„Für Deutschland wird die Blue Card nicht viel verändern“
Die europäische Zuwanderungsinitiative aus Sicht der Wirtschaft
Deutschlands IT-Branche braucht Fachkräfte; selbst im Krisenjahr 2009 fehlten rund 20 000 Spezialisten. Wird die EU-weite Einführung einer Blue Card für Spitzenkräfte aus dem Ausland da weiterhelfen? Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer von BITCOM, ist nur vorsichtig optimistisch: Als Marketingeffekt sei die Blue Card ein wichtiges Signal – mehr aber auch nicht.
IP: Herr Rohleder, Sie fordern für die IT-Branche seit Jahren eine europäische Initiative zur Anwerbung von Spitzenkräften aus dem Ausland. Nun führt die EU die Blue Card ein. Für Sie ein Anlass zur Genugtuung?
Rohleder: Wir freuen uns, dass es nun eine europäische Einbettung der nationalen Regelungen geben wird und hoffen, dass damit auch die Mobilität der nach Europa eingewanderten Experten zwischen den Mitgliedsstaaten erleichtert wird. Aber für uns in Deutschland wird die Blue Card nicht viel verändern. Sie ist als europäische Richtlinie sehr weich formuliert und lässt viel Freiraum in der nationalen Umsetzung und Festlegung eigener Kriterien.
IP: Sie glauben nicht, dass die Blue Card ein erfolgreicher Türöffner im globalen Rennen um die klügsten Köpfe wird?
Rohleder: Die deutsche Zuwanderungsregelung wird durch die Blue Card kaum beeinflusst werden. Wir haben im Koalitionsvertrag ohnehin die Festlegung der Bundesregierung, dass sie ein auf Kriterien gestütztes Auswahlverfahren einführen will. Das wird kommen, ob mit oder ohne Blue Card. Insofern gehen wir davon aus, dass die Blue Card keinen zusätzlichen Schub erzeugt. Aber wir erwarten von ihr durchaus Signalwirkung in der Welt, wenn Europa sich insgesamt als größter Binnenmarkt positioniert und sagt: Wir sind ein Einwanderungskontinent! Wir öffnen die Türen für hochqualifizierte Experten aus anderen Teilen der Welt. Einen solchen Marketingeffekt erhoffen wir uns, und den brauchen wir auch dringend für den Arbeitsstandort Deutschland.
IP: Aus Sicht Ihrer Branche: Wieso ist die Öffnung unseres Arbeitsmarkts für Hochqualifizierte aus Nicht-EU-Staaten notwendig?
Rohleder: Weil es uns nicht gelingt, über unser Bildungssystem und unsere Weiterbildungsverfahren die Spezialisten, die wir im ITK-Bereich – also für Informationstechnologie und Telekommunikation – dringend benötigen, tatsächlich für den nationalen Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Es gibt seit 15 Jahren ein dauerhaftes Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage. Wir müssen davon ausgehen, dass es auch künftig nicht gelingen wird, das Bildungssystem so anzupassen, dass es den schnellen Technologiezyklen unserer Branche folgen kann. Insofern müssen wir in Deutschland jene Qualifikationen, die wir im eigenen Arbeitsmarkt nicht haben, durch Spezialisten aus dem Ausland ergänzen. Das ist immer besser, als die entsprechende Wertschöpfung ins Ausland zu verlagern. Denn das wäre die Alternative.
IP: Wie groß ist denn konkret Ihr Bedarf an ausländischen Fachkräften?
Rohleder: Es gibt drei aktuelle Studien dazu, eine von BITKOM, eine weitere vom Bundesbildungsministerium und eine von der EU. Alle zeigen einen Nachfrageüberhang, selbst in der Krise. Das ist das Erstaunliche. Wir haben einen ungedeckten Fachkräftebedarf von etwa 20 000 ITK-Spezialisten – und das im Krisenjahr 2009. Im Jahr davor hatten wir 43 000 unbesetzte Stellen. Wir haben es hier also mit einem strukturellen Problem zu tun, nicht nur mit einem konjunkturell bedingten.
