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01. Sep 2021

Falscher Fokus Frontex

Bis vor Kurzem wurde Europas Grenzschutzbehörde als Lösung für praktisch jedes Problem gesehen. Im Versagen von Frontex bei der Bekämpfung des Schattenhandels offenbart sich allerdings ein viel größeres Problem: Die EU ist den jüngsten krisenhaften Veränderungen in der Weltpolitik schlicht nicht gewachsen.

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Bild: Flüchlinge auf einem Schlauchboot im Mittelmeer, dahinter ein Frontex-Schiff
Wenn man nichts anderes hat als eine Behörde, sagt ein Vertreter der EU-Kommission, behandelt man alles als ein technisches Problem: Von einem Frontex-Schiff begleitet, landen Migranten auf der Insel Lesbos an.
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Heute mag es offensichtlich erscheinen, dass Frontex nicht die richtige Organisation ist, um den illegalen Handel zu bekämpfen. Gibt es überhaupt eine Zuständigkeit, für die diese Behörde geeignet ist? Frontex hat es nicht einmal geschafft, ihre Kernaufgaben ohne Tricksereien zu erfüllen. In einem Bericht des Europäischen Rechnungshofs vom Juni 2021 wurde die Frage gestellt, wie gut die Grenzschutzbehörde ihr 2016 erweitertes und 2019 erneut überarbeitetes Mandat erfüllt hat. „Wir kamen zu dem Schluss, dass die Unterstützung von Frontex für die Mitgliedstaaten/assoziierten Schengen-Länder bei der Bekämpfung der illegalen Einwanderung und der grenzüberschreitenden Kriminalität nicht ausreichend wirksam ist.“ Im Folgemonat urteilte eine Gruppe von Europaabgeordneten in einem Sonderbericht, dass Frontex bei den Operationen unter ihrer Führung ein Auge zudrücke, wenn Mitgliedstaaten an ihren Grenzen Migranten zurückdrängen.



Also: These bewiesen? Nicht ganz. Als wir das erste Mal über diese Sonderausgabe der Internationalen Politik diskutierten, stellte sich die Situation noch ganz anders dar. Der Lockdown hatte die irreguläre Migration auf ein Zehn-Jahres-Tief gedrückt und Frontex eine Atempause von ihrem Kerngeschäft verschafft. Kriminelle, die gefälschte Arzneimittel über die Grenze nach Europa hinein- und gestohlenes Eigentum und Bargeld aus Europa herausschmuggeln, hatten Hochkonjunktur. Die Grenzschutzagentur achtete sorgsam darauf, in ihren offiziellen Erklärungen auf Europol und die nationalen Polizeibehörden zu verweisen. Aber im vertraulichen Gespräch beschrieben Frontex-­Beamte die Agentur als die wichtigste Strafverfolgungsbehörde Europas. Die Reihe von europäischen Krisen, von der Migrationskrise 2015/2016 bis zur Covid-19-Pandemie seit Anfang 2020, hatte den Ehrgeiz der Agentur beflügelt. Ein Europaabgeordneter drückte das so aus: Der Frontex-Chef wolle „mehr und mehr und mehr“.



Allerdings sind die Politikerinnen und Politiker, die Frontex heute als überzogen ehrgeizig kritisieren, dieselben, die diese Ambitionen überhaupt erst genährt haben. Frontex-Chef Fabrice Leggeri, ein ehemaliger Kommissionsbeamter, wurde von ehrgeizigen Unterstützern in Brüssel ermutigt, sich neue Befugnisse zu verschaffen. Und das ist die eigentliche Botschaft dieses Artikels: Es geht nicht darum, dass Frontex in Bezug auf neue Aufgaben und Befugnisse viel zu ehrgeizig war, sondern dass die Behörde von den Gesetzgebern, auch in Berlin, genau dazu ermutigt wurde.



Die EU hatte es sich angewöhnt, Frontex als Ersthelfer für die aus Chaos und Unordnung entstehenden Probleme im In- und Ausland zu betrachten. Dies ist ein Anzeichen für grundlegende Schwächen der EU im Umgang mit Problemen der internationalen Ordnung. Die „Agencification“ der europäischen Außenpolitik (ein Fachwort für die Auslagerung von immer mehr Aufgaben in Unterbehörden – nicht mein Begriff) ist ein weiterer Beweis dafür, dass die EU nicht in der Lage ist, die großen Probleme zu bewältigen.



Wie auch aus anderen Beiträgen dieser Sonderausgabe hervorgeht, wird an den Veränderungen im illegalen Handel – im Umfang und in der Art, wie die Täter vorgehen – etwas deutlich: dass sich die innere Logik des weltweiten Geschehens verschoben hat. Diese jüngsten Veränderungen deuten auf Chaos und Macht­politik.



