Farce, Faustpfand, Fernziel?
Eine turbulente türkische Innenpolitik stellt den Westen vor die Gretchenfrage
Mit seiner Politik der verbrannten Erde gegenüber der Gülen-Bewegung stellt Erdogan die EU vor existenzielle Fragen. Wann wird Einheit um der Einheit willen zur Farce? Auf alle Fälle sollte Brüssel die zarten Anzeichen gesellschaftsübergreifender Versöhnung als Chance nutzen, um sich wieder aktiver in den Transformationsprozess einzuschalten.
„Eilmeldung: Erdogan hat alle gefeuert.“ Was der libanesisch-irakische Blogger Karl Sharro wenige Tage nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli scherzhaft umschrieb, ist für Tausende Staatsbedienstete bittere Realität geworden.
Als „direkte“ und „indirekte“ Putschisten wurden in den ersten Tagen nach dem Putschversuch fast 150 Generäle und Admiräle sowie fast 6000 weitere Soldaten festgenommen. Im direkten Nachgang wurden Tausende Richter und Staatsanwälte entlassen ebenso wie weit über 17 000 Polizisten und weitere Staatsbedienstete – darunter mindestens 80 Gouverneure und Inspekteure.
Auch Medien und Bildungseinrichtungen blieben nicht verschont: 24 Radio- und Fernsehstationen wurde die Sendelizenz entzogen, 21 000 Privatschullehrer und mehr als 1500 Universitätsdekane wurden mit sofortiger Wirkung suspendiert. Mehr noch als eine direkte Reaktion auf den Putsch stellt diese umfassende Rochade im Staatsapparat den vorläufigen Höhepunkt einer seit Jahren auf Machtzentralisierung ausgelegten Politik von Recep Tayyip Erdogan und seiner AKP dar.
Es sieht so aus, als stehe die EU im Umgang mit der Türkei vor den gleichen Fragen wie gegenüber Ungarn, Polen, Russland oder Ägypten. Wie weit lassen sich Differenzen über eine einst gemeinsam, formell oder informell, vereinbarte Werteordnung akzeptieren, ohne eben diese Ordnung zu untergraben? Wann wird Einheit um der Einheit willen zur Farce und Sicherheitspolitik im Bündnis zu einem „schmutzigen Geschäft“?
Blankoscheck für die Regierung
Bereits am 16. Juli erklärte die Regierung von Premierminister Binali Yildirim den Putsch für gescheitert. Vier Tage später stimmte das türkische Parlament dennoch der Verhängung eines dreimonatigen Ausnahmezustands durch Präsident Erdogan zu, der diesem nicht nur das Regieren per Dekret erlaubt, sondern auch die Verfügung von Ausgangssperren, Demonstrationsverboten und massiven Einschränkungen der Pressefreiheit.
Besorgniserregend ist beispielsweise, dass die Dauer des maximalen Polizeigewahrsams von vier auf 30 Tage erhöht wurde. Das allein mag nicht das Ende der türkischen Rechtsstaatlichkeit sein – schließlich ist die Ausrufung des Ausnahmezustands klar in Artikel 120 der Verfassung geregelt. Der wahre Grund zur Sorge liegt in dem großen Interpretationsspielraum, den die Exekutive hier erhält. Anlass für den Ausnahmezustand sind laut Verfassung „weit verbreitete Gewaltakte zur Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Ordnung“ oder ein „gravierender Verfall der öffentlichen Ordnung“. Wie genau das von Erdogan persönlich proklamierte Ziel, die als terroristische Organisation eingestufte Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen „vollständig und rasch zu eliminieren“, erreicht werden soll, bestimmt offensichtlich Erdogan selbst – ein Freibrief für die Verfolgung Andersdenkender aller Couleur?
Der überaus vagen zeitlichen Begrenzung des Ausnahmezustands steht eine ebenso schwammige, der Ernsthaftigkeit des Eingriffs in die Gewaltenteilung kaum angemessene Begründung seiner Notwendigkeit gegenüber. Die Interpretation, wann die von Erdogan ausgemachte Bedrohung „der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Rechte und Freiheiten der Bevölkerung“ beigelegt ist, liegt alleine in seinem Ermessen; bereits am Tag nach der Ausrufung kündigte der Präsident an, der Ausnahmezustand müsse möglicherweise verlängert werden.
