Titelthema

01. Jan. 2024

Und täglich grüßt die Wende

Stillstand, Krise, Kurswechsel, Stillstand: Die deutsche Politik operiert seit Jahren nach dem gleichen Muster. Das hat in Europa zu Stagnation geführt und dem Ruf des Westens geschadet. Für eine echt Zeitenwende braucht es ein neues Rezept.

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Blick auf das Regierungsviertel mit Reichstag {u), Paul-Löbe-Haus {r} und Kanzleramt. Das 75 Meter lange Luftschiff im Dienst der Helmholtz-Gemeinschaft startet seine Expedition «Uhrwerk Ozean» am Donnerstag in Berlin.
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Nach den Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober meldeten sich Deutschlands Akademikerinnen und Akademiker umgehend zu Wort. Um die Zeitenwende zukunftsfähig zu machen, müsse man nun vier Maßnahmen ergreifen, argumentierten sie: Die Bundesregierung müsse eine große gesellschaftliche Debatte zum Thema Sicherheit anstoßen, einen Nationalen Sicherheitsrat einrichten, die heimischen Rüstungsunternehmen müssten ihre Produktion hochfahren, und Berlin müsse endlich dazu bereit sein, in Europa die Führung zu übernehmen.

Wäre die Rede von der Ukraine, dann könnte man sagen: Diese Expertinnen und Experten stehen auf der richtigen Seite, und kaum jemand, der sich seit Jahrzehnten für eine Wende in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik einsetzt, dürfte ihnen auch nur annähernd widersprechen. Das heißt jedoch bei weitem nicht, dass alles, was sie fordern, richtig ist.

Deutsche Regierungen haben die seltsame Eigenschaft, oftmals erst von Krisen dazu genötigt werden zu müssen, ganz gewöhnliche Dinge zu tun (zum Beispiel ihren politischen Kurs zu ändern) – und dann nachfolgende Schocks und Krisen als Erklärung dafür heranzuziehen, warum man unmöglich weitere Schritte gehen beziehungsweise politische Anpassungen und Neujustierungen vornehmen kann. Mit diesem gefährlichen Verhaltensmuster aus Kurs­korrektur und anschließender Stagnation haben wir es auch in diesem Fall zu tun.

Die deutsche Politik ist in der Regel durch eine lange Periode des Stillstands gekennzeichnet, gefolgt von einem einmaligen Kurswechsel, der seinerseits wiederum in eine erneute Phase des Stillstands übergeht. Das ist ein Muster, das sich in keinem anderen westlichen Staat beobachten lässt. Vielmehr passen andere Regierungen ihren politischen Kurs entweder ständig den internationalen Gegebenheiten und dem Druck von außen an oder sie verteidigen ihn bis aufs Blut. Die Deutschen jedoch pflegen eine einmalige Mischung aus Eigensinn und Selbstgefälligkeit: Sie reden sich gerne ein, dass ihr politischer Kurs im Interesse aller ist, und machen sich erst dann die Mühe, ihn zu ändern, wenn es schon viel zu spät ist.

Krisen spielen dabei eine wichtige Rolle. Nach ungefähr einem Jahrzehnt des sturen Festhaltens an einem fehlerhaften Kurs beschließt die Bundesregierung nämlich für gewöhnlich in Reaktion auf eine internationale Krise, dass nun die Zeit für eine wie auch immer geartete „Wende“ gekommen ist. Alle Partner Berlins werden in diesem Moment zu Geiseln, die so lange in Ungewissheit verharren müssen, bis Deutschland seinen Kurs ausdiskutiert hat – und sich erneut in einen zehnjährigen Zyklus stürzt. Kommt es zu Rückschlägen, dann greift derweil das Motto „Jede Krise ist eine Chance“. Zum Beispiel, um Skeptikerinnen und Skeptiker aus dem Weg zu räumen und den eingeschlagenen Kurs einfach weiter zu verfolgen.