Abgeordnete in Brüssel diagnostizieren sie zu Recht als Zeichen einer „schief gelaufenen Globalisierung“. Sie sehen diese Veränderungen als das Ende der nach 1989 entstandenen Ordnung der Welthandels­organisation (WTO) und der Weltbank. Doch als Reaktion auf diese große Veränderung haben sie eine Behörde losgeschickt, die nur einen technischen Auftrag hat. In ihrer Diagnose kommen die Abgeordneten zu dem Schluss, dass Europas eigenes Marktversagen diese internationalen Probleme verursacht. Einer der Redner war sehr bedrückt, als er darüber sprach, wie die Marktintegration heute von Verbrechern und Kleptokraten vorangetrieben wird, was in den Nachbarländern Europas zu Instabilität führe. Und doch haben sich die Gesetzgeber entschieden, eine Einwanderungsbehörde zu betrauen, gerade so, als ob Europa Schutz vor der Außenwelt bräuchte.



Wenn sich aber Normalbürgerinnen und -bürger fragen, warum nun gerade eine Migrationsbehörde mit der Bekämpfung des Schattenhandels beauftragt wurde – warum stellen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs und die Europaabgeordneten diese Frage nicht?



Frontex’ „Beförderung“

Wie kam es dazu, dass eine Behörde, mit der die meisten Leser Einwanderungskontrolle verbinden, sich mit illegalem Handel und allgemeiner Kriminalität befasst? Ein Grund ist Größenwahn. Schon fast seit ­ihrer Gründung im Jahr 2005 hat sich Frontex als eine Mehrzweckagentur positioniert. Man erinnere sich: Die Schengen-Zone, als sie ins Leben gerufen wurde, war das Vorzeigeprojekt der EU. Als ihre Hüterin wollte die Behörde eine Vorreiterrolle in der europäischen Ordnung spielen. Das erste Leitungsteam betrachtete Frontex als intelligente zivile Behörde und nicht als Grenzschutztruppe (die militarisierten Kräfte, die im Kalten Krieg die Grenze zwischen Ost und West bewachten). 2011 wurde das Frontex-Mandat überarbeitet. Die Leitung der Behörde wollte sie nun als Grenzpolizei positionieren, die mit Europol um Aufgaben konkurriert. Damals wurde das vom Bürgerrechtsausschuss des Europäischen Parlaments verhindert, der der Meinung war, Frontex würde sich übernehmen. Doch das änderte sich schon bald.



Die Flüchtlingskrise von 2015 stützte die Argumentation, dass Frontex eine angemessene Rolle bei der Strafverfolgung erhalten sollte. Migranten wurden wie anderes Illegale zur „Ware“ gemacht, verpackt und verkauft, von denselben kriminellen Banden und mithilfe derselben Lastwagen. Zigarettenschmuggel und Menschenhandel waren nun Teile desselben Geschäftsmodells. Kriminelle Banden verkauften „Migrationsdienstleistungen“ wie die Beschaffung gefälschter Dokumente und sicherer Unterkünfte für ausländische Kämpfer; terroristische Banden schmuggelten Menschen nach Europa. Darüber hinaus brachten die Flüchtlinge selbst in erheblichem Umfang unregistrierte Waren und Bargeld in die EU. Als Dänemark im Januar 2016 ein Gesetz zur Beschlagnahmung von Wertgegenständen von Asylbewerbern erließ, lieferte dies ein schlagkräftiges Argument für Frontex, sich mit einem erweiterten Spektrum von Kriminalität und Schmuggel zu befassen.



Im Nachgang zum Abschluss des EU-Türkei-Abkommens im März 2016 zogen die EU-Regierungen und -Abgeordneten Bilanz über den Stand der Grenzkontrollen. Sie gaben Frontex klare Anweisungen, die Verbrechensbekämpfung in ihr Konzept des „integrierten Grenzmanagements“ einzubeziehen. Damit hatte Frontex ein Jahrzehnt nach seiner Gründung endlich unter Beweis gestellt, dass es weder Juniorpartner von Europol noch ein primitives Werkzeug zur Grenzkontrolle war.



Ein erfahrener Mitarbeiter sagte mir in einem Café vor dem Warschauer Hauptquartier der Behörde zuversichtlich voraus, dass Europol bald zum bloßen Anhängsel von Frontex degradiert werde. Frontex werde dann Europas wichtigste Strafverfolgungsbehörde werden, die sich der Aufgabe widme, Verbrechen und Kriminelle abzufangen, bevor sie überhaupt in die EU einreisen. Sie werde ihre neuen Exekutivbefugnisse nutzen, um an den Grenzen Informationen zu sammeln.



