Essay

30. Okt. 2023

Scholz’ Außenpolitik und ihre blinden historischen Flecken

Europa ist ein kleiner Ort mit großer Geschichte. Die Bundesregierung glaubt, diese Geschichte überwinden zu können, indem man dem Globalen Süden die Hand reicht. Doch die Deutschen neigen dazu, Lektionen, die Polen, Franzosen und Briten aus der Geschichte gelernt haben, auszublenden – zulasten der Macht der EU.

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Bild: oldaten des 1. Bataillons der Royal Scots in Port Said, November 1956
Es ist ein Allgemeinplatz, dass die „Schmach von Suez“, die Franzosen und Briten im Jahr 1956 erlitten, die transatlantischen Beziehungen geprägt hat, nur stimmt er so nicht: Soldaten des 1. Bataillons der Royal Scots in Port Said, November 1956.
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In der internationalen Politik kommt es auf die Größe an, und Europa ist nicht groß. Es profitiert bloß von seiner Überrepräsentation in internationalen Organisationen und seinen guten Kontakten zur globalen Supermacht USA. Die EU war sich stets darüber im Klaren, dass sie mit anderen kleinen Akteuren zusammenarbeiten muss, wenn sie die globale Großmachtpolitik entschärfen will. Allerdings war dies bisher eine eher abstrakte Aufgabe. Während jedoch die Macht der Vereinigten Staaten schwindet, kehrt die Machtpolitik zurück. Europa muss derweil feststellen, dass es zwar ein kleiner Ort ist, aber ein kleiner Ort mit einer großen Geschichte – einer Geschichte, an die sich andere Teile der Welt gut erinnern.

Der deutsche Bundeskanzler kam in einer Rede, die er am 9. Mai 2023 vor dem Europäischen Parlament hielt, auf die Frage zu sprechen, wie mit dem Globalen Süden umzugehen sei, und wies dabei die gängigen Klischees über die Rolle der EU in der Welt zurück. Im französischen Denken dient die EU dazu, in einer tripolaren globalen Ordnung mit den Vereinigten Staaten und China zu konkurrieren – oder zumindest Einflusssphären in Afrika und Osteuropa zu sichern. Die Polen wollen, dass sich die EU hinter den USA einreiht und ihnen in einer bipolaren Welt zur Seite steht.

In scharfem Gegensatz dazu stellte Olaf Scholz eine europäische Geopolitik vor, die in der Welt eine kooperative Duftmarke setzt. Scholzʼ EU wird die eigene Macht moderieren, China die Stirn bieten und ein Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten bilden, um kleinen und verwundbaren Ländern ein Aufblühen zu ermöglichen. Scholz bietet damit etwas Neues an. Die Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika, so der Bundeskanzler, „werden sich zu Recht nicht mit einer bi- oder tripolaren Weltordnung abfinden“. Er erkennt, dass globale Probleme wie der Klimawandel sich nicht durch Machtpolitik lösen lassen. Und dass man nicht anfangen kann, nach den Regeln der Machtpolitik zu spielen, ohne die Essenz der EU zu zerstören.

Freunde einer kooperativen Multipolarität bekommen also vieles geboten. Doch selbst wenn man die Substanz der Rede ablehnt, ist immerhin Deutschlands „Erwachsenwerden“ begrüßenswert. Berlin tritt außenpolitisch endlich aus dem Schatten anderer Hauptstädte hervor; Scholz’ Rede ist eine kodierte Replik auf Franzosen, Polen – und Briten.

Der Kanzler beschreibt, wie die Welt sich auf den Weg zurück in eine Machtpolitik des 19. Jahrhunderts begibt, dominiert von chauvinistischen Nationen. Europa, überlegt er, könnte durchaus dem Beispiel Russlands, Chinas, der Türkei oder des Iran folgen und in imperiale Nostalgie oder Kränkung verfallen. Der Subtext: Das würde mit Europa geschehen, wenn die Franzosen, Polen oder Briten das Sagen hätten. Doch macht Scholz deutlich, dass er optimistisch in die Zukunft schauen will. Für ihn liegt gerade dort der Anziehungspunkt der EU – bei ihrem Angebot eines historischen Neustarts.

