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01. März 2006

Für eine Bibliothek der politischen Bilder

Kultur

Ikonographische Darstellungen bieten Einsicht in die Natur von Ideen und Ideologien

Dass die Heraldik eine bloße Hilfswissenschaft der Historiker ist, gilt schon lange nicht mehr. Bilder und Embleme der Staaten und Ideologien können wertvolle Einsichten in die Natur der geschichtlich wirkenden Kräfte vermitteln. Seit die Geisteswissenschaften sich der Bilderwelt zugewandt haben, ist man dafür aufmerksamer geworden: Kaum eine konzisere Einführung in die Geschichte und Vorgeschichte des Zionismus dürfte es geben als Gershom Scholems Abhandlung über das Zeichen, in dem diese Richtung vor hundert Jahren auftrat, das Davidschild, den sechseckigen Stern, die sich im ersten Band seiner „Judaica“ findet. Und in die neuzeitlichen Staatslehren in der Nachfolge von Thomas Hobbes gibt gerade die Analyse ihrer Bilderwelt in Carl Schmitts „Leviathan“ und in den Arbeiten von Horst Bredekamp tiefe Einblicke. Man möchte sich eine kleine Bibliothek der politischen Bilder und Metaphern wünschen, die monographisch das Sternenbanner oder die grüne Fahne des Propheten behandelte – diese Farbe nämlich bezieht sich nicht einfach auf die pflanzliche Fruchtbarkeit, wie sie einem Wüstenvolk als Heilszeichen nahe liegen musste, sondern auf die 55. Sure des Korans, wo sie als Paradiesfarbe, allein den Gläubigen vorbehalten, erwähnt wird. Farben, Zeichen und Fahnen stiften ebenso sehr Identität wie sie ausschließen, sie sprechen zur „Seele“, wie man früher gesagt hätte. Zu solcher politischen Ikonographie haben gerade die Deutschen allen Grund, deren Staatsflaggen so häufig wechselten. Meine Mutter, Jahrgang 1915, erlebte gerade noch die schwarz-weiß-rote des Kaiserreichs, als Schulkind die schwarz-rot-goldene der Weimarer Republik seit 1919, die „Doppelherrschaft“ von Hakenkreuz und kaiserlichem Schwarz-Weiß-Rot zwischen 1933 und 1935, dann, als Studentin bis 1945 ausschließlich das Hakenkreuz. Dann kam eine flaggenlose Zeit, eine staatlose, die bis 1949 dauerte, dann wieder Schwarz-Rot-Gold, und in der DDR, die meine Mutter nur als Besucherin erlebte, mit Hammer und Zirkel versehen, die 1990 verschwanden. Über die Trikolore existiert eine hervorragende Abhandlung von Raoul Girardet im ersten Band der Reihe, die sich den französischen „Erinnerungsorten“ widmet, den „Lieux de Mémoire“; eine vergleichbare über Schwarz-Rot-Gold mit seinen ursprünglich nationalrevolutionären Implikationen kenne ich nicht.

Zwei Bücher vor allem sind es, die man als deutsche Muster einer kommenden politisch-ikonographischen Bibliothek ansehen kann: Die gerade erschienene Abhandlung des Theologen Friedrich Wilhelm Graf über die Bildgeschichte der Zehn Gebote (Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, 2006) und eine Studie des Frankfurter Rechtshistorikers Michael Stolleis (Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher, 2004). Dabei hat Graf vor allem den Pluralismus moderner Gesellschaften im Auge. Ein wenig zu kurz kommt aber, dass die Zehn Gebote ursprünglich eine reine Binnenmoral vorschrieben – im Krieg um das von Gott versprochene Land galten andere und härtere Gesetze, wie aus 5. Moses 20 klar hervorgeht.