IP: Ihre Branche argumentiert, mehr Spitzenkräfte aus dem Ausland würden in Deutschland mehr Innovation und damit mehr Wirtschaftswachstum bringen. Lässt sich das belegen?
Rohleder: Wir wissen das aus der Green-Card-Regelung. Damals gab es eine Reihe von Untersuchungen, die zeigten, dass durch jeden Green-Card-Inhaber, der nach Deutschland kam, zusätzlich zweieinhalb Arbeitsplätze im Land entstanden sind. Das halten wir für eine eher konservative Schätzung. Weiter gefasste Analysen gehen von vier bis fünf Arbeitsplätzen aus, die mittelbar durch einen IT-Arbeitsplatz erzeugt werden, etwa in der Fertigungsindustrie und im Dienstleistungssektor.
IP: Die deutsche Green Card war in den Jahren 2000 bis 2004 ein Versuch der rot-grünen Regierung, IT-Spezialisten nach Deutschland zu holen. Dann brach der Neue Markt zusammen, viele verloren ihre Arbeitsplätze und damit die Aufenthaltsgenehmigung. Die Green Card galt bald als gescheitert. Wird die Blue Card besser funktionieren?
Rohleder: Dass die Green Card gescheitert ist, dem würde ich widersprechen wollen. Sie kam drei Jahre zu spät und hat trotzdem fast 20 000 IT-Experten nach Deutschland gebracht. Sie war auf fünf Jahre befristet, und das war einer der Strickfehler der Green Card. Wir sagten: Kommt hierher, arbeitet für uns, aber nach fünf Jahren schicken wir euch bitteschön wieder nach Hause. Das ist sicher kein Erfolgsmodell von Zuwanderungspolitik. Gut waren allerdings die geringen bürokratischen Hürden für diejenigen, die trotzdem kommen wollten. Sie konnten hier sehr schnell und einfach einen Arbeitsplatz finden und eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung erlangen. Die aktuellen Regelungen bleiben hinter der Green Card zurück. Wir hätten uns gewünscht, diesen pragmatischen Ansatz in Deutschland fortzusetzen.
IP: Wie läuft es seither ab, wenn deutsche Firmen Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten einstellen wollen? Hat das 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz das nicht ermöglicht?
Rohleder: Die Unternehmen können durchaus einstellen, aber es gibt dann Hürden wie eine Vorrangprüfung, die oft unüberwindlich sind. Da gibt es schöne Beispiele, wie hier in Berlin: das mittelständisches Softwarehaus Saperion. Die haben sich ein oder zwei Jahre lang bemüht, zwei Softwarespezialisten aus Asien nach Deutschland zu holen. Das ist letztlich so ausgegangen, dass sie in Zürich eine Filiale eröffnet haben und die beiden Leute dann dort einstellten. Die Behörden in Berlin hatten ihnen in der Praxis der Zuwanderung so viele Steine in den Weg gelegt, dass der Gang in die Schweiz leichter war.
IP: Vorrangprüfung heißt, dass erst geprüft wird, ob nicht doch ein deutscher Arbeitnehmer für den Job zur Verfügung steht …
Rohleder: Ja, und da muss dann ein Behördenmitarbeiter entscheiden und soll verstehen, wo die besondere Qualifikation eines Datenbankspezialisten oder eines SAP-Beraters besteht im Vergleich zu jemandem, der etwas ganz Anderes gemacht hat, vielleicht aus dem technischen Bereich der Telekommunikation freigesetzt wurde. Das ist in etwa so, als würden Sie einen Krankenpfleger als Facharzt für Augenheilkunde einsetzen wollen.
IP: Auch die OECD hat in ihrem Wirtschaftsbericht vom März 2010 die Bundesregierung ermahnt, ausländische Abschlüsse leichter anzuerkennen. Das ist sicher Wasser auf Ihre Mühlen …?