Auf eine weitere Zentralisierung der politischen Macht im Präsidentenpalast weist auch die jüngst beschlossene Reform der Sicherheitskräfte hin, die nach der Entlassung von fast 1700 Offizieren per Dekret am 27. Juli einen zukünftigen Putsch verhindern soll. Zwar wird die zivile Regierung mit der Unterstellung von Militärpolizei, Polizei und Küstenwache unter den Innenminister und von Land-, Luft- und Seestreitkräften unter den Verteidigungsminister zusätzliche Kontrollmöglichkeiten erhalten, die seit Langem in EU-Fortschrittsberichten gefordert werden. Der Generalstabschef aber wird künftig nicht mehr dem Premierminister, sondern dem Präsidenten direkt unterstellt sein, und von einer längst überfälligen Novellierung der parlamentarischen Kontrolle war bisher nicht die Rede.
Auch hinter dieser Reform steht offenbar nicht der Wille zur Demokratisierung politischer Institutionen durch eine effektive Gewaltenteilung, sondern ihre Unterwerfung und Zähmung durch ein „Teile und herrsche“-System. Der Verdacht liegt nahe, dass das eigentliche Ziel nicht die Wiederherstellung der inneren Sicherheit ist, sondern der persönliche Machterhalt Erdogans und letztlich auch eine dauerhafte Ausweitung seiner Macht durch eine entsprechende Verfassungsänderung.
Fragiler Burgfrieden
Die Rhetorik gegenüber den Putschisten und ihren vermeintlichen Unterstützern im Ausland ist durchweg martialisch. Gleichzeitig üben sich Vertreter der AKP und der parlamentarischen Opposition derzeit immer wieder in versöhnlichen Gesten. Alle Oppositionsparteien hatten sich umgehend vom Putschversuch distanziert und ihn in einer gemeinsamen Erklärung verurteilt. Im Nachgang der vielen Terroranschläge in den vergangenen Monaten hatte man sich dazu nicht ein einziges Mal durchringen können. Am 28. Juli beschloss das Parlament einstimmig die Einrichtung einer eigenen Putsch-Untersuchungskommission.
Die ungewohnte Einigkeit in den Reihen der Opposition hat zweifellos damit zu tun, dass man sich bisher zwar nicht auf eine gemeinsame Strategie gegen die AKP, aber durchaus auf die gemeinsame Gegnerschaft zur Gülen-Bewegung einigen konnte. Das gilt vor allem für die prokurdische HDP, deren Wortführer Gülen und seine Anhänger in Justiz und Militär explizit der Unterwanderung des Friedensprozesses beschuldigt hatten. Nun liegt die kürzlich im Parlament beschlossene Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten auf Eis, die mit ihr befassten Justizbeamten wurden ihrer Posten enthoben und unter den festgenommenen Generälen sind, wie Adem Huduti, einige direkt mit den Operationen der Armee im Südosten betraut gewesen. Trotz dieser neuen, versöhnlichen Signale gegenüber der kurdischen Minderheit sind die Vertreter der HDP jedoch weiterhin von den überparteilichen Konsultationen über eine gemeinsame Post-Putschstrategie ausgeschlossen.
Konservativer Schulterschluss?
Es war ein Zeichen der Versöhnung, als jetzt erstmals Funktionäre der Oppositionsparteien CHP und MHP gemeinsam den Präsidentenpalast für Konsultationen aufsuchten. Im Gegenzug ließ Erdogan die Beleidigungsklagen gegen sie fallen, erlaubte zum ersten Mal seit 2013 Demonstrationen ihrer Anhänger auf dem Taksim-Platz und hielt sich auch in Sachen Verfassungsänderung auffällig zurück. Im Interview mit Al-Dschasira betonte er ausdrücklich, man werde „niemals von einem demokratisch-parlamentarischen System abweichen“.
Die Reaktivierung pensionierter kemalistischer Generäle mag auch der schieren Notwendigkeit geschuldet gewesen sein, die durch die Verhaftungen bis zum Bersten gespannte Personaldecke zu stabilisieren. Doch nimmt man sie zusammen mit dem vergleichsweise sanften Vorgehen gegen kritische, aber zumindest nicht Gülen-nahe Medien, dann könnte das darauf hindeuten, dass die klare Priorisierung Gülens als Staatsfeind Nummer eins fast schon zu einem Schulterschluss mit konservativ-nationalistischen und säkularen Kräften geführt hat.
