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28. Febr. 2019

Gegen das Geschwurbel

Die Formel „mehr Verantwortung“ hat der außenpolitischen Diskussion sehr geschadet. Zeit zum Abschiednehmen. Es geht um Interessen
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Bild: Das Bundeskanzleramt hinter einem roten Filter
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Es war im Mai 2010, als Bundespräsident Horst Köhler ein Hörfunkinterview zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr gab. Er argumentierte, dass Deutschland als „ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren“, es gehe darum, freie Handelswege zu sichern und regionale Instabilitäten zu verhindern – und damit letztlich in Deutschland Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern. Hoffnungsfroh fügte er hinzu: „Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.“ Köhler sollte schnell eines Besseren belehrt werden.

Statt nüchterner Diskussion hagelte es maßlose Kritik. Der Bundespräsident verfolge „Wirtschaftskriege“, rede einem „Verfassungsbruch“ das Wort. Ein Staatsrechtler erkannte einen „imperialen Zungenschlag“, ähnlich den Argumenten zur Verteidigung der englischen Seeherrschaft im 19. Jahrhundert. Dass Köhler danach beleidigt seinen Posten im Schloss Bellevue räumte, war die Überreaktion eines politisch überforderten Präsidenten. Aber die Episode dokumentiert auch die Unreife der deutschen außenpolitischen Diskussion.

Köhler hatte ein simples, wenn auch krude formuliertes Argument zur außenpolitischen Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen vorgebracht. Für seinen Nachfolger Joachim Gauck war die Lehre klar. In seiner wichtigsten außenpolitischen Rede, vor fünf Jahren bei der Münchner Sicherheitskonferenz, stellte er den Weichspüler-Begriff „Verantwortung“ ins Zentrum. „Mehr Verantwortung“ müsse Deutschland in der Welt übernehmen. Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen stimmten in den Verantwortungschor ein. Seitdem ist „mehr Verantwortung“ zum Goldstandard der außenpolitischen Diskussion geworden. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel, die 2014 klare Distanz zu Gaucks Verantwortungshymne gehalten hatte, forderte Deutschland in ihrer Neujahrsansprache 2019 auf, „im eigenen Interesse mehr Verantwortung zu übernehmen“.

Verantwortung klingt nobel. Keiner wird einem vorwerfen, mit imperialem Zungenschlag zu sprechen oder krude Machtpolitik zu betreiben. Verantwortung ist zum Universal-Schwurbelkleister der deutschen Außenpolitik avanciert. Man bedient sich des Begriffs und verbreitet eine diffuse Wohligkeit inmitten weltpolitischer Turbulenzen – und kann so wunderbar die unangenehmen Fragen nach schwierigen Abwägungen zwischen konkurrierenden Interessen und der Suche nach den richtigen Instrumenten übertünchen. Wir sollten uns deshalb vom Begriff „Verantwortung“ verabschieden und stattdessen offen ringen: um widerstreitende Interessen und Mittel zu ihrer Durchsetzung.
 

Interessen im Widerstreit

Dabei ist es nicht so, dass die außenpolitischen Interessen Deutschlands ein sonderliches Geheimnis wären: Frieden und Sicherheit, Wohlstand sowie Demokratie und Menschenrechte. Diese Trias kann man in jeder Sonntagsrede beschwören, fast so wohlig wie „Verantwortung“. Relevant wird es erst, wenn Interessen miteinander konkurrieren und wenn die Mittel zur Erreichung strittig sind. Erst dann zeigt sich die Qualität der außenpolitischen Diskussion.

Beim Exportweltmeister Deutschland ist dies häufig der Fall, wenn wirtschaftliche Interessen mit den Zielen Sicherheit sowie Demokratie und Menschenrechte abgewogen werden. Besonders deutlich wird dies im Verhältnis zum wichtigsten Handelspartner China. Lange Zeit handelte Berlin auf Grundlage der Annahme, dass China und Deutschland perfekt komplementäre Wirtschaftspartner seien, dass sich Peking aufgrund globaler wirtschaftlicher Einbindung politisch weiter öffnen würde und dass China für Deutschlands ­Sicherheit keine ernstzunehmende Herausforderung sei. Diese Annahmen haben sich als falsch herausgestellt.