Wenn es Deutschland aber nicht gelingt, seine direkten Nachbarn mit ins Boot zu holen, ist Scholz’ Idee einer EU als vorbildlicher kooperativer Einheit, die an der Seite kleiner Staaten steht, nicht ein Widerspruch in sich? Es ließe sich einwenden, dass es Scholz ohnehin nie gelingen kann, Polen und Franzosen einzuspannen. Warum es also versuchen? Weil es nicht nur um Kompromissfindung geht, sondern weil Scholz auf diese Weise etwas über unterschiedliche historische Sichtweisen lernen würde. Denn seine Botschaft lautet, dass Deutschland sich zwei Lagern in Europa nicht anbiedern wird – dem Lager der nostalgischen Ex-­Imperien in Westeuropa und dem Lager der von Kränkungen geplagten imperialen Ex-Vasallen in Mitteleuropa. Deutschland dagegen stellt sich erfolgreich seiner Geschichte, der Nazizeit ebenso wie der „­Naivität“ nach 1989. Daher übernimmt es die Führung, wenn es um Europas Beziehungen zum Globalen Süden geht.

Polen und Franzosen bestätigen beizeiten den Verdacht, dass sie in historischen Vorstellungen von Kränkung und Größe feststecken. Es war beeindruckend, persönlich mitzuerleben, wie der polnische Außenminister verblüfften deutschen Diplomaten erklärte, die EU sei bloß die neueste Ausdrucksform des preußischen Expansionismus, Scholz’ Rede von der Multipolarität sei bloß die jüngste preußische Einladung an Russland, Europa in Einflusssphären aufzuteilen, und jede Form von europäischer Autonomie gegenüber den Vereinigten Staaten sei bloß der Versuch, die napoleonische nationale Selbstbestimmung aus Europa zu verbannen. Warum dieses Land ernst nehmen?

Vielleicht deshalb: Die Polen stecken nicht im 19. Jahrhundert fest. Für sie weisen die mittleren 195oer Jahre vermutlich die größten Parallelen zur Gegenwart auf – ein Jahr in der Frühphase des Kalten Krieges, in dem sich die globale Bipolarität und die Spannungen mit Russland verschärften. In jenem Jahr trat Westdeutschland der NATO bei, und Moskau antwortete mit der Gründung des Warschauer Paktes, der die „Ostblock“-Bildung zementierte. In jenem Jahr brach Westdeutschland die Tabus, denen Berlin bis heute am liebsten ausweichen würde: Es verärgerte Moskau und gefährdete den Zugang seiner Industrie zu internationalen Märkten. Die Leidtragenden waren die Polen, während sich der Schritt für die Bonner Republik lohnte. Die Polen erinnern sich an diesen Vorfall; die Deutschen tun es nicht. Auf diese Unkenntnis antworten die Polen, indem sie demonstrativ ihre tiefe historische Kenntnis zur Schau stellen. Die Franzosen sind schlitzohriger und nutzen die deutschen historischen blinden Flecken für ihre Zwecke aus. Weil die EU einen Bruch mit Deutschlands eigener Vergangenheit bedeutet, gehen die Deutschen beispielsweise davon aus, sie hätte keinerlei negative Konnotationen in der Welt. Sie vergessen dabei, dass die Franzosen nach dem Verlust von Vietnam und dem Beginn des Krieges in Algerien den EU-Vorläufer als Mittel betrachteten, ihre afrikanischen Kolonien zu sichern.

