Buchkritik

01. Mai 2021

Gefahr von innen

Wenn die Demokratie in den USA unter Druck gerät, ist das für die ganze Welt nicht gut: drei neuere Werke zu Macht, Moral und der Zukunft der liberalen internationalen Ordnung.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Als am 6. Januar 2021 mehrere hundert Anhänger des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump gewaltsam in das Kapitol in Washington eindrangen, wurde vielen klar, wie verwundbar die amerikanische Demokratie ist. Wenn eine friedliche Machtübergabe öffentlich infrage gestellt wird, ist das nicht nur eine Bedrohung für das politische System, sondern auch für den internationalen Führungsanspruch der USA und damit die internationale Ordnung. Juristisch konnte Trump nichts angelastet werden. Dass er zutiefst unmoralisch gehandelt hat, dürfte hingegen außer Frage stehen.



Die Macht der Moral

Moral in der amerikanischen Außenpolitik ist das Thema, dessen sich der amerikanische Politikwissenschaftler Joseph S. Nye in seinem neuen Buch annimmt. Nye erlangte internationale Bekanntheit durch seine neoliberal geprägten Interdependenztheorien der internationalen Beziehungen, aber auch durch sein außenpolitisches „Soft Power“-Konzept, also die kulturelle und politische Attraktivität eines Landes als Machtmittel. In seinem aktuellen Buch widmet sich Nye den US-Präsidenten von Franklin D. Roosevelt bis Donald Trump und entwickelt für jeden Präsidenten und sein außenpolitisches Handeln eine Art dreidimensionales „ethisches Punktesystem“. Nyes zentrale Bewertungskriterien sind die Motive, die eingesetzten Mittel und die außenpolitischen Konsequenzen. Darüber hinaus analysiert er die Führungsqualitäten der Präsidenten und beurteilt, welcher außenpolitische Ansatz seine Ziele erreicht hat.



Nye betont, dass alle Präsidenten nicht zwangsläufig durch das politische System determiniert seien. Sie seien sehr wohl in der Lage, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und damit ein wichtiger Faktor in der Politik. Das entspricht dem seit einigen Jahren in der politikwissenschaftlichen Forschung zu beobachtenden Trend, verstärkt den Blick auf politisch handelnde Individuen zu werfen. Der Trend ist begrüßenswert, solange das umgebende System nicht völlig außer Acht gelassen wird.



Dass Donald Trump bei alledem nicht sonderlich gut abschneidet, ist offensichtlich. In der Bewertung, welche Präsidenten Moral und Effektivität am besten vereinbaren konnten, bildet Trump für Nye zusammen mit Lyndon B. Johnson, Richard Nixon und George W. Bush das Schlusslicht. Donald Trump ist der Präsident, der die internationale liberale Ordnung fundamental infrage stellte, Allianzen aufkündigte und Konflikte anheizte, um Amerika in eine vermeintlich bessere Position zu bringen. Wir wissen heute, dass er damit genau das Gegenteil erreichte und die nationale Sicherheit der USA gefährdete.



Unter Johnson und Nixon verlor ein großer Teil der amerikanischen Bevölkerung das Vertrauen in das politische System. Der Vietnam-Krieg, die Watergate-Affäre und diverse internationale CIA-Operationen zur Destabilisierung ausländischer Regierungen mit unabsehbaren Folgen für die USA erwiesen sich als moralische Desaster. Im Fall von George W. Bush führt Joseph Nye vor allem den internationalen Krieg gegen den Terrorismus sowie die völkerrechtswidrige Invasion im Irak 2003 an; Entscheidungen, die Amerika nicht unbedingt sicher gemacht haben dürften.



Franklin D. Roosevelt, Harry S. Truman, Dwight D. Eisenhower sowie George H.W. Bush betrachtet Nye als die vier moralisch erfolgreichsten Präsidenten. Sie hätten amerikanische Überlegenheit nicht eingesetzt, obwohl sie es hätten tun können: Roosevelt war bereit, einen gewissen Grad an amerikanischer Macht an neue internationale Organisationen, etwa die Vereinten Nationen, abzutreten, um eine internationale Ordnung zu etablieren, deren Stabilität nicht vom intransparenten Aushandeln weniger Großmächte abhängen würde.



Truman weigerte sich im Korea-Krieg (1950–1953), Atomwaffen einzusetzen, obwohl die USA in den 1950er Jahren noch eine nukleare Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion besaßen und obwohl einige, allen voran Douglas MacArthur als dortiger militärischer Oberbefehlshaber, dringend dazu geraten hatten. Stattdessen akzeptierte Truman ein militärisches Patt und entließ MacArthur. Dwight D. Eisenhower verhielt sich beim Einsatz von Nuklearwaffen ebenfalls äußerst zurückhaltend.



Nye hebt George H.W. Bushs moralisches Handeln insbesondere während des zweiten Irak-Kriegs 1990/1991 hervor, in einer Zeit des Umbruchs und der amerikanischen Dominanz. Bush sen. hielt sich an das Mandat des UN-Sicherheitsrats und besetzte den Irak ausdrücklich nicht, sondern befreite lediglich Kuwait. Er handelte hier im Gegensatz zu seinem Sohn, George W. Bush, weitsichtig und wohlwissend, welche unabsehbaren Konsequenzen eine umfassende militärische Invasion für die Region und letztlich auch für die internationale Staatenkoalition gehabt hätte. Obwohl die USA militärisch in der Lage gewesen wären, stürzte Bush sen. den irakischen Präsidenten Saddam Hussein nicht.



Die Präsidenten John F. Kennedy, Gerald Ford, Jimmy Carter, Ronald Reagan, Bill Clinton und Barack Obama rangieren bei Nye im Mittelfeld.



Joseph Nyes Titelfrage, ob Moral eine Rolle spiele, ist offensichtlich rhetorisch gemeint – Moral und Außenpolitik sind für ihn untrennbar miteinander verbunden. Wie der Autor die Beweggründe für wichtige Entscheidungen amerikanischer Präsidenten darlegt, ist ausgesprochen aufschlussreich und lässt darüber hinwegsehen, dass sein Punktesystem als Analyseraster ziemlich grob geraten ist. Der Autor, der selbst in den Regierungen Carter, Clinton und Obama tätig war, betont mit Recht, dass seine Studie lediglich eine erste Einordnung für außenpolitisches moralisches Handeln in den internationalen Beziehungen sein könne.



Liberale Ordnung in der Krise

Während Nye einen personenorientierten Ansatz verfolgt, legt einer der bekanntesten politikwissenschaftlichen Vertreter des Liberalismus, der Amerikaner John Ikenberry, den Schwerpunkt auf die Strukturen internationaler Beziehungen. Die liberale internationale Ordnung, die progressive Ideen, Rechtstaatlichkeit und Demokratien begünstige, ist seiner Auffassung nach eine Konsequenz der Moderne, aber kein Automatismus. Sie müsse stets erkämpft und erhalten werden. Träger dieses seit mehr als 200 Jahren andauernden Prozesses sei zunächst Großbritannien gewesen, das mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den USA abgelöst worden sei.



Heute steckt das „liberale Projekt“ in der Krise: Von außen wird es durch andere, nichtliberale Staaten bedroht, von innen wollen es nationalistische und populistische Bewegungen zerstören. Dieser doppelten Bedrohung der Demokratien bei gleichzeitig stärker werdender ökonomischer und sicherheitspolitischer Abhängigkeit der Staaten voneinander lasse sich nur begegnen, indem man die liberale internationale Ordnung neu denke und anpasse, so Ikenberry.



Der Buchtitel „A World Safe for Democracy“ ist einem Zitat des US-Präsidenten Woodrow Wilson entliehen. Er dient dem Autor als Ausgangspunkt, Hoffnungsschimmer und Moment des Scheiterns zugleich. In seiner berühmten Rede vor dem US-Kongress im Jahr 1917 hatte Wilson erklärt, dass sich die Welt nur mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg sicherer für Demokratien machen lasse. Dass die USA dem Völkerbund nie beigetreten sind und diese internationale Organisation mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs scheiterte, verhinderte jedoch eine liberale internationale Ordnung.

Das gelang erst unter US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Jahr 1945 mit der Gründung der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen unter US-Führung. Wie fragil diese Weltordnung und auch die Demokratien sind, offenbarte sich über die Jahrzehnte in Gestalt von widersprüchlichem – mal liberalen, mal hegemonialen – außenpolitischen Handeln westlicher Demokratien, insbesondere der Vereinigten Staaten. Die Expansion des liberalen Internationalismus nach dem Ende des Kalten Krieges führte gleichzeitig zu einer wachsenden Fragmentierung und zu Widerständen in Teilen der Welt.



Demokratische Bewegungen konnten sich entweder nicht durchsetzen oder mündeten in Gegenrevolutionen – etwa in Russland und im gesamten postsowjetischen Raum. Zudem waren andere Systeme wie China wirtschaftlich mindestens ebenso erfolgreich wie der Westen, während sie gleichzeitig von einer internationalen liberalen Wirtschaftsordnung profitieren.



In Zukunft, so Ikenberry, werde es entscheidend sein, wie Demokratien mit den großen Herausforderungen der Menschheit umgingen und inwiefern sie als Vorbild für andere Staaten dienen könnten. Das betreffe etwa soziale Ungerechtigkeit, die Digitalisierung oder den Klimawandel. Um glaubwürdig zu bleiben, ist es für Ikenberry entscheidend, soziale Stabilität in Demokratien herzustellen, außenpolitisch weniger interventionistisch aufzutreten und gleichzeitig internationale Organisationen, demokratische Allianzen und Ad-hoc-Koalitionen zu stärken, die der liberalen internationalen Weltordnung dienen. Die Ankündigung von US-Präsident Joe Biden, noch in seinem ersten Amtsjahr einen internationalen Gipfel für die Demokratie auszurichten, geht in diese Richtung.



Die große Stärke in John Ikenberrys Werk liegt in einer ausgesprochen fundierten historischen Herleitung der großen, zum Teil äußerst widersprüchlichen Linien, die zur Entstehung der internationalen liberalen Ordnung führten. Mit Liebe zum Detail und analytisch brillant stellt er die Moderne als maßgeblichen Treiber für diese Ordnung dar. Während dieser Part durchweg überzeugend ist, erscheinen seine Handlungsanweisungen für die Zukunft und den Erhalt der Ordnung deutlich schwächer. Sie bleiben vergleichsweise vage und sind wenig innovativ. Für Ikenberry gibt es keine Alternative zur internationalen liberalen Ordnung – ein klares Rezept für die Zukunft hat er nicht. Zudem bleibt die Frage unbeantwortet – aber das ist dem Erscheinungszeitraum geschuldet –, wie demokratische Staaten aus der Corona-Krise hervorgehen werden und inwiefern die Pandemie demokratische Systeme schwächen oder stärken könnte.



Mehr Schein als Sein

Während John Ikenberry die liberale Ordnung verteidigt, attackiert der britische Politikwissenschaftler und Neorealist Patrick Porter die „nostalgische Erzählung“ Ikenberrys und anderer Verfechter der liberalen Ordnung ganz grundsätzlich. Diese Ordnung sei nur eine „Phrase“ und nie wirklich liberal gewesen, schreibt Porter in „The False Promise of Liberal Order“. Nicht nur, dass sie lediglich auf der Hegemonie der USA beruhe,  Amerika habe diese Ordnung, die Pax Americana, durch die Zusammenarbeit mit autoritären Staaten und mithilfe permanenter militärischer Auseinandersetzungen stabilisiert. Letztendlich hätten diese die Demokratie in den USA selbst gefährdet. Kulminiert sei diese Entwicklung in der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten.



Einen vollständigen Freihandel habe es nie gegeben, so Porter weiter, eine nuklearwaffenfreie Welt sei in weite Ferne gerückt, und militärische Interventionen seien stets Bestandteil der internationalen Beziehungen gewesen und oftmals von demokratischen Staaten höchstselbst initiiert worden. Nur mit einer angepassten Realpolitik und der Abkehr vom liberalen Narrativ könnten die USA ihren noch bestehenden Einfluss in der Welt sowie ihre Demokratie selbst retten, argumentiert Porter. Um den chinesischen Einfluss zurückzudrängen, empfiehlt er in neorealistischer Manier, die Zusammenarbeit mit Russland wieder zu intensivieren und sich aus dem Nahen und Mittleren Osten zurückzuziehen.



Porters Generalabrechnung mit der internationalen liberalen Ordnung und sein Versuch, den Neorealismus mit alternativen Handlungsvorschlägen wieder stärker in die Debatte zu bringen, klingen unterm Strich einigermaßen wohlfeil. Sein Ansatz ist weder neu noch ein wirklich realistischer Weg für das interdependente 21. Jahrhundert. Die Herausforderungen der Welt wie etwa der Klimawandel, Pandemien und Migration lassen sich kaum auf Einflusssphären beschränken. Amerika wird mehr denn je international gebraucht.



Alle drei Bücher weisen zwei Gemeinsamkeiten auf: Erstens bleibt der ganz große Wurf, wie es mit der internationalen liberalen Ordnung weitergehen soll, leider aus. Zweitens betonen alle drei Autoren in ihren unterschiedlichen Perspektiven auf die amerikanische Außenpolitik eines: Die wahre Bedrohung für die USA und ihr politisches System kommt nicht von außen, etwa von der immer fragiler werdenden internationalen Ordnung. Sie kommt von innen, von innenpolitischen Krisen und wachsender Polarisierung. Das politische Intermezzo zwischen der Wahl Trumps zum US-Präsidenten 2016 und dem Sturm aufs Kapitol Anfang dieses Jahres war eine deutliche Warnung an die amerikanische Öffentlichkeit, aber auch an andere demokratische Staaten. Das gilt auch für Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen.

 

Joseph S. Nye: Do Morals Matter? Presidents and Foreign Policy from FDR to Trump. New York: Oxford University Press 2020. 256 Seiten, 18,99 US-Dollar

G. John Ikenberry: A World Safe for Democracy. Liberal Internationalism and the Crises of Global Order. New Haven: YUP 2020. 432 Seiten, 30,00 US-Dollar

Patrick Porter: The False Promise of Liberal Order. Nostalgia, Delusion, and the Rise of Trump. Cambridge: Polity 2020. 224 Seiten, 50,00 US-Dollar

 

Dr. Patrick Rosenow ist Leitender Redakteur der Zeitschrift Vereinte Nationen und arbeitet zu den Beziehungen zwischen den USA und den VN.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai-Juni 2021, S. 120-123

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