Eine neue deutsche Sicherheitspolitik

Verstehen Sie mich nicht falsch. Russlands Krieg gegen die Ukraine war und ist ein sehr guter Grund für einen gewaltigen Umbruch in der deutschen Sicherheitspolitik und die Gräueltaten der Hamas tun der Zeitenwende keinen Abbruch. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass die deutsche Politik weiterhin nach dem gleichen Grundmuster operiert: Das Land schafft sich seine eigenen Krisen, um sich selbst wachzurütteln, und löst damit neue Krisen aus. Viel besser wäre es jedoch, wenn die Deutschen von vornherein klügere Entscheidungen treffen würden.

Vor diesem Hintergrund sind jene Kommentatoren, die sich am 7. Oktober zu ersten Einschätzungen und Analysen aufschwangen, Teil des deutschen Systems und Teil des deutschen Problems. Sie sind die Hohepriester der Zeitenwende, und allein schon deshalb sollte man genau das Gegenteil von dem tun, was sie uns als das logische Rezept für die Zukunft der deutschen Politik verkaufen.



Keine große gesellschaftliche Debatte

Geht es nach den Hohepriestern der Zeitenwende, dann brauchen wir eine große gesellschaftliche Debatte, um Land und Leute einmal mehr aus dem Dornrös­chenschlaf zu wecken. Diese Haltung ist insofern entlarvend, als dass sie uns klarmacht, dass jene Hohepriester ihre Landsleute in internationalen Belangen für absolut desinteressiert halten.

Für sie sind die Deutschen ein Volk, das durch die Verbrechen der Vergangenheit gelähmt ist; eine Herde Konsumenten, die Schnäppchen liebt und nicht hinterfragt, warum ein Produkt billig ist. Folgt man dieser Logik, dann ist auch klar, warum die Verfechter der Zeitenwende immer wieder aufs Neue die großen Krisen und die großen öffentlichen Debatten beschwören.

Jedem, der nicht Mitglied dieses erlesenen Kreises ist, drängt sich derweil der Verdacht auf, dass gerade diese vielen endlosen Debatten Teil des Problems sind. So kann etwa der deutsche Zeitenwende-Talkshow-Komplex, in dem rechte wie linke Hardliner den Rest des Landes über den Zustand der Welt belehren, die Gesellschaft nur apathisch und gespalten zurücklassen. Anstatt ständig große gesellschaftliche Debatten zu führen, die ­jeden Konsens, den es in Deutschland gibt, zunichte machen, wäre es besser, diesen Konsens zu erkennen und zu nutzen.

Umfragen zeigen, dass es einen solchen gesellschaftlichen Grundkonsens durchaus gibt: Entgegen ihrem Ruf sind die Deutschen sehr wohl für internationale Angelegenheiten sensibilisiert und wollen, dass sich ihre Regierung stärker auf Verteidigung und Sicherheit konzentriert. Sie sind bereit, mehr für Waren zu zahlen, die aus „risikofreien“ Märkten stammen – oder für Waren, die in volatilen, aber befreundeten Volkswirtschaften wie der Ukraine produziert werden.

 

Der deutsche Zeitenwende-Talkshow-Komplex kann die Gesellschaft nur apathisch und gespalten zurücklassen

 

Ein viel größeres Problem als die vermeintliche Polarisierung des Landes ist die Tatsache, dass viele Bürgerinnen und Bürger die Politik der Bundesregierung nicht verstehen und deshalb befürchten, dass Sanktionen oder andere Maßnahmen gegen Staaten wie China, Russland oder den Iran nach hinten losgehen könnten. Zudem wird von der Politik oft nur unzureichend dargelegt, wie Menschen das Weltgeschehen beeinflussen können, indem sie ihre Konsumentscheidungen ändern. Viele sehnen sich nach Informationen und gut kommunizierten Maßnahmen – und nicht nach Pro-­ und Contra-Debatten.