Bis vor Kurzem war Deutschland völlig zufrieden damit, sich in Westafrika hinter Frankreich zu stellen und einer nationalen französischen Politik einen europäischen Anstrich zu geben. Erst durch die jüngsten Militärputsche in Mali und Niger scheint Deutschland verstanden zu haben, wie kontrovers die europäische „Marke“ im frankophonen Westafrika ist. Eine französische Diplomatin kann dennoch nur den Kopf schütteln: Sie berichtet von einer Konferenz, bei der ein deutscher Kollege argumentierte, Berlin statt Paris solle die Politik der EU gegenüber dem Globalen Süden anführen, weil „wir nie Kolonien hatten“ – und das während des laufenden Versöhnungsprozesses mit Namibia. Manchmal scheint es, als gäbe es in der deutschen Debatte über internationale Politik nur zwei historische Daten von Belang: 1939, als Deutschland sich auf die falsche Seite der Geschichte stellte, und 1989, als es sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnte. Jede internationale Krise wird nun mit dem einen oder dem anderen Datum abgeglichen.

Wie erklärt sich diese deutsche Amnesie, dieses Faible für eine kurze Schnittversion der Geschichte, die den Kalten Krieg und die 1950er Jahre ebenso auslässt wie die Erfahrungen Deutschlands engster Verbündeter, und vieles andere mehr? Eine Erklärung könnte in der Wiedervereinigung liegen. Als die Deutschen 1989 wieder aufeinandertrafen, war 1939 die letzte geteilte Erinnerung. Wieso ihre unterschiedlichen Erfahrungen des Kalten Krieges noch einmal verhandeln, geschweige denn die noch ferne Kolonialgeschichte?

Doch ist dies nicht die ganze Erklärung. Es geht auch um Machtpolitik: Indem es die Weltgeschichte auf den Zweiten Weltkrieg und den Mauerfall reduziert, reklamiert Deutschland ein Recht für sich, die großen Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Dabei bezieht sich das Land typischerweise auf Perioden ohne moralische Graustufen, historisch verdichtet und vor allem deutschlandzentriert.

Scholz führte 2022 vor, wie dieser Mechanismus funktioniert – mit der Behauptung, für den Rest der Welt alle Lektionen aus der Geschichte gelernt zu haben. Im Dezember 2022 schrieb er in der Zeitschrift Foreign Affairs, dass die Zeitenwende eine globale sei: Es sei nicht nur Deutschland gewesen, das aus einem Post-1989-Schlummer erwacht sei, sondern es sei den anderen Staaten auf der ganzen Welt ­genauso ergangen. Im Februar 2023, auf der Münchner Sicherheitskonferenz, instruierte er jedoch seine westlichen Amtskollegen, sie sollten nicht dem Irrtum verfallen, die Zeitenwende sei global. Er sprach, als wäre das ihr Denkfehler gewesen, nicht sein eigener.

Er zeigte auch eine Tendenz, andere, vermeintlich weniger bedeutende Teile der Geschichte umzuschreiben, unter anderem die 1950er Jahre. In seiner Rede über Multipolarität behauptete Scholz beispielsweise, die EU sei gegründet worden, um kooperativ mit Afrika, Asien und Lateinamerika zusammenzuarbeiten. Als die Westeuropäer den Binnenmarkt gründeten, hätten sie damit nicht nur den Krieg untereinander verunmöglicht; sie hätten sich gewissermaßen selbst entwickelt, um Afrika, Lateinamerika und Asien bei ihrer Entwicklung unterstützen zu können. Die EU ist Scholz zufolge ein Gegenstück nicht nur zum Nationalismus, sondern auch zum europäischen Imperialismus. Das jedoch ist schlicht falsch. Die EU war eine Fortsetzung des europäischen Imperialismus.

Die Autoren der Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung haben es offenbar versäumt, den Kontakt zu Deutschlands engsten Verbündeten zu suchen und sich ernsthaft mit ihnen auszutauschen. Außenministerin Annalena Baerbock ist der polnischen Linie, was das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten angeht, näher als Scholz. Doch auch ihr Interesse an polnischen historischen Sichtweisen ist offenbar begrenzt, oder die Sorge, sich zu diskreditieren, überwiegt.

