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01. Juli 2019

Exportierte Grenzen

Ist Europas Technik der Abschottung im Maghreb und im Nahen Osten kontraproduktiv? Eine Analyse am Beispiel von Tunesien

Beim Gipfeltreffen der Europäischen Union und der Arabischen Liga im Februar dieses Jahres war es eines der zentralen Themen: Die europäisch-arabische Zusammenarbeit bei der Kontrolle der EU-Außengrenzen soll intensiviert werden, so Ratspräsident Donald Tusk. Bei der Grenzkontrolle und der Bekämpfung irregulärer Migration werde man die gemeinsamen Anstrengungen verstärken – auch an den Außengrenzen der arabischen Partnerstaaten.

Was auf europäisch-arabischer Ebene in dieser Deutlichkeit neu ist, ist für die Bundesregierung beinahe schon ein alter Hut. Seit Jahren finanziert sie Projekte der bilateralen und multilateralen Sicherheitszusammenarbeit in der Region, bei denen Grenzkontrollen ein wichtiger Baustein sind, seit 2016 auch im Rahmen der sogenannten Ertüchtigungsinitiative. Im Weißbuch Sicherheitspolitik des Verteidigungsministeriums heißt es dazu: „Unser Fokus liegt (…) auf präventiven Maßnahmen, um Konflikte und Krisen nach Möglichkeit frühzeitig zu entschärfen und Interessensgegensätze dauerhaft auszugleichen.“ Ziel sei es, die Sicherheitskräfte vor Ort in die Lage zu versetzen, selbst mit schwierigen Situationen fertig zu werden. Die Initiative geht über Training und Ausstattung von Sicherheitskräften hinaus, denn sie schließt auch militärische Ausstattungshilfe nