Falken im Sturm
Was wird nach der Wahl aus der US-Außenpolitik, ob mit oder ohne Donald Trump? Vom Ausbuchstabieren intellektueller Grundlagen in Zeiten der Großmächtekonkurrenz.
Der Pandemie halber ist dieser Text in Heimarbeit und unter einer für diese Nachbarschaft eher unüblichen Geräuschkulisse entstanden: dem tagelangen Dauerrauschen der Rotoren schwerer Militär- und Polizeihubschrauber im Nachthimmel. Nicht in Afghanistan, nicht im Irak. Sondern in Columbia Heights, einem mal mehr, mal deutlich weniger bürgerlichen Wohnviertel mitten in Washington, DC: einer liebenswürdigen, mehrheitlich schwarzen Südstaatenstadt, die allerdings auch die Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika ist. In der Machtzentrale der Supermacht spitzt sich eine beispiellose innenpolitische Krise zu.
Seit Tagen demonstrieren hier, wie überall im Land, wachsende Menschenmengen. Erster Auslöser der allgemeinen Empörung war die ungerührte Tötung eines schwarzen Amerikaners durch einen Polizisten in Minneapolis, aber inzwischen geht es allgemein um systemischen Rassismus und Ungerechtigkeit. Am 1. Juni ließ Präsident Donald Trump die Demonstrationen brutal auflösen; zwei niedrig fliegende Hubschrauber der Nationalgarde trieben die Menschenmassen auseinander. Tagelang herrschten abendliche Ausgangssperren. Der Zugang zum Weißen Haus wurde großräumig abgesperrt, zeitweise durch Tausende von Soldaten, Nationalgardisten und mehr als ein Dutzend paramilitärische Polizeieinheiten, viele der letzteren ohne Abzeichen. Womöglich ist dies eine Schicksalsstunde der amerikanischen Demokratie.
Donald Trump ist, nach drei Jahren Chaos und Inkompetenz, unversehens in die schwerste Phase seiner Amtszeit hineingestrudelt: erst die Pandemie mit mehr als 100 000 Toten; dann eine historische Wirtschaftskrise mit mehr als 40 Millionen Arbeitslosen; und nun eine rapide eskalierende Legitimitätskrise der Regierung. Insbesondere die Bilder von Soldaten und Polizisten, die auf friedliche Bürger und Journalisten einknüppelten, haben in den obersten Rängen der Streitkräfte zu einmütigem, offenen Zorn geführt, wie ihn die Nation noch nicht erlebt hat. Wie die Lage aussieht, wenn dieser Text erscheint, ist nicht vorhersehbar; erst recht nicht, wie und wann das alles endet.
Für Amerikas Verbündete, auch in Europa, ist dies eine Zeit der Ratlosigkeit. So obsessiv dieses Land auch mit sich selbst beschäftigt ist, die Außenpolitik geht weiter. Auch da stehen alle Zeichen auf Sturm: Binnen Wochen hat Trump den Austritt aus dem Rüstungskontrollabkommen „Open Skies“ und der Weltgesundheitsorganisation WHO verkündet. Nach Merkels G-7-Absage hat er eigenmächtig das Treffen vertagt und Russland, Indien, Südkorea und Australien dazugeladen; schließlich hat er angekündigt, US-Truppen aus Deutschland abzuziehen. Wo die USA einst globale Schutz- und Garantiemacht waren, entsteht rasend schnell ein Vakuum, in das andere Mächte druckvoll hineinstoßen – allen voran China, mit Russland im Kielwasser.