Scholz hätte aus ähnlichen Gründen keinen Kontakt zu den Brexit-Briten mit ihrer angeblichen imperialen Nostalgie gesucht. Und doch dürfte Premierminister Rishi Sunak dem Bundeskanzler in seiner Weltdiagnose weitgehend zustimmen. Zudem ist Sunak sicherlich der lebende Beweis, dass die britische Regierung nicht der imperialen Nostalgie verfallen ist. Die Briten haben schlicht eine andere Geschichte als die Deutschen – wenn sie von „Global Britain“ sprechen, dann jedenfalls auch deswegen, weil sie familiäre Verbindungen in alle Welt­regionen haben.

Was hätten die Deutschen also über internationale Politik gelernt, wenn sie Kontakt zu den Nachbarn aufgenommen hätten? Wenn wir davon ausgehen, dass die Jahre 1955 und 1956 die größten Parallelen zur Gegenwart aufweisen, hätten sie von einer Zeit erfahren, in der beispielsweise Großbritannien auf ein Wiedererwachen globaler Machtpolitik nicht mit imperialer Nostalgie, sondern mit Dekolonisierung reagierte. Drei Beispiele:

1. Die Bandung-Konferenz, als sich der Globale Süden erstmals zu einigen versuchte. Im April 1955 lud der indonesische Präsident Sukarno die Staats- und Regierungschefs aus den neuerdings unabhängigen Staaten Afrikas und Asiens ein, um einen von den zwei Supermächten – der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten – unabhängigen Block zu gründen. Den Unkenrufen aus dem Westen zum Trotz, wonach sie zu klein und nicht mächtig genug wären, um internationale Angelegenheiten zu verhandeln, einigten sie sich zügig auf zehn Grundsätze, von der Einhaltung der UN-Charta bis zur Anerkennung territorialer Integrität.

Die Außenministerien in London und Washington reagierten nervös auf Sukarnos Ambitionen und seine Bereitschaft, westlichen „Neokolonialismus“ zu kritisieren. Doch waren die ehemaligen britischen Kolonialbeamten in Jakarta angesichts der entstehenden „Dritten Welt“ durchaus optimistisch: Sie sahen darin ein Bollwerk gegen den Kommunismus – und die Vereinigten Staaten. Und der Bezugspunkt für ihren „Dritten Weg“ lag in der westlichen Demokratie. Während der Konferenz gelang es britischen Diplomaten, Kritik am Westen etwas entgegenzusetzen und den Verdacht auf die wahren Neoimperialisten zu lenken – nämlich China und die Sowjetunion, die in den Jahren vor der Konferenz Spitzenpolitiker in Afrika und Asien umworben hatten. Doch übte Washington, verärgert über die Beteiligung von Kommunisten an der Regierung Sukarnos, Druck auf London aus, um die Anführer seiner ehemaligen Kolonien davon abzubringen, an der Konferenz teilzunehmen. Innerhalb eines Jahrzehnts etablierte sich der Begriff „Jakarta-Methode“ als Bezeichnung für die Art und Weise, wie die USA rechte Militärputsche gegen Spitzenpolitiker wie Sukarno anstachelten – oft mit britischer Unterstützung. Viele der Teilnehmer von Bandung wurden abgesetzt oder hingerichtet.

Die Lehre? Deutsche erklären uns, wir sollten die Bezeichnung „Globaler Süden“ vermeiden. Sie vergleichen den Begriff mit „Dritte Welt“, einer bevormundenden westlichen Erfindung. Die Bezeichnung beziehe sich auf eine Gruppe von Staaten, die zu unterschiedlich seien, um über einen Kamm geschoren zu werden. Man solle ihnen den Respekt einer jeweils maßgeschneiderten Partnerschaft erweisen. Das ist eine ahistorische Sichtweise. Während die Briten vermutlich zustimmen würden, dass man den Begriff vermeiden sollte, würden sie jedoch auch darauf hinweisen, dass Deutschlands gut gemeinte maßgeschneiderte Partnerschaften kaum mehr bedeuten als „Teile und herrsche“.