China hat sich als industrieller Kernwettbewerber Deutschlands positioniert und verfolgt sehr aggressiv seine sicherheitspolitischen Interessen. Gleichzeitig wird das politische System immer autoritärer, und die Menschenrechtsbilanz verschlechtert sich vielerorts dramatisch. Insofern steht die deutsche Strategie, eine immer stärkere wirtschaftliche Integration mit Peking zu verfolgen und von Peking als „strategischem Partner“ zu reden, mittlerweile sehr nackt da. Da hilft kein Reden von „mehr deutscher Verantwortung“, sondern nur ein nüchterner Blick.

Kurzfristig machen deutsche Konzerne in China weiterhin gutes Geld und einen beträchtlichen Teil ihres Gewinns, mittelfristig sehen sie sich im Hintertreffen gegen den Staatskapitalismus. Deshalb gilt es, die wirtschaftliche Abhängigkeit deutscher Unternehmen vom chinesischen Markt zu reduzieren, investitionspolitische Schutzmaßnahmen zu ergreifen und die eigene Innovations- und Industriepolitik zu stärken. So weit, so klar. Kontroverser wird es mit Blick auf sicherheitspolitische Fragen, wie die Diskussion um das schnelle Mobilfunknetz 5G als kritische Infrastruktur und die Rolle von chinesischen Technologieunternehmen, wie der Fall Huawei zeigt. Hier gibt es eine klare Spannung zwischen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen. Huawei liefert preiswerte und moderne Technologie zum ­Ausbau eines 5G-Netzes. Gleichzeitig birgt das Verbauen von Huawei-Technologie große Sicherheitsrisiken. Im Konfliktfall könnte der Parteistaat Huawei zu Sabotageaktionen gegen Deutschland verpflichten. Insofern muss Berlin eine Entscheidung zwischen widerstrebenden Interessen treffen. Wird nationale Sicherheit ernst genommen, kann das nur zu einem Ausschluss chinesischer Technologieanbieter bei der Ausstattung kritischer Infrastruktur führen. Voraussetzung dafür ist eine Diskussion, die den technologischen Selbstbehauptungsanspruch Deutschlands und Europas in den Mittelpunkt stellt.

Abwägeentscheidungen gibt es auch mit Blick auf ein Einstehen für Wirtschaftsinteressen versus Demokratie und Menschenrechte. Dabei sollten wir Letztere explizit als Interessen verstehen und die Rede von „Interessen versus Werte“ hinter uns lassen. Hier muss Deutschland etwa mit Blick auf Kanada und dessen Auseinandersetzungen mit Saudi-Arabien und China Farbe bekennen. Ottawa gehört zu den von Berlin umworbenen Mitgründern der von Außenminister Heiko Maas verfolgten Allianz der Multilateralisten. Die Allianz, so Maas, soll „Solidarität zeigen, wenn internationales Recht vor der Haustür des jeweils anderen mit Füßen getreten wird“. Chinas seit Dezember 2018 andauernde Geiselnahme zweier kanadischer Staatsbürger als Druckmittel ist ein klarer Fall. Der Parteistaat hatte die beiden inhaftiert, nachdem Ottawa auf Basis eines US-Haftbefehls die Tochter des Huawei-Gründers festgesetzt hatte. Die Bundeskanzlerin aber vermied danach, direkt Position für Kanada zu beziehen. Auch Finanzminister Olaf Scholz erwähnte das Thema während seiner ­China-Reise im Januar nicht in der öffentlichen Kommunikation.

Peinlich genug, dass die deutsche Regierung Kanada im Sommer 2018 die Solidarität verweigerte, als Saudi-Arabien Ottawa mit Drohungen und Vergeltungsmaßnahmen überzog, weil es sich an kritischen Äußerungen der kanadischen Außenministerin zur Menschenrechtssituation gestört hatte. Autoritäre Regime können bislang allzu oft darauf vertrauen, dass sich jeder kurzsichtig der wirtschaftlich Nächste ist. Nur wenn Demokratien zusammenstehen, können sie sich effektiv gegen übergriffiges Verhalten von Autokratien wie China und Saudi-Arabien zur Wehr setzen.

Eine weitere Abwägung ist, inwieweit Deutschland seine wirtschaftlichen Interessen gegenüber China aufs Spiel setzen will, um für Menschenrechte einzutreten. Die brutale Unterdrückung von Muslimen in Xinjiang (mit bis zu einer Million Menschen in Lagern) rückt immer mehr ins Zentrum einer öffentlichen Diskussion. Wie deutlich möchte die deutsche Politik dazu über die ritualisierten Formate wie den Menschenrechtsdialog hinaus Position beziehen?
 

Unerklärte oder vorgeschobene Interessen

Schädlich für die außenpolitische Diskussion ist es auch, wenn Interessen nicht erklärt oder falsche Interessen vorgeschoben werden. Nord Stream 2 ist dafür ein prominentes Beispiel. Das Geschäft mit dem Kreml über die neue Gas­pipeline haben deutsche Entscheidungsträger, inklusive der Kanzlerin, lange als privatwirtschaftliche Angelegenheit abgetan – wohl wissend, dass es sich um ein geostrategisch höchst brisantes Projekt handelt. Eine solche Nebelkerzenstrategie hat der deutschen Außenpolitik enorm geschadet. Deutschlands mitteleuropäischen Nachbarn wie Polen, die das Projekt vehement ablehnen, erscheint Berlin so als berechnender Machtspieler, der mit gezinkten Karten eine „Germany First“-Strategie verfolgt. Dabei mangelt es nicht an Argumenten, warum die Pipeline in Deutschlands Interesse ist und wie sich Europas energiepolitische Unabhängigkeit mit Nord Stream 2 wahren lässt.

Weiteres Beispiel ist das Thema Flüchtlinge und Migration. Hier zelebriert der Berliner Politikbetrieb das Label „Fluchtursachenbekämpfung“ für alle möglichen entwicklungs- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen in Afrika. Nun sind viele Staaten auf dem Kontinent wichtige Wachstumsmärkte. Maßnahmen zur Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit liegen deshalb im deutschen Interesse. Doch es ist Etikettenschwindel, diese Maßnahmen mit dem Versprechen der Verringerung von Migrationszahlen zu verkaufen. Entwicklungsökonomen gehen davon aus, dass mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung die Zahl der Migrationswilligen und -­fähigen erst einmal steigt.

Auch mit Blick auf den größten Auslandseinsatz der Bundeswehr in Af­ghanistan gibt es eine unklare Kommunikation deutscher Interessen. Der Bevölkerung wurden anfangs drei Interessen vermittelt: Verteidigung ihrer Freiheit, Demokratie- und Menschenrechtsförderung sowie Bündnissolidarität mit den USA und Unterstützung eines UN-Mandats. Von den Zielen Freiheit und Demokratie ist wenig geblieben; doch offen kommuniziert haben deutsche Entscheidungsträger dies bislang eher wenig.

Doch vor allem die Diskussion um Nuklearwaffen zeigt die Schwäche der Debatte um deutsche Interessen. Hier ist Deutschland mit elementaren Fragen konfrontiert: Wie garantieren wir unsere Sicherheit, sollte der nukleare Schutzschirm der USA brüchig werden? Wie reagieren wir auf das Ende des INF-Vertrags? Aus breiten Teilen des politischen Spektrums hört man dazu wohlfeile Antworten. Grünen-Chefin Annalena Baerbock rief nicht nur zum Abzug aller US-Atomwaffen aus Deutschland auf, sondern auch zum Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe in der NATO. Die Antwort darauf, wie sie verhindern will, dass Deutschland durch aggressive Nuklearmächte wie Russland erpressbar wird, blieb Baerbock schuldig. Außenminister Maas setzt richtigerweise auf Rüstungskontrolle. Diese aber kann man nur mit realistischen Annahmen über die Interessen der anderen vorantreiben. Maas jüngst: „Letztlich wollen doch alle eine Welt ohne Nuklearwaffen“. Mit Blick auf die Entscheidungsträger in Peking, Moskau oder Islamabad eine gewagte These. Wir brauchen einen realistischen Blick nicht nur auf die eigenen Interessen, sondern auch auf die der anderen.

Thorsten Benner ist Mitgründer und Direktor des Global Policy Institute (GPPi) in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2019, S. 14-17

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