Keinen Sicherheitsrat einrichten

Aggressive Handlungen des Iran, Russlands oder ihrer Stellvertreter sind schockierend und brutal. Aber auch sie gehören zum Leben dazu. Sie sind systemisch und routinemäßig und damit das genaue Gegenteil einer geopolitischen Krise, eines Wendepunkts oder einer Zäsur, denen man mit einem neuen Gremium begegnen müsste.

Zu diesem Verhalten kommt es, weil der Westen es verstanden hat, sich in Bereichen wie der Wirtschaft und der Staatsführung einen Vorsprung zu verschaffen, sich in der Folge allerdings nur unzureichend auf Rückschläge vorbereitet hat. Die Deutschen waren besonders gut darin, sich einen solchen Vorsprung zu erarbeiten. Sie sind es jedoch auch, die besonders überrascht von den unvermeidlichen Rückschlägen sind.

Indem sich der deutsche Staat selbst einredet, dass seine wirtschaftlichen Spielregeln und industriellen Innovationen allen zugutekommen, hat er routinemäßig den unbequemen Gedanken unterdrückt, dass der Westen vielleicht unfair bevorteilt ist. Folglich sah die Bundesrepublik auch nicht die Notwendigkeit, ihre Technologien und Institutionen energischer zu verteidigen, sie anzupassen und effektiver zu gestalten, neue Allianzen zu schmieden, ihre Gegner abzuschrecken und die eigenen Werte mit harter Hand durchzusetzen.

Wenn Deutschland diesen blinden Fleck korrigieren will, braucht es dafür keinen Nationalen Sicherheitsrat. Dieser würde Berlins ständige Verwunderung darüber, dass die Welt in ihrer Beschaffenheit und ihrem Verhalten nicht immer den eigenen Erwartungen entspricht, nur institutionalisieren. Vielmehr braucht es eine Selbstgefälligkeitssonderkommission, die falsche und denkfaule Annahmen der deutschen Regierung hinterfragt und sie dazu anhält, die eigenen geopolitischen Vorteile zu verteidigen und zu nutzen.



Nicht blind aufrüsten

Natürlich muss Deutschland die Rüstungsproduktion hochfahren. Allein schon deshalb, um sich selbst und anderen verwundbaren Staaten in Europa zu helfen – gerade vor dem Hintergrund, dass sich die USA nun verstärkt auf die Hilfe für Israel konzentrieren. In den vergangenen Monaten hat Berlin jedoch stattdessen, ebenso wie einige seiner Verbündeten, die einfachste Marschroute gewählt: Vorhandene Waffenbestände wurden aufgebraucht und die Ukraine ihrem Schicksal überlassen.

Umso mehr ist es nun an der Zeit, neue Waffen zu produzieren, womöglich auch für den eigenen Gebrauch. Hier beginnt jedoch der schwierige Teil. Denn es ist nicht einfach zu entscheiden, welche Investitionen für die Zukunft getätigt werden sollen und welche Art von Fähigkeiten für welche Kriege mit welchen Verbündeten an Deutschlands Seite benötigt werden.

 

Deutschland braucht eine Selbstgefälligkeitssonderkommission, die auf falsche Annahmen hinweist

 

Die Industrie muss also tatsächlich die Investitionen und die Produktion erhöhen. Das ganze Gerede über die staatlich koordinierte Aufrüstung läuft jedoch Gefahr, nur ein weiteres Beispiel für das bekannte Politikmuster zu werden: Nach langer Untätigkeit verabschiedet Berlin plötzlich einen großen neuen 20-­Jahres-Kurs und glaubt fälschlicherweise, endlich genau verstanden zu haben, worum es dabei geht.