Die Erfahrung aus den 195oer Jahren zeigt, dass Afrika und Asien nicht zu divers sind, um sich zu einigen. Man tat dies, und zwar auf Grundlage der „regelbasierten Ordnung“ – und wurde dafür von westlichen Mächten systematisch zerlegt. Mehr noch: Die Spitzenpolitiker von Bandung machten sich den Begriff „Dritte Welt“ zu eigen; westliche Regierungen schlugen ihnen den Begriff aus der Hand. Deutschland muss sich an diese Geschichte erinnern; Rivalen wie China tun dies gewiss.

2. Die Suez-Krise, als Europa sich letztmals für autonom erklärte. 1955 wurden britische Botschaften in der arabischen Welt meist von ehemaligen Kolonialverwaltern aus Britisch-Indien geleitet. Stur betrachteten sie den Nahen Osten und Nordafrika als europäische Einflusssphäre. Nachdem sich in Bandung ihr Eindruck bestätigt hatte, dass sich die Amerikaner auf der Weltbühne ungeschickt anstellten, wollten sie ihren Standpunkt unterstreichen. Sie vertraten gegenüber arabischen Regierungen eine harte Linie, obwohl die USA sie drängten, versöhnlich aufzutreten. Der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser war ermutigt aus Bandung zurückgekehrt und setzte Hoffnungen auf den Panarabismus und eine selbstbewusste Bewegung der Blockfreien Staaten. Als Nasser im Sommer 1956 den ­Suez-Kanal nationalisierte, antworteten Frankreich und Großbritannien mit einer Invasion der Kanalzone. Diese endete mit einem für sie brutalen Weckruf. Washington unterstützte sie bei ihrem neokolonialen Abenteuer nicht, die britischen und französischen Truppen mussten abziehen.

Die Lehre? Es ist ein Allgemeinplatz, dass die „Schmach von Suez“ die modernen transatlantischen Beziehungen wesentlich definiert hat. Von deutscher Warte betrachtet, bauen sowohl Frankreich als auch Großbritannien ihre Außenpolitik auf diese Demütigung auf und benutzen Europa noch immer als eine Art emotionalen Krückstock für ihren globalen Statusverlust. Die Franzosen, so die Wahrnehmung, machen sich selbst etwas über europäische Autonomie und eine europäische Einflusssphäre vor. Und die Briten trösten sich mit ihrer „special relationship“ zu den USA. Die Deutschen dagegen seien imstande, eine sachliche Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten zu führen.

Das ist ein grobes Missverständnis, denn die Briten haben ihre Beziehung zu den USA immer wieder sachlich neu bewertet. Jedoch sind britische Regierungen immer wieder auf das Diktum von Viscount Palmerston und Charles de Gaulle zurückgekommen, wonach nicht Allianzen ewig sind, sondern Interessen – und immer wieder waren sie der Auffassung, dass die britischen Interessen am besten durch eine Unterordnung unter die USA gewahrt würden. Das britische Bedürfnis nach einer „special relationship“ hat also nichts mit imperialer Nostalgie zu tun – oder jedenfalls nicht so viel, wie die Deutschen annehmen. Vielmehr ist es Deutschland, das nicht weiß, wie Interessen und Beziehungen zusammengehen. Es stellte Versöhnung (mit Frankreich, Israel und Russland) über gewöhnliche Diplomatie und damit Beziehungen über Interessen. Wenn Deutschland tatsächlich Multipolarität anstrebt und gleichzeitig das Engagement der USA in Europa so lange wie möglich aufrechterhalten möchte, muss es in diesen Dingen besser werden.

3. Südvietnam, als Europäer erstmals „aufgeklärte“ Außenpolitik hätten betreiben können. 1955 präsentierte sich den Europäern eine Gelegenheit auf dem Silbertablett, um zu beweisen, dass ein europäischer „Dritter Weg“ in der Dritten Welt möglich wäre, durch den Aufbau von Verbindungen zu Südostasien und ein Abmildern der Exzesse der USA und Chinas in ihrem Vorgehen dort. Die wichtigsten europäischen Ins­trumente, um in Vietnam Einfluss auszuüben, waren Entwicklungshilfe und landwirtschaftliche Expertise. Die Briten identifizierten eine Gelegenheit für Europa, den Vietnamesen dabei zu helfen, sich von einer Agrarwirtschaft in einer Weise zu entwickeln, die den eigenen Regierungsstrukturen entgegenkam. Südvietnam war unter französischer Herrschaft agrarisch geblieben, während sich der kommunistisch beherrschte Norden entwickelt hatte. Nun von Nordvietnam getrennt, musste es effizienter werden. Der südvietnamesische Präsident Ngo Dinh Diem glaubte, die Europäer könnten seinem Land auf wohlwollende Weise bei der Entwicklung helfen – jedenfalls wohlwollender als Chinesen oder Amerikaner.

Hinter der Grenze zu China hatte die landwirtschaftliche Kollektivierung begonnen und erwies sich als desaströs. Gleichzeitig stellte sich die US-Präsenz in Südvietnam ungeschickt an. Unter dem Einfluss der Modernisierungstheorie ging das Weiße Haus davon aus, dass schnelle Entwicklung in Vietnam eine urbane Mittelklasse und damit auch Liberalismus und Demokratie hervorbringen würde. Die Europäer hatten also eine Gelegenheit, einen wohlwollenden Dritten Weg aufzuzeigen, und den vietnamesischen Dörfern bei der Entwicklung zu helfen, ohne dabei übergreifende ideologische Ziele zu verfolgen.

Doch Kontinentaleuropa war mit sich selbst beschäftigt. Die Europäischen Gemeinschaften wurden auch auf der französischen Niederlage in Dien Bien Phu 1954 im Norden Vietnams gegründet, die das Ende der Präsenz in „Indochina“ markierte, und damit auf einem tiefen Pessimismus: Französische Versuche, den Fortschritt in die Welt zu tragen, hatten nicht gefruchtet. Die Gemeinsame Agrarpolitik war ein Versuch, stattdessen Europa zu rationalisieren.

Die Lehre? Eine geschichtsvergessene EU wird ihre Fehler in der Zukunft wiederholen. Die Erfahrung der 1950er Jahre zeigt, dass es sehr leicht ist, von der einen europäischen Version vom Ende der Geschichte zur nächsten und übernächsten zu springen: von der darwinistischen imperialen Logik, wonach globaler Wettbewerb eine gute Sache ist und den Fortschritt antreibt, zu der malthusianischen Idee, wonach wir auf eine Zeit von Überbevölkerung, Mangelversorgung und Krieg zusteuern. So wird man keinen europäischen Dritten Weg finden.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Europa-Rede in Straßburg gesagt, er wolle mit Staaten wie Vietnam in den Bereichen Konnektivität, Klimawandel und Migration zusammenarbeiten. Doch wenn er weiterhin so rücksichtslos mit der Vergangenheit umgeht, wird er feststellen, dass diese Themen leicht in das erwähnte malthusianische Bild einer übervölkerten Welt und eines Kampfes um knappe Ressourcen kippen – und damit gerade in die Art von Geopolitik aus dem 19. Jahrhundert münden, die er hinter sich lassen will.

Olaf Scholz war während des Kalten Krieges politisch aktiv. Er erkennt die Parallelen zwischen der heutigen Welt und den Spaltungen des Kalten Krieges an. Und er besteht darauf, dass die Dinge diesmal anders ausgehen.

Es ist nicht so sehr das historische Verständnis des Bundeskanzlers, an dem seine multipolare Alternative krankt. Problematischer ist vielmehr die Art und Weise, wie Geschichte in der deutschen Debatte eingesetzt wird. Tatsächlich sprach Scholz von der Bandung-Konferenz in seiner Rede vor den Vereinten Nationen im September, aber eben nicht als Teil der europäischen Geschichte. Wenn ­Scholz die Lektionen vergisst, die die 1950er Jahre bereithalten und die andere daraus gezogen haben, verringert er Europas Chancen, eine positive Rolle in der Welt zu spielen, enorm.

Aus dem Englischen von Matthias Hempert

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2023, S. 118-123

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Dr. Roderick Parkes ist gebürtiger Brite und Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik; er leitet auch deren Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen.