Buchkritik

01. Jan. 2020

Gefangener der eigenen Geschichte

Imperiales Erbe, korrupte Eliten und ein ganz spezielles Lebensgefühl: Vier Autoren erklären, warum Russland so anders ist.

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Warum geht Russland seit Jahrhunderten seinen ganz eigenen Weg? Warum integriert es sich nicht in Europa, geschweige denn, dass es sich unterordnet? Und warum wird das auch auf absehbare Zeit so bleiben? Diesen Fragen widmet sich eine ganze Reihe interessanter Neuerscheinungen.



Reinhard Krumm versucht eine „Anleitung zum Verständnis einer anderen Gesellschaft“ zu geben. Dabei ringt der ehemalige Moskauer Büroleiter der Friedrich-Ebert Stiftung (FES) und jetzige Leiter des Regionalbüros für Zusammenarbeit und Frieden in Europa (Wien, ebenfalls FES) mit seinem ganz eigenen Russlandverständnis. Anders als viele andere Autoren gibt Krumm nicht dem Westen die Schuld an der Krise im Verhältnis zu Russland. Stattdessen zeigt er in seinem äußerst lesenswerten und differenzierten Büchlein die strukturellen Linien auf, die zu Putins Russland geführt haben.



Krumm geht es um das Selbstverständnis der russischen Gesellschaft, um ihr Verhältnis zum Staat und den Eliten. Dem Verständnis westlicher, auch deutscher Politik und Gesellschaft in den 1990er Jahren, dass Russland zwar langsam, aber am Ende doch so würde wie wir, widerspricht Krumm zu Recht vehement. Es fehle in Russland an einem mit dem Westen vergleichbaren gesellschaftlichen Selbstverständnis, an Institutionen sowie an einer Geschichte der freien Entfaltung. Der Maßstab der Entwicklung sollten nicht in erster Linie West-, Zentraleuropa und die USA sein.



Russland hat historisch seine eigenen Modernisierungswellen durchlebt, die auch, aber nicht nur von Europa beeinflusst wurden. Krumm analysiert das Freiheitsverständnis der russischen Gesellschaft im Zarenreich, in der Sowjetunion und im postsowjetischen Präsidentenreich. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass der Traum der russischen Gesellschaft nach Freiheit widersprüchlich ist: Einerseits möchte man unbegrenzte Freiheit, andererseits die Obhut und die soziale Fürsorge des Staates. Das hat mit dem Fehlen von funktionsfähigen Institutionen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Obrigkeitsstaat zu tun. Trotz aller autoritären Tendenzen in Putins Russland ist die postsowjetische russische Gesellschaft so frei wie nie zuvor. Problematisch bleibt, dass persönliche Netzwerke und Korruption weiter eine zentrale Rolle spielen, da so etwas wie eine institutionelle Staatlichkeit fehlt.

Leid und Lebenslust

Wie sieht das Lebensgefühl im heutigen Russland aus? Udo Lielischkies zufolge ist es eine Mischung aus Wut, Leid und Resignation und gleichzeitig Lebenslust und menschlicher Nähe. Lielischkies, bis zu seiner Pensionierung 2018 Leiter des ARD-Büros in Moskau, hat mit „Im Schatten des Kreml“ das Vermächtnis seiner fast 20-jährigen Korrespondententätigkeit in Russland aufgeschrieben. Es ist sein kritischer, aber dabei liebevoller Blick auf Russland, der dieses Buch so wertvoll macht. Dabei nimmt der Autor nicht nur die Eliten und die Glitzermetropole Moskau in den Blick, sondern auch den weitgehend vergessenen Rest des Landes. Vor allem aber zeigt er über die gesamte Amtszeit Wladimir Putins, wie wenig sich die Mächtigen um die Entwicklung des Landes oder Gerechtigkeit scheren. Ihnen geht es darum, den Staat, das System und die korrupten Eliten zu schützen.



Lielischkies zeichnet nach, wie unliebsame Journalisten und Oppositionelle getötet wurden – ohne dass ihre Fälle je aufgeklärt wurden. Spätestens mit der Dumawahl Ende 2012 sei ein systematischer Informationskrieg vorbereitet worden. Das, was dann in der Ukraine seit 2014 geschah und in einen Propagandakrieg gegen den Westen mündete, steht in einer Kette von Ereignissen, die wir heute teilweise vergessen haben. Am Ende habe der Westen Teile der Propaganda akzeptiert und die Schuld für die Misere eher außerhalb denn innerhalb Russlands gesucht. Deutsche Realpolitik mit der Unterstützung für Nord Stream 2 bedeutet eben auch eine Legitimation des Systems Putin.



Der Autor hat nicht nur den zweiten Tschetschenienkrieg miterlebt, sondern auch die Anschläge in Moskau Anfang 2000, bei denen bis heute nicht klar ist, ob Tschetschenen oder Geheimdienstmitarbeiter die Täter waren. Die Brutalität der russischen Armee in Tschetschenien, Bombardements ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung: All das beobachten wir später in ähnlicher Form in Aleppo, in Syrien. Lielischkies vergleicht die erlebte Realität mit dem, was im russischen Fernsehen fehlt oder geschönt wird. Vom Tod russischer Soldaten etwa soll keiner wissen. Gleichzeitig lernt der Leser, wie manipuliert die Bilder bereits Anfang der 2000er Jahre waren. Das gilt auch für die Befreiungsaktion in der Mittelschule Nr. 1 in der nordossetischen Stadt Beslan 2004, bei der über 300 Menschen starben, davon die Hälfte Kinder. Während lange geleugnet wurde, dass nicht die Terroristen, sondern die Sicherheitskräfte die Eskalation herbeigeführt hatten, gab Putin vier Jahre später in einem Interview mit Le Monde zu, dass es nie eine Option war, mit den Terroristen zu verhandeln.