Doch hat nicht erst die Regierung selbst Gülen und seinen Anhängern zu der Machtfülle verholfen, die sie nun bekämpft? Man sei bewusst von Anhängern der Bewegung hinters Licht geführt worden, entgegnet die Regierung auf entsprechende Vorwürfe (und zwar in nahezu jedem politischen Skandal der jüngeren Vergangenheit, dessen Aufklärung von der Regierung verschleppt oder gar verhindert worden war).
Der Gülen-Bewegung nahestehende Polizisten und Justizbeamte sollen nicht nur die Sexvideos geleakt haben, die mehrere CHP- und MHP-Spitzenfunktionäre 2011 zum Rücktritt zwangen, sondern auch in die Ermordung des Schriftstellers Hrant Dink verwickelt gewesen sein.
Für besondere Aufmerksamkeit sorgte die Ankündigung der Regierung, die Hintergründe des Luftschlags von Uludere aufklären zu wollen, bei dem im Dezember 2011 nicht etwa PKK-Kämpfer, sondern 34 meist minderjährige kurdische Zivilisten getötet wurden. Erdogan hatte sich seinerzeit persönlich vor Generalstabschef Necdet Özel gestellt; mittlerweile befindet sich ein damals zuständiger Kommandeur der Gendarmerie als mutmaßlicher Putschist in Haft.
Tiefsitzendes Misstrauen
Die Hoffnung, dass der aktuelle Burgfrieden sich in eine dauerhafte politische und gesellschaftliche Versöhnung übertragen lassen werde, teilen nur wenige Beobachter; das gegenseitige Misstrauen sitzt weiterhin tief. Akte der Lynchjustiz und gewaltsame Übergriffe auf Angehörige der alevitischen Minderheit haben dazu ebenso beigetragen wie Berichte über Folter an Häftlingen. Unter der kurdischen Bevölkerung im Südosten wächst zudem die Sorge vor einer Rückkehr staatlicher Willkür unter dem Deckmantel des Ausnahmezustands, dem zwischen 1987 und 2002 Tausende unter ungeklärten Umständen zum Opfer fielen.
Auch wenn der Konflikt zwischen Gülen und Erdogan das antikemalistische Lager seit 2013 spaltet und die AKP nach dem Putsch die eigene Parteizentrale medienwirksam mit einem Riesenporträt des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk schmückte, sehen viele in der Schlüsselrolle der Moscheen und der staatlichen Religionsaufsicht Diyanet bei der Mobilisierung der Bevölkerung gegen die Putschisten ein klares Zeichen für die steigende Verflechtung von Religion und Politik.
Alle, die auch nur im Verdacht stehen, etwas mit der Gülen-Bewegung zu tun gehabt zu haben, sehen düsteren Zeiten entgegen. Seit einigen Jahren schon versucht die Regierung, den über Jahrzehnte gewachsenen Einfluss der Bewegung in Medien und Bildungseinrichtungen massiv zurückzudrängen – bis hin zu Schließungen und Enteignungen wie im Fall der Tageszeitung Zaman oder der Fatih-Universität in Istanbul.
Selbst das international renommierte Forschungsinstitut USAK wurde kürzlich mit Verweis auf seine vermeintlichen Verbindungen zu Gülen geschlossen – ein Vorwurf, den die Institutsleitung offiziell bestreitet. Für Absolventen und Mitarbeiter dieser Einrichtungen könnten, wie schon nach dem Militärputsch 1997, weitere Karrierewege verschlossen bleiben. Eine Abwanderungsbewegung ins Ausland ist hier ebenso zu erwarten wie im Fall der säkularen-liberalen Gesellschaftsgruppen, für die der Schulterschluss der Konservativen – seien sie kemalistischer, religiöser oder nationalistischer Prägung – kaum eine Zukunftsperspektive verspricht.
Gegen die Wand
Die Frage, ob und mit wem sich Präsident Erdogan in Zukunft die politische Macht in der Türkei teilen muss, lässt sich derzeit noch nicht beantworten. Fest steht jedoch, dass der Putschversuch und die Reaktionen darauf die Beziehungen zwischen der Türkei und ihren westlichen Verbündeten in ihre bisher schwerste Krise geführt haben. Und das in einer Zeit, in der die Türkei zu einem der strategisch wichtigsten NATO-Staaten und zu einem Partner der EU geworden ist, der sich Kanzleramtsminister Peter Altmaier zufolge zeitweise „europäischer als manches EU-Land“ verhielt.