Die Anfänge von Frontex gehen in das Jahr 2005 zurück. Damals hauste der aus Finnland stammende angehende Direktor in der Lobby eines Warschauer Hotels und hatte hart damit zu kämpfen, 70 Mitarbeiter einzustellen und sich zu überlegen, wie er ein Budget von sechs Millionen Euro ausgeben sollte. Inzwischen ist die Zahl der Frontex-Mitarbeiter auf etwa 800 angewachsen. Vergangenes Jahr begann Frontex dann mit der Rekrutierung und Ausbildung der 10 000 Mitarbeiter des künftigen Grenzschutznetzwerks.



Damit kontrolliert die Behörde etwa 10 Prozent des gesamten Grenzpersonals der EU-27. Im Rahmen ihrer Rekrutierungskampagne hat Frontex Beamte von Europol abgeworben, deren Modell der nachrichtendienstlich gestützten Polizeiarbeit übernommen und ihren mehrjährigen Strategieplanungszyklus kopiert. Von 2016 an erhielt allein die Operational Response Division, zu der die Strafverfolgungseinheit gehört, ein Budget von 116 Millionen Euro.



Aber die Götter haben Frontex für ihren Ehrgeiz gestraft. Der eigentliche Skandal ist, dass die Staats- und Regierungschefs der EU die Behörde als Lösung für den Zerfall der Weltwirtschaft betrachtet haben.



Unzulänglichkeiten der EU

Im Februar 2021 legte sich die EU-Kommissarin für Inneres, die schwedische Sozialdemokratin Ylva Johansson, mit dem Frontex-Exekutivdirektor an. Sie erklärte, dass „das schnelle Wachstum von Frontex eine Herausforderung ist, die bewältigt werden kann, und nicht die Ursache für die Unzulänglichkeiten“. Sie gab dem autokratischen Stil des französischen Exekutivdirektors die Schuld für die ­Fehlentwicklungen. Allerdings musste sie das sagen. Schließlich war es die Europäische Kommission selbst, die das Wachstum von Frontex veranlasst hatte und deren Präsidentin 2019 angekündigt hatte, den Zeitplan für die Entwicklung der Behörde um drei Jahre vorzuziehen.



Jedes Mal, wenn die Kommission Frontex neue Befugnisse übertragen hat, sind die Erwartungen an das, was die Behörde leisten kann, exponentiell gestiegen – und so wurde dann getrickst. Es ist atemberaubend, wie umfassend die EU-Regierungschefs Frontex einsetzen wollten und wie wenig sie als Instrument dazu geeignet ist. An der neuen Rolle der Behörde im Kampf gegen den illegalen Handel zeigen sich vier Ursachen dafür, dass die EU insgesamt nicht in der Lage ist, große strategische Herausforderungen zu bewältigen.



Interdependente Bedrohungen

Das erste Problem ergibt sich aus dem re­gulatorischen Ressortdenken in der Europäischen Union. Auf Sicherheitsbedrohungen hat die EU schon immer mit technischer Spezialisierung reagiert. Durch den Aufbau eines grenzüberschreitenden Marktes sollten alte geopolitische Spannungen auf Probleme reduziert werden, denen durch interne Regulierung begegnet werden kann. Das hatte der Schengen-Raum 1995 für die Spannungen an den Grenzen und den grenzüberschreitenden illegalen Handel erreicht. Die heutige professionelle Konkurrenz zwischen Europol und Frontex ist das Ergebnis eines gesunden Wunsches nach technischer Überlegenheit. Der Global Peace Index zeigt jedoch, dass weltweit die Konflikte und zivile und politische Unruhen in den vergangenen zehn Jahren stark zugenommen haben. Zugleich zeigen die Daten des Gallup World Poll einen steilen Anstieg der gewöhnlichen wie der Organisierten Kriminalität. Während die Gewaltkriminalität zunimmt und sich immer mehr vernetzt, leidet die EU unter ihrer Altlast von kleinteilig denkenden und handelnden Ressorts. Es ist bemerkenswert, dass Frontex kaum mit den Zollbehörden ­zusammenarbeitet.



Die europäischen Zollbehörden hüten einen anderen Markt als Frontex – nicht Schengen, sondern die Zollunion von 1968. Im Jahr 2016 räumte die Kommission ein, dass sich für Europa Risiken durch die Lücken zwischen den Innenministerien (Grenzkontrolle) und den Finanzministerien (Schmuggelbekämpfung), zwischen den Generaldirektionen HOME (Schengen) und TAXUD (Zoll) sowie zwischen Frontex (Einwanderungskontrolle) und OLAF (Steuerbetrug) ergeben.