Russlands imperiales Erbe

Schlagartig verändern wird Russland sich nicht, wenn Putin eines Tages den Kreml verlässt. Das ist die These des Osteuropahistorikers Martin Aust, Professor an der Uni Bonn. Die Strukturen, die Putin vorgefunden habe, würden bleiben. Dabei spiele das imperiale Erbe des Zarenreichs und der Sowjetunion eine zentrale Rolle. In „Die Schatten des Imperiums“ nutzt Aust die Erkenntnisse der jüngsten Imperiengeschichtsforschung für die Analyse der Entwicklung Russlands seit 1991. Seit diesem Jahr befindet sich das Land Aust zufolge in einer „postimperialen“ Konstellation. Die Frage nach dem Umgang mit dem Erbe von Zarenreich und Sowjetunion sei bisher nicht geklärt.



Für Aust besteht das Kontinuum in der Geschichte Russlands von Gorbatschow bis zur vierten Präsidentschaft Putins seit 2018 in der Suche nach dem richtigen Umgang mit dem imperialen Erbe. Gorbatschow sei daran gescheitert, einen imperial geprägten multiethnischen Staat zusammen mit dem Staatssozialismus sowjetischer Prägung zu demokratisieren. Einerseits habe Gorbatschows Glasnostpolitik dazu geführt, dass die Nationalitätenfrage erneut auf die Tagesordnung kam. Andererseits habe Moskau in klassisch imperialer Weise das Militär genutzt, um die Konflikte niederzuschlagen.



Putin steht in einer langen Tradition der Herrschaftspräsentation im Zarenreich und in der Sowjetunion. Solche Inszenierungen greifen Erwartungshaltungen der Elite und der Bevölkerung auf. Auch die Betonung russischer kultureller Eigenheiten in Abgrenzung zum Westen hat ihre Tradition im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Was Putins Rhetorik und Inszenierung besonders macht, ist die Mischung aus Versatzstücken zaristischer und sowjetischer imperialer Tradition.



Dabei ist auch seine Politik durch das Spannungsfeld zwischen dem inneren Selbstverständnis Russlands bei der Suche nach der russischen Nation und seinem Rollenverständnis in der internationalen Politik geprägt. Das Eingreifen in den Syrienkrieg diente eben auch dazu, zu Hause zu demonstrieren, dass Russland eine Großmacht ist. Dabei waren die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine eher kontraproduktiv für eine Integration oder engere Anbindung postsowjetischer Staaten an Russland.



Wer auch immer 2024 auf die über zwei Jahrzehnte Putinscher Herrschaft folgen wird: Das imperiale Erbe wird nach Austs Auffassung bleiben; damit werde Russland auch ohne Putin umgehen müssen. Ebenso mit Fragen wie dem Verhältnis der russischen Nation zur russländischen Staatsbürgernation, der Machtverteilung zwischen Zentrum und Regionen sowie der Positionierung Russlands in der Welt zwischen Europa und Asien.



Wo Aust es bei einer nüchternen Bestandsaufnahme belässt, blickt der Historiker und Bestsellerautor („Bloodlands“) Timothy Snyder ausgesprochen düster in die Zukunft. Einen „russischen Faschismus“ Putinscher Ausprägung sieht Snyder am Werk. Dieser könne Ausgangspunkt für einen Untergang der Demokratie in Europa und den Vereinigten Staaten werden.



Doch abgesehen davon, dass der Faschismusvorwurf gegenüber Putin absurd und ahistorisch erscheint: Snyder blendet den Rahmen aus, in dem der Präsident agiert, und er ignoriert den gesellschaftlichen Wandel im Westen vor dem Hintergrund von Globalisierung und Digitalisierung. Putin ist weder für die wachsende Ungleichheit bei uns verantwortlich noch für das Ersetzen von Politik durch Propaganda. Er nutzt lediglich die Möglichkeiten, die wir ihm in unserer wachsenden Orientierungslosigkeit bieten. Er ist ein Taktiker, der gefangen ist im strukturellen Rahmen, den ihm die russische Geschichte vorgibt.

Dr. Stefan Meister ist seit Juli 2019 Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung im 
Südkaukasus mit Sitz in der georgischen Hauptstadt Tiflis.

  • Reinhard Krumm: Russlands Traum. Anleitung zum Verständnis einer anderen Gesellschaft. Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2019, 136 Seiten, 16,90 Euro
  • Udo Lielischkies: Im Schatten des 
Kreml.Unterwegs in Putins 
Russland. München: Droemer Knaur 2019. 496 Seiten, 24,99 Euro
  • Martin Aust: Die Schatten des 
Imperiums. Russland seit 1991. 
München: C.H.Beck 2019. 
190 Seiten, 14,95 Euro
  • Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit: Russland, Europa, Amerika. München: C.H.Beck 2018 (3. Auflage). 
376 Seiten, 24,95 Euro
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2020, S. 124-127

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