Die Lage zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer macht die Türkei gleich in zweifacher Hinsicht zum Frontstaat. Türkische Militärflugzeuge und -schiffe operieren nicht nur im Kampf gegen den IS, sondern auch gegen Piraterie sowie Waffen- und Menschenhandel im Mittelmeer. Türkische Soldaten bilden irakische Sicherheitskräfte für den Einsatz gegen den IS aus und nehmen an allen NATO- und vielen UN-Missionen teil; derzeit sind es über 500 allein im Rahmen der Ausbildungs- und Unterstützungsmission „Resolute Support“ in Afghanistan.
Hinzu kommt, dass die Türkei sich in Syrien und im Irak entlang der russisch-iranischen Linie vermutlich neu orientieren und ihre bisherige, auch von den westlichen Partnern oft kritisierte Blockadehaltung gegenüber Assad und der Zentralregierung in Bagdad aufgeben wird. Allein die enorme Geschwindigkeit der Wiederannäherung mit Moskau weist jedoch auf Bestrebungen Ankaras hin, Sicherheitspolitik in Zukunft unabhängiger zu gestalten – das Verhältnis zu Washington liegt derweil in Scherben.
Wiederholt hatten US-Vertreter die innenpolitische Entwicklung der Türkei scharf kritisiert, der scheidende Präsident Barack Obama hatte Erdogan zuletzt sogar ein persönliches Treffen beim Warschauer NATO-Gipfel verweigert. Umgekehrt hatte Erdogan die Zurückhaltung westlicher Staaten gegenüber dem ägyptischen Putsch 2013 wiederholt verurteilt. Auch die Tatsache, dass keine der vier vorangegangenen und teils ausgesprochen gewaltsamen Phasen von Militärherrschaft in der Türkei seit dem Beitritt zur Allianz 1952 von den NATO-Partnern öffentlich verurteilt wurde, schürt in der Bevölkerung seit Jahrzehnten das Misstrauen gegenüber der Standfestigkeit demokratischer Prinzipien auf westlicher Seite, wenn diese strategischen Interessen im Wege stehen
Aus dem Streit um die Aufarbeitung der Putschnacht, der bis hin zu Vorwürfen der Mittäterschaft der USA durch türkische Regierungsmitglieder reicht, geht bisher vor allem einer als lachender Dritter hervor: der russische Präsident Wladimir Putin. Er rief seinen türkischen Amtskollegen nicht nur in der Putschnacht an, sondern war auch der erste, der ihn danach zu einem persönlichen Treffen einlud. Eine Entfremdung der Türkei bis hin zu einem möglichen Austritt aus der NATO und eine vertiefte sicherheitspolitische Kooperation mit Russland und dem Iran könnten sich für den Westen zu einem regionalpolitischen Albtraum entwickeln, vergleichbar mit der iranischen Revolution 1979.
Drohungen und Beschuldigungen
Auch zwischen EU und Türkei hat die Aufarbeitung des Putschversuchs nicht zu einem Schulterschluss gegen eine drohende Militärherrschaft geführt, sondern zu einem heftigen Austausch gegenseitiger Schuldzuweisungen und Sanktionsdrohungen. Das mag auch daran liegen, dass eine große Mehrheit der politischen Eliten in Westeuropa die Türkei nur noch als Formaldemokratie sieht, die sich zwar oberflächlich zu den Kopenhagener Kriterien und damit dem europäischen Wertekanon bekennt, diese aber vor allem bei der Meinungsfreiheit sowie der Macht- und Gewaltenteilung quasi permanent unterwandert.
Wie soll man den Machterhalt eines demokratisch gewählten Präsidenten bejubeln, wenn dieser selbst friedliche Demonstranten gewaltsam auseinandertreiben lässt und kritische Journalisten mit Strafanzeigen übersät? Für die EU kommt die Diskussion um den Putschversuch zur Unzeit, auch weil es Ankara aus einer Position der moralischen Stärke heraus gelingen könnte, mit der Debatte um die Wiedereinführung der Todesstrafe – ohne formal das Beitrittsgesuch zurückzuziehen – die technischen Kriterien für den Beitritt zu politisieren.
Das Argument, die EU könne nicht der Türkei verbieten, die Todesstrafe einzuführen, gleichzeitig aber mit den USA, die an der Todesstrafe festhalten, über ein Freihandelsabkommen verhandeln, verfängt vielleicht nicht in Brüssel, wohl aber in weiten Teilen der türkischen Gesellschaft. Nicht der klar regelwidrige Rückbau des türkischen Rechtsstaats, sondern rassistische Vorbehalte der Europäer stünden einem Beitritt im Wege. Diese Annahmen haben nach dem gescheiterten Putschversuch und der zu zögerlichen, zu ambivalenten Reaktion der EU zusätzlich an Auftrieb gewonnen.
Niemand kann an einem formalen Abbruch der Beitrittsverhandlungen ein Interesse haben – mit Ausnahme einiger Drittstaaten, zu denen NATO und EU seit einiger Zeit problematische Beziehungen unterhalten, sowie antiwestlicher bzw. antiliberaler Bewegungen auf beiden Seiten
Fatale Folgewirkungen
Das gilt nicht nur vor dem Hintergrund der enormen politischen Kosten und der fatalen Außenwirkung, die ein solcher Schritt für die Integrationsfähigkeit und Anziehungskraft der EU für künftige Mitglieder und aktuelle Partner hätte. Schon jetzt drohen innereuropäische Spannungen über die Lastenteilung in der Flüchtlingskrise neu aufzuflammen. Nach dem Trauma des Brexit wäre dies erneut ein schwerer Schlag.
Das große Versagen der EU im Umgang mit der Türkei liegt wohl darin, nach 2005 den Anspruch an eine demokratische Transformation im Zuge des Beitrittsprozesses aufgegeben zu haben. In der aktuellen Debatte wird auch in der Türkei gerne vergessen, dass es die EU war, die Ende der neunziger Jahre Druck auf das Militär ausgeübt hatte, sich aus der Politik zurückzuziehen. Auch die Stärkung der zivilen Kontrolle des Militärs durch die AKP seit 2002 war in den EU-Fortschrittsberichten stets begrüßt worden. Noch im Herbst 2012 hatte der damalige Parlamentssprecher Bülent Arinc erklärt, die Aussicht, mit Hilfe der EU das Militär in die Schranken weisen zu können, sei für ihn und andere AKP-Politiker ein gewichtiger Faktor dafür gewesen, den Beitrittsprozess voranzutreiben.
Jetzt, wo dieses Ziel erreicht ist, fehlt es auf beiden Seiten nicht nur am politischen Willen für eine weitere Integration; es gibt gar keine Vision einer Partnerschaft mehr, die auf europäischer Seite über das Outsourcen von Grenzsicherung, Resettlement von Flüchtlingen und Terrorbekämpfung und auf türkischer Seite über die Sicherung ausländischer Investitionen, Touristenzahlen und Absatzmärkte für den Energietransport hinausginge.
Politiker beider Seiten betonen immer wieder, dass man sich gegenseitig brauche. Dass aber von einer Partnerschaft aus freiem Willen schon lange nicht mehr die Rede sein kann, zeigen Forderungen, die EU-Heranführungshilfe genau dann zu kürzen, wenn ein Ausnahmezustand droht, die Spielräume einer proeuropäischen Zivilgesellschaft dramatisch einzuschränken. Wesentlich erfolgversprechender als die zurzeit betriebene Vogel-Strauß-Methode wäre es, die Diskussion über derzeit drängende Themen wie die europäische Grenzsicherung oder Antiterrorbekämpfung von der Diskussion darüber zu entkoppeln, was der türkische Beitrittsprozess aus EU-Perspektive überhaupt noch sein kann – Farce, Faustpfand oder Fernziel?
Für diejenigen, die tatsächlich für Letzteres votieren, ist es vor allem geboten, die derzeitigen – wenn auch zarten – Anzeichen gesellschaftsübergreifender Versöhnung ernst und als Gelegenheit wahrzunehmen, sich wieder aktiver in den Transformationsprozess einzuschalten.
Dr. Magdalena Kirchner ist Transatlantic Post-Doc Fellow for International Relations and Security (TAPIR) bei der RAND Corporation in Arlington, VA, USA.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2016, S. 60-66