Sie versuchte, diese letzte Lücke etwas zu verkleinern, indem sie Frontex neue Befugnisse bei der Küstenwache übertrug. Doch bei der Verbrechensbekämpfung auf See müssen zahlreiche Ressortegoismen überwunden werden: Um festzustellen, ob ein Schiff beziehungsweise dessen Crew etwas Böses im Schilde führt, muss Frontex mindestens drei verschiedene Informationen überprüfen – das Schiff selbst, seine Ladung und seine Besatzung. Die bestehenden Schengen-Datenbanken sind aber kaum miteinander verknüpft. Diese Schwäche haben die Schmuggler im Osten und im Mittelmeerraum genau erkannt.



Innere und äußere Sicherheit

Das zweite Problem ergibt sich aus dem Zusammenbruch der Autorität innerhalb der EU. Initiativen wie der Schengen-Raum sind beispielhaft für den Entwicklungsbogen von Exzellenz zu Verfall, was Governance betrifft. Die Aufhebung der Grenzkontrollen in Europa im Jahr 1995 spiegelte die Einschätzung wider, dass die Regierungen durch den Abbau von Handelshemmnissen mehr Einnahmen erzielen würden als durch die Erhöhung von Zöllen. Sie markierte einen Wandel weg vom Aufbau staatlicher Strukturen nach 1945 und hin zu den Vorstellungen von Ronald Reagan und Margaret Thatcher über Bürokratieabbau und Schrumpfung des Staates.



Als die EU die Schengen-Zone einführte, bezog sie noch ein Viertel ihres Haushalts aus Zolleinnahmen; nur fünf Jahre später hatte sich dieser Anteil halbiert. Spätestens 2008 rächte sich allerdings die Abhängigkeit der EU von den Handels- und Finanzströmen, als die Staatshaushalte zusammengekürzt und die Austeritätspolitik eingeführt wurden.



Trotz des Zusammenbruchs der Governance in der EU konzentrieren sich die Europäer weiterhin auf die Probleme außerhalb ihrer Grenzen. 2008 räumte die EU sogar ein, dass sie ihre Nachbarn destabilisiert: Die griechische Staatsschuldenkrise hatte zu einem massiven Einbruch ausländischer Investitionen auf dem Balkan geführt. Die wichtigste Reaktion der EU bestand jedoch darin, Frontex einzusetzen, um Migranten aus dem Kosovo, Albanien und Nordmazedonien abzuwehren. Im Jahr 2011 konzentrierte sich die Behörde vor allem auf Migranten und gestohlene Gegenstände, die aus Konfliktgebieten in Nordafrika und Osteuropa in die EU gebracht wurden. Die Europäer, die nach Syrien und in die Ukraine in den Krieg zogen, wurden von Frontex jedoch übersehen. Vergangenes Jahr, als der Welthandel erneut einbrach, schwenkte die EU von Sparmaßnahmen auf Konjunktur­programme um. Das Ergebnis dieser Finanzspritzen sind Korruption und Kleptokratie überall in Europa. Schmuggelware sickert aus der EU heraus. Aber Frontex hält Wache und hat nur die Schmuggler jenseits der Grenzen im Blick.



Kriminalisierung der Weltwirtschaft

Das dritte Problem entsteht aus den grenz­überschreitenden wirtschaftlichen Abhängigkeiten Europas. Regierungen, die der EU feindlich gesonnen sind, nutzen Schmuggelnetzwerke, um ein gewisses Maß an Autarkie zu erreichen, denn auf diese Weise untergraben sie die wirtschaftlichen Abhängigkeiten, die die EU gezielt aufgebaut hat.



Dass Regierungen und abtrünnige Regionen, vom Kosovo bis ­Transnistrien, ­Verbindungen zu Verbrechern und Schmugglern haben, ist nicht neu. Aber früher handelte es sich um verdeckte Verbindungen, die auf die Schwäche des Staates hindeuteten. Heutzutage setzt ein Land wie Russland ganz unverfroren Schmugglerbanden für seine geostrategischen Ziele ein.



Regierungen, die in der Lage waren, kriminelle Verbindungen zu nutzen, konnten ihrer Bevölkerung im vergangenen Jahr dort, wo die ­Marktmechanismen ­versagten, Zugang zu Arzneimitteln, Schutzausrüstung und Impfstoffen verschaffen. Dies alles zeigt einen bewussten Versuch, das westliche Globalisierungsmodell zu unterlaufen.