In Wirklichkeit muss Deutschland jedoch Wege finden, um seine politischen Entscheidungen widerstandsfähiger zu machen, sie also entweder anpassungsfähiger zu gestalten oder sie besser zu verteidigen. Dazu muss sich vor allem das Verhältnis zwischen Regierung und Wirtschaft ändern. Mehrere deutsche Regierungen haben die deutsche Wirtschaft – große Banken und Pharmaunternehmen, Automobil- und Rüstungshersteller – zuletzt verunglimpft, nur um wenig später festzustellen, dass die Politik auf genau diese Konzerne angewiesen ist. Beschließt die Regierung dann wieder einmal, dass ein Kurswechsel erforderlich ist, dann wendet sie sich an die Industrie und sagt: „Legt los!“

Kein Wunder also, dass die deutsche Wirtschaft ihrem jahrzehntelang gepflegten schlechten Ruf ihrerseits alle Ehre macht und dem deutschen Staat regelmäßig Zugeständnisse und Kuscheleinheiten abverlangt, wenn dieser wieder einmal als Bittsteller daherkommt. Bei einer nachhaltigen Sicherheitspolitik sollte es nicht darum gehen, dass die Politik die deutsche Rüstungsindustrie „hochfährt“. Vielmehr sollten sich die Regierung und die Wirtschaft darauf verständigen, dass sie eine gemeinsame Verantwortung für die deutsche Sicherheit übernehmen.



Europa nicht führen

In der Tat versucht Deutschland seit Jahren, Europa zu führen. Zu oft war dieser Anspruch jedoch mit einem eher präsidialen Stil verbunden: Berlin hält sich zurück, artikuliert seine Interessen nicht und schnürt schließlich, nachdem sich die anderen Europäer heiser geschrien haben, ein innenpolitisches Paket – und wenn Deutschland gnädig ist, dann finden sich darin auch einige Positionen wieder, die auch andere EU-Staaten unterschreiben können. Die Hohepriester der Zeitenwende wollen vermutlich, dass sich das ändert und dass Deutschland schnell und früh Stellung bezieht. Dabei gehen sie jedoch nicht auf das Grundproblem ein: Deutschland versteht sich in Europa als der einzige erwachsene Staat. Es verfolgt oft unbeirrt von anderen Interessen seinen eigenen Kurs und glaubt nicht selten, der einzige Akteur zu sein, der eine Krise richtig einschätzen kann.

Wenn die Deutschen sich nun anschicken, „Europa zu führen“, dann bewegen sie sich außerhalb ihrer Komfortzone. Sie versichern sich, dass sie handeln müssen, weil ihre Partner nicht dazu in der Lage sind – und verunglimpfen sie deshalb nicht selten. Die Polen sind unzuverlässig. Die Franzosen sind Angeber. Und der Partner jenseits des Atlantiks will sich aus Europa zurückziehen und könnte schon bald wieder Spielball in Donald Trumps Händen sein. Ganz zu schweigen davon, dass Washington unerhörter Weise seit Jahren darauf drängt, dass Deutschland seine Verteidigung ernster nimmt und einen echten Beitrag zur internationalen Sicherheit leistet.

Allein schon weil Deutschlands Führungsanspruch auf einem Gefühl des Exzeptionalismus und des Unilateralismus beruht, sollte es nicht versuchen, „Europa zu führen“. Stattdessen sollte es alle seine Kräfte darauf konzentrieren, Europa handlungsfähiger zu machen. Das wäre eine Art der Führung, die den Kontinent wirklich stärken würde. Das deutsche Verhalten der vergangenen Jahrzehnte – politische Sturheit, gefolgt von massiven, unabgestimmten Kurswechseln – hat in Europa zu Stagnation geführt und dem Ruf des Westens geschadet. Nicht zuletzt deshalb besteht auch heute die Gefahr, dass die Zeitenwende, die als außergewöhnliche und einmalige Kurskorrektur gedacht war, dieses alte Muster wiederholt.

Aus dem Englischen von Kai Schnier

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 1, Januar/Februar 2024, S. 63-67

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Mehr von den Autoren

Dr. Roderick Parkes  ist Direktor des Forschungsinstituts der Deut­schen Gesellschaft für Auswärtige Politik; er leitet auch deren Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen.