns an manche (mal boshafte, mal bösartige) Brüsseler Neckerei kurz nach dem polnischen EU-Beitritt. Wer sei da, so ging der Spott, eigentlich wem beigetreten – die Republik Polen der EU oder die EU dem stolzen Polen? Und auch das war zu hören, natürlich eher in Warschau denn in Brüssel: Man sei der einen Union gerade entronnen (lies: der Sowjetunion) und werde schon wieder von der nächsten unterdrückt.

Krzeminski beginnt mit einer höchst lesens- und bedenkenswerten historischen Herleitung, mit den weit übers Erinnerungsjahr 2009/1939 zurückreichenden „Schatten der Vergangenheit“. Auch hier mischen sich, vom Autor treffsicher gezeichnet, politische Tat und politische Vorstellung – bis in die jüngste Vergangenheit, die Krzeminski als „medialen Krieg“ schildert, der vor allem von Publizisten und regierungsnahen Vordenkern in Warschau erklärt und geführt worden sei.

Der Autor legt dabei nahe, dass solche Aufwallungen aufs Engste verflochten sind mit den großen politischen Veränderungen: „Der NATO und EU-Beitritt hat alle Koordinaten der letzten 200 Jahre der polnischen Geschichte beiseite gewischt. Sämtliche historischen Erfahrungen waren nun wenig brauchbar.“ Neues Denken wäre gefragt, sei aber in Polen wie in Deutschland noch längst nicht der Regelfall. Geduld – das wäre das erste Rezept gegen Risiken und Nebenwirkungen europäischer Integration. Und eine noch viel genauere Kenntnis des Nachbarn, ungefähr auf dem Niveau eines Adam Krzeminski.

Taktschlag der Talkshows

Abschließend noch ein Blick in eine reichhaltige Aufsatzsammlung, die sich unter dem nüchternen Titel „Kulturreport – Fortschritt Europa“ ebenfalls mit Selbst- und Fremdbild befasst und dafür Autoren von Deutschland bis Brasilien zu Worte kommen lässt. Besonders inspirierend ist hier der Essay des schwedischen Historikers Bo Stråth: „Unsichtbare Öffentlichkeit?“ lautet seine Titelfrage. Es gibt eine europäische Öffentlichkeit, erklingt die für viele überraschende Antwort.

Aber Stråth bohrt weiter, ausgehend von den starken Stimmungsschwankungen von EU-Gipfel zu EU-Gipfel: „Die Schlüsselfrage ist natürlich, was diese Oszillation zwischen den Extremen, zwischen Euphorie und Krise, für die Stabilität des ganzen institutionellen Schauplatzes wirklich bedeutet. (...) Mündet der schnelle Wandel medialer Stimmungen in eine langfristige Delegitimierung? Oder ist es im Gegenteil so, dass die wachsende Aufmerksamkeit, die der EU zuteil wird, ob negativ oder positiv, zu einer ‚Naturalisierung‘ der EU als Gemeinwesen führt?“

Bild und Selbstbild, Fakt oder Wahrnehmung, was bestimmt die Entwicklung? Der Schwede ist an diesem Punkt recht milde mit jenen Medien, die sich lieber an den Schaueffekt halten denn tiefer zu schauen. Was der EU dadurch widerfährt, unterscheidet sich in der Tat nicht grundsätzlich vom Schicksal nationaler Politik, die vom Taktschlag tagtäglicher Talkshows getrieben und zerrieben wird. Vielleicht hat Bo Stråth ja Recht: Man gewöhnt sich an diese EU, auch wenn der Glanz längst der Vergangenheit angehört.

Charles Grant und Katinka Barytsch: Can Europe and China shape a new world order? London: Centre for European Reform 2008, 104 Seiten, 12,00 £

Bülent Küçük: Die Türkei und das andere Europa. Phantasmen der Identität im Beitrittsdiskurs. Bielefeld: Transcript Verlag 2008, 236 Seiten, 25,80 €

Adam Krzeminski: Testfall für Europa. Deutsch-polnische Nachbarschaft muss gelingen. Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2008, 100 Seiten, 10,00 €

Institut für Auslandsbeziehungen (Hrsg.): Kulturreport – Fortschritt Europa. Stuttgart: Institut für Auslandsbeziehungen 2007/08, 174/280 Seiten, Download unter: www.ifa.de.

JOACHIM FRITZ-VANNAHME leitet den Projektbereich Europa der Bertelsmann Stiftung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2009, S. 119 - 124.

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