Für die gegenwärtige Idee des Rechtsstaats europäischer und amerikanischer Prägung steht der knappe Essay, den Stolleis dem selten gewordenen Bild vom „Auge des Gesetzes“ gewidmet hat. Seine Geschichte führt vom europäischen Absolutismus, der die strahlende Sonne als Herrscherzeichen im Zentrum seiner Ikonographie hatte, in die Epoche nach den religiösen Bürgerkriegen, die das Gesetz immer reiner, immer unpersönlicher in den Mittelpunkt des Staatsdenkens stellte. Allegorien des Rechts nahmen seit dem 18. Jahrhundert das Bild auf, nachdem es zuvor als Zeichen des universellen Wissens eine eher esoterisch-philosophische Karriere hinter sich gebracht hatte. Schon Athanasius Kircher zeigte es 1669 in der später obligaten Verbindung mit dem gleichseitigen Dreieck. Aber auch in Verbindung mit dem Zepter tritt es auf: „Es ist das Zeichen der klugen und gerechten Herrschaft. Das Auge steht für die umfassende Fürsorge und Kontrolle, das Zepter für die befehlende Macht. Ein solches Zepter halten vor allem Herrscher in Händen, deren Gerechtigkeit gerühmt wird. Der ägyptische Gott-König Osiris, dessen Hieroglyphenzeichen ein Auge ist, galt als Muster der Gerechtigkeit.“

Den Höhepunkt seiner Beliebtheit hatte das Zeichen in der Epoche der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Noch heute findet man es auf der Ein-Dollar-Note der Vereinigten Staaten: Es steht in einem Dreieck an der Spitze einer gemauerten Pyramide. Sehr zu Recht hat Stolleis hier – immerhin handelt es sich auch um das Staatssiegel – auf die freimaurerische Bedeutung hingewiesen. Das Ägyptische musste der Freimaurerei, die „Zauberflöte“ zeigt es, als Inbegriff einer „überkonfessionellen“ Weisheit nahe liegen. Aber bei dem Hinweis bleibt es, und wer mehr über die Zusammenhänge von Aufklärung und Maurern wissen will, muss in die immer noch lesenswerte Studie des unlängst verstorbenen Reinhart Koselleck schauen: „Kritik und Krise“.

Das Auge sieht und wacht. Man möchte meinen, dass bei einem anthropologisch so sensiblen Bild die literarischen Belege häufig zu finden sein müssten. Dem ist nicht so. Stolleis hat in Schillers „Lied von der Glocke“ den entscheidenden, aber auch einen seltenen Hinweis gefunden: „Schwarz bedecket / Sich die Erde, / Doch den sichern Bürger schrecket / Nicht die Nacht, / Die den Bösen gräßlich wecket, / Denn das Auge des Gesetzes wacht.“ In der Epoche der Restauration bekam das Auge einen negativen Beiklang: Es stand nun für die Überwachung, den Spitzel. Aber schon in der Französischen Revolution hatte das Auge einen polizeilichen Sinn: Wachsam beobachtet die Revolution ihre Gegner. Auf Michel Foucaults Untersuchung „Überwachen und Strafen“ geht Stolleis zurück, wenn er die repressiven Überhöhungen des Bildes behandelt, die in die Idee eines völlig überschaubaren, kontrollierbaren Raumes münden. Für die Gegenwart sieht Stolleis eine Aushöhlung des Symbols: Das Gesetz habe gleichsam seine utopischen Qualitäten verloren: „Über die Zusammensetzung der Parlamente sind alle elitären Illusionen des 19. Jahrhunderts verflogen. Niemand nimmt mehr an, dort würde im freien Diskurs und erleuchtet von der Stimme des Gewissens die beste aller denkbaren Lösungen gefunden. Was im Gesetz abgebildet wird, ist nichts anderes als der mit allen Mediokritäten behaftete Kompromiss des Tages.“ Das entspricht dem gegenwärtigen Selbstbild des Rechtsstaats, der als pragmatisch gesehen werden möchte. Aber über welche ideologischen Energien er darüber hinaus verfügt, ist noch keineswegs ausgemacht. Die Steuerung der Familienpolitik durch die Europäische Union etwa, die auf eine klare Enttraditionalisierung der Rollen hinausläuft, lässt Erinnerungen an die revolutionären Ursprünge des Rechtsstaats wach werden, die Stolleis dem Leser nahe bringt.

Dr. LORENZ JÄGER, geb. 1951, Diplom-Soziologe und Germanist, unterrichtet an japanischen und amerikanischen Universitäten und ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschien von ihm „Adorno.
Eine Politische Biographie“ (2003).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2006, S. 98 - 99.

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