Rohleder: Es ist ein echtes Pro-blem in unserer Branche, weil wir es immer noch in vielen Fällen mit Seiteneinsteigern zu tun haben und es eine unüberschaubare Vielzahl an einschlägigen Qualifikationszertifikaten gibt, von denen viele von Hochschulen kommen, aber eben viele andere direkt von Unternehmen, zum Beispiel von großen Softwarehäusern.
IP: Wie viele IT-Spezialisten und Softwareentwickler aus dem Ausland haben es in den vergangenen Jahren dennoch durch dieses Nadelöhr geschafft?
Rohleder: Wir haben Zahlen für 2008, da sind rund 4000 Hochqualifizierte mit befristeten Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen eingewandert. Gerade mal so viel wie damals durch die Green Card pro Jahr gekommen sind. Weniger als 150 haben eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten, die an sehr hohe Hürden geknüpft ist.
IP: Ist daran wirklich nur unsere restriktive Regelung für Arbeitsmigration verantwortlich?
Rohleder: Es gibt dafür eine Reihe von Gründen. Wir scheinen als Lebensstandort zu unattraktiv. Die Tourismusbehörden machen im Ausland Werbung für Schloss Neuschwanstein und das Oktoberfest, aber nicht für einen Arbeitsplatz in der IT-Branche. Das muss man einem Inder zuerst mal erklären, warum er nach Deutschland gehen soll und nicht in die USA, zumal er unseren IT-Standort nicht als führend wahrnimmt. Wir müssen mehr Standortwerbung im Ausland betreiben, damit qualifizierte Leute Deutschland überhaupt in Erwägung ziehen.
IP: Sie haben einmal gesagt, für einen indischen IT-Experten komme es gar einer Strafexpedition gleich, nach Deutschland zu gehen …
Rohleder: Ja, denn es gibt hier keine indischen oder chinesischen Communities wie in den USA. Jemand, der aus Indien hierher kommt, geht in die soziale Diaspora. In Großbritannien oder Irland gibt es bereits starke Gruppen von Zugewanderten aus den letzten Jahren und Jahrzehnten. Insofern hat Europa durchaus Chancen, sich gegenüber den USA, Kanada oder Australien zu positionieren – nur Deutschland nicht unbedingt. Die Frage ist also, wo positionieren wir uns?
IP: Das heißt, Deutschland ist zwar die stärkste Volkswirtschaft in Europa, muss aber internationaler werden, um für Spitzenkräfte aus aller Welt attraktiv zu werden?
Rohleder: Wir haben systemische Nachteile im Sinne der gesellschaftlichen Struktur und auch der Sprachbarrieren, die wir in anderer Form ausgleichen müssen. Dies ist schon eine besondere Herausforderung für uns.
IP: Bislang sind in der EU unter allen Zugewanderten nur fünf Prozent hochqualifiziert, in den USA sind es rund 55 Prozent – wie interpretieren Sie diese Verhältnisse angesichts einer globalisierten, arbeitsteiligen Welt?
Rohleder: Wenn die Zahlen richtig sind, sollte uns das nachdenklich stimmen. Wenn es so ist, dass die Höchstqualifizierten einen weiten Bogen um uns machen und in die USA gehen, müssen wir mehr tun, um an dieser Stelle attraktiv zu werden.
Das Interview führte Corina Weber.
BERNHARD ROHLEDER ist Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Informationswirtschaft,Telekommunikation und neue Medien e.V. (BITKOM) in Berlin. Zuvor war er u.a. Generalsekretär des europäischen Spitzenverbands der IT-Branche (Eurobit, Brüssel/Frankfurt) und Geschäftsführer des Marktforschungsinstituts European Information Technology Observatory (EITO). Rohleder ist Sachverständiger in der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestags „Internet und digitale Gesellschaft“.
Internationale Politik 4, Juli/August 2010, S. 80 - 83
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