Frontex hat sich seit jeher viel auf seine Fähigkeit eingebildet, mit „schwierigen“ Ländern umzugehen. Doch wie es das tut, gehört in die 1990er Jahre, und das ist typisch. Die Behörde ist an Expeditionen gewöhnt; sie entsendet Personal ins Ausland, um ausländische Regierungen zu beraten und ihre Grenzen zu schützen. Dies funktioniert jedoch nur in Ländern wie Albanien, der Ukraine oder Moldawien, wo die EU noch Einfluss hat, oder in schwachen Staaten, die über keine wirklichen Regierungen verfügen. Das trifft zum Beispiel auf Libyen zu, wo Frontex von den Vereinten Nationen unterstützt wird.



Allerdings hat die Agentur keine wirkliche Methodik, um mit starken Staaten wie Russland umzugehen, die aktiv kriminelle Netzwerke aufbauen. Frontex hat einmal davon geträumt, die Russen in ihr Risikoanalysenetz einzubinden. Aber tatsächlich ist Russland das Risiko, und es macht sich die gewonnenen Erkenntnisse gern zunutze. In der Zwischenzeit politisiert Russland die Präsenz von Frontex auf dem Balkan und in Libyen als Beweis für den Neokolonialismus und Protektionismus der Europäischen Union.



Abkopplung von den Angelsachsen

Das vierte Problem resultiert aus dem Versuch der EU, ihr eigenes Modell der Globalisierung zu schaffen. In den 1990er Jahren gingen die USA und das Vereinigte Königreich davon aus, dass die weltweite wirtschaftliche Liberalisierung auch zu einer weltweiten politischen Liberalisierung führen würde. Durch die Handelsströme würde in den Entwicklungsländern eine Arbeiterklasse entstehen; die Kapitalströme würden es diesen Ländern ermöglichen, sich zu spezialisieren und ihre Arbeiterklassen in die Mittelschicht aufsteigen lassen; die Mittelschichten würden Mitsprache bei der Regierung des Landes verlangen. Die USA und Großbritannien vertrauten auf offene Märkte (und strenge Migrationskontrollen), um demokratische Nationen aufzubauen. Insbesondere die USA entwickelten ein Modell des Grenzmanagements, das darauf abzielte, Handels- und Kapitalströme über die Grenzen zu ermöglichen und Migranten zurückzuhalten. Dazu bediente sich Washington der WTO und der Weltzollorganisation.



Die EU verfolgte in Bezug auf die Globalisierung einen ganz anderen Ansatz, der auf der Ausweitung ihres regionalen Marktes beruhte. Ihr Grenzmanagement diente dazu, den europäischen Markt Schritt für Schritt und in alle Richtungen um die jeweiligen Nachbarländer zu erweitern. Frontex etablierte ihr eigenes Vorzeigemodell des Grenzmanagements, das Integrierte Grenzmanagement, und konkurrierte damit in der europäischen Nachbarschaft mit den USA. Nach dem Brexit-Referendum und der Amtszeit von US-Präsident Donald Trump versuchen nun beide Länder, die auf Regeln basierende liberale Ordnung zu erneuern, wohl wissend, dass China und Russland ihre ­eigenen Modelle für das Grenzmanagement bewerben. Die Zusammenarbeit von Frontex mit den USA beschränkt sich jedoch auf Technologietransfer, und mit London gibt es keinerlei Kontakte. Politische Spannungen sind derzeit wahrscheinlicher als eine Zusammenarbeit, da der Brexit dazu führt, dass Schmuggelrouten um Nordirland herum und die illegalen Handelsströme aus dem Commonwealth so umgeleitet werden, dass sie künftig direkt in die EU führen.



Ein Vertreter der EU-Kommission bringt die Probleme Europas auf den Punkt: Wenn man über nichts anderes verfüge als eine Behörde, behandele man alles als technisches Problem. Dafür ist der Schattenhandel ein typisches Beispiel. Veränderungen in den Mustern des illegalen Handels sind symptomatisch für einen weiterreichenden Zusammenbruch der globalen Ordnung, und der Einsatz von Frontex ist symptomatisch für das Versagen der EU, damit Schritt zu halten.



Die vier großen geostrategischen Probleme drohen Europa zu verschlingen – und doch verlassen sich die führenden Politikerinnen und Politiker auf eng­stirnige technische Ansätze. Das ist der eigentliche Frontex-Skandal.   



Dr. Roderick Parkes ist Forschungs­direktor der DGAP und leitet deren  Alfred von Oppen- heim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen.

 

Aus dem Englischen von Bettina Vestring

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 05, September 2021, „Schattenhandel“, S. 56-63

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