Was eine zweite Amtszeit brächte
Es steht keineswegs fest, dass die Wahlen am 3. November eine Zäsur bringen werden. Trump würde eine Wiederwahl zweifellos als Bestätigung seiner rücksichtslosen „America First“-Linie verstehen. Es liegt nahe, dass er sich noch mehr als schon zuvor mit Beratern umgeben würde, die nach bedingungsloser Loyalität ausgewählt sind und nicht nach Expertise und Erfahrung. Er würde die Machtbürokratien, die traditionell die amerikanische Außenpolitik gestalten – State Department, Pentagon, National Security Council und die Geheimdienste – weiter entkernen. Das bedeutet aber nicht, dass das Reservoir konservativer Außenpolitikexperten bedeutungslos geworden ist. Auch in geschrumpften Ministerien sind Hunderte politischer Ämter zu vergeben. Andere werden sich berufen fühlen, den Instinkten und Impulsen des Präsidenten vom Schreibtisch aus akademische Weihen zu verleihen. Manche aber arbeiten daran, die intellektuellen Grundlagen einer US-Außenpolitik in Zeiten globaler Großmächtekonkurrenz rechts (teils sehr weit rechts) der Mitte auszuarbeiten – mit oder ohne Trump. Bei nicht wenigen überlagern sich diese Interessen. Sie haben viel Platz, weil die drei großen Schulen, die in der Nachkriegszeit das Terrain konservativer US-Außenpolitik abgesteckt haben, allesamt marginalisiert sind.
Die Zeit der klassischen republikanischen Internationalisten, herrschaftserprobt von Eisenhower bis Reagan, scheint verflogen. Viele aus dem letzten Aufgebot haben die Politik resigniert verlassen, wie Senator Jeff Flake. Manche haben sich weitgehend schweigend angepasst, wenn auch mit gelegentlichen Ausbrüchen, etwa Senator Mitt Romney. Wieder andere, allen voran Senator Lindsey Graham, sind zu bedingungslos loyalen Vollstreckern präsidialen Willens geworden. Die Publizistin Anne Applebaum hat diese Garde in einem vernichtenden Essay jüngst als „Kollaborateure“ beschrieben.
Die Realisten dagegen haben zumeist vom Spielfeldrand aus unter dem Stichwort „restraint“ (Zurückhaltung) für ein weniger global engagiertes Amerika gestritten. Deshalb erregte es einiges Aufsehen, als sie mit dem Ende 2019 gegründeten Quincy Institute einen Brückenkopf in Washington einrichteten, anfinanziert vom Liberalen George Soros und dem Ultrakonservativen Charles Koch, geleitet von Andrew Bacevich und Stephen Wertheim, beides respektierte Köpfe. Sie fordern, Amerika müsse sich endlich aus seinen „endlosen Kriegen“ zurückziehen und auf globale Vorherrschaft verzichten. Ersteres will Trump auch, es ist sein wichtigstes Wahlversprechen. Aber auf Dominanz verzichten? Niemals.
Dann waren da noch die universalistischen Neokonservativen, die unter Präsident George W. Bush fast ein Jahrzehnt lang versuchten, mit Hilfe großangelegter Militärinterventionen den Nahen und Mittleren Osten neu zu ordnen. Viele der Neocons, wie Eliot Cohen, Dekan der SAIS-Johns Hopkins-Hochschule, sind Intellektuelle und politische Schriftsteller von echtem Rang. Sie schreiben so leidenschaftliche wie bislang folgenlose Invektiven gegen die Politik der Regierung.
Ringen um die Definitionsmacht
Seit dem Beginn der Ära Trump konkurriert ein neues Trio um die Deutung der US-Außenpolitik: Nationalkonservative, Nahost-Falken und China-Falken.
Die Nationalkonservativen, an vorderster Front der gechasste Chefideologe Steve Bannon, fielen zu Beginn mit apokalyptischen Kulturkampfvisionen auf sowie einem ausgeprägten Hang zu Autokraten, Diktatoren und der autoritären Rechten in Amerika und Europa – Neigungen, denen der Präsident erkennbar viel abgewinnen kann. Trumps Berater und Redenschreiber Stephen Miller ist heute einflussreichster Vertreter dieser Linie, nicht zuletzt, weil er diszipliniert arbeitet und Mikrofonen und Kameras aus dem Weg geht. Der Historiker Yoram Hazony hat 2018 mit dem Buch „The Virtue of Nationalism“ eine Theorie des Nationalkonservatismus vorgelegt, die präziser beschrieben ist als Versuch, eine auf Ethnochauvinismus basierende Außenpolitik zu legitimieren. Die Nationalkonservativen bleiben Schmittianer ohne einen Vordenker von der gedanklichen Schärfe und Sprengkraft Carl Schmitts.
Die Nahost-Falken werden angeführt von dem so schwachen wie geschmeidigen Außenminister Mike Pompeo; dicht gefolgt von Tom Cotton, dem überaus ehrgeizigen Senator für Arkansas, dem Iran-Beauftragten des Außenministeriums Brian Hook, und Richard Grenell, bis vor Kurzem als US-Botschafter Dauerstachel im Fleisch der Berliner Außenpolitik. Ihnen gemein ist eine radikal auf die Konfrontation zwischen Israel und Iran reduzierte Sicht auf den Nahen und Mittleren Osten – mit der fixen Absicht, das Teheraner Regime in die Knie zu zwingen, ob mit Wirtschaftssanktionen oder militärischer Gewalt.
Dabei haben sie allerdings ein Hindernis, und es ist kein kleines: Der Präsident ist mit jeder Sanktion und Drohung einverstanden, aber ein neuer Krieg ist mit ihm nicht zu machen. Im Gegenteil, er würde am liebsten sofort alle US-Truppen aus der Region abziehen. Er bietet dem Teheraner Regime sogar immer wieder Gipfeltreffen oder einen „neuen Deal“ an – zuletzt Anfang Juni per Tweet nach der Freilassung eines amerikanischen Gefangenen.
In Wahrheit ist der Nahe und Mittlere Osten jedoch schon zu einem Nebenschauplatz relegiert – „the biggest game in town“ ist der sich stetig verschärfende Konflikt mit einem weltweit immer aggressiver agierenden China. Weshalb Pompeo und Cotton natürlich auch China-Falken sind. Aber das China-Lager zeichnet aus, dass hier eine jüngere Generation ernsthaft an einer intellektuell anspruchsvollen China-Strategie arbeitet – an der Spitze Politiker wie der globalisierungskritische 40-jährige Senator Josh Hawley und Denker wie Elbridge Colby, der als politischer Beamter auf Zeit im Pentagon die Nationale Verteidigungsstrategie entwarf.
Drei Elemente sind in dieser Debatte neu und von Bedeutung für Europa. 1. Es geht nicht mehr darum, China zu verändern und in eine US-garantierte, regelbasierte Weltordnung einzugemeinden, sondern um die Verhinderung einer chinesischen Hegemonie (Hawley). 2. Für die China-Falken ist, wie Colby zusammen mit Wess Mitchell (vormals Unterabteilungsleiter für Europa im State Department) schrieb, die Iran-Obsession der Nahost-Kollegen eine ressourcenverschwendende Ablenkung. 3. Amerika muss mehr von seinen Verbündeten verlangen, so Colby/Mitchell, „eindringlich und notfalls mit echtem Druck“. Dahinter steht eine fundamentale Einsicht: Amerika hat in einer von Großmachtkonkurrenz und Globalisierung geprägten Welt absolut und relativ an Macht verloren, und es muss sich von ungezügelter militärischer Vorherrschaft verabschieden.
Was, wenn Joe Biden gewinnt?
In der sehr langen Kandidatenkür der Demokraten spielte die Außenpolitik kaum eine Rolle. Dann kam die Pandemie und zwang Biden, seinen Wahlkampf zwei Monate lang unter funzligem Licht in die Kelleretage seines Hauses zu verlegen. Nicht die günstigsten Bedingungen, um Amerikas Rolle in der Welt neu zu denken.
Hinzu kommt, dass die US-Liberalen der bisweilen sektiererischen Lust der Konservativen an der Theoriebildung kulturell eher fernstehen. Die progressiven Linken fremdeln wiederum mit den „harten“ Themen der Sicherheitspolitik. Eine ganze Generation von Demokraten hat sich erkennbar noch nicht erholt vom Verlust der intellektuellen Hegemonie, die einherging mit dem Nachkriegsparadigma der USA als Garantiemacht der liberalen Weltordnung. Deshalb lässt sich das Lager der demokratischen Außenpolitiker ohne allzu große Vereinfachung in zwei Flügel teilen: Restaurierer und Erneuerer.
Die Restaurierer meinen, es bedürfe vor allem der Rückkehr zu einer sorgfältigen, ausgewogenen Diplomatie, um die Welt nach Trumps außenpolitischen Splatterfilm-Exzessen wieder ins Lot zu bringen. Dazu gehört eine Riege erfahrener früherer Spitzendiplomaten, die unter den Präsidenten Clinton, George W. Bush und Obama gearbeitet haben; sie leiten heute Denkfabriken, lehren an Eliteuniversitäten oder machen strategische Beratung: etwa Bill Burns, Präsident des Carnegie Center for International Peace, oder Tony Blinken, einer von Bidens Beratern.
Die Fraktion der Erneuerer umfasst eine Kohorte jüngerer Politiker und Experten, die mein Brookings-Kollege Thomas Wright die „2021 Democrats“ nennt: Sie warnen vor der Rückkehr zur „liberal-internationalistischen Orthodoxie“. Der Zerfall der Nachkriegsweltordnung, das Scheitern US-geführter Militärinterventionen im Nahen und Mittleren Osten, Chinas Dominanzanspruch und eine regelbedürftige Globalisierung erforderten eine neue Strategie: Diplomatie statt Endloskriegen; Parteinahme für Demokratien; klare Kante gegenüber Diktatoren und Kleptokraten, von Russland über China bis Saudi-Arabien; internationale Bündnisse, um globale Probleme wie Pandemien und Klimawandel anzugehen; mehr Aufsichtsrechte für den Kongress. Und: Um legitimerweise Demokratie in der Welt zu fördern, müsse man die eigene reparieren.
Zu ihnen (mit scharfen Differenzen zwischen Falken und Progressiven) gehören die Senatoren Chris Murphy, Elizabeth Warren und Bernie Sanders, die Abgeordnete Elissa Slotkin und der Bürgermeister von South Bend, Indiana, Pete Buttigieg; die Obama-Berater Ben Rhodes und Jake Sullivan; Experten wie Hal Brands vom American Enterprise Institute oder Heather Hurlburt von der New America Foundation; dazu Akademiker wie Ganesh Sitaraman, Dan Drezner, Dan Nexon, Mira Rapp-Hooper und Rebecca Lissner.
Aber wo steht Biden selbst? Wright hat dies im Magazin The Atlantic so beantwortet: „Er kandidiert als Restaurierer … unwahrscheinlich, dass er als Restaurierer regieren kann.“ Er warnt: Dies ist die letzte Chance des demokratischen Establishments, gesellschaftlichen Veränderungen in der Außenpolitik Rechnung zu tragen. Für Europa, und für Deutschland, wäre eine Regierung Biden zweifellos ein freundlicherer Partner. Aber der 46. US-Präsident – wer immer es am Ende ist – wird vor Herausforderungen stehen, deren Dimension die Amtsübernahme des jungen und energischen Obama in der Finanzkrise 2008 um Größenordnungen übersteigen. Die Außenpolitik wird kaum dringendste Priorität sein. Für Europa ist dies Chance und Gefahr, vor allem aber eine historische Herausforderung.
Dr. Constanze Stelzenmüller ist Senior Fellow am Center on the U.S. and Europe der Brookings Institution in Washington, DC.
Internationale Politik 4, Juli/August 2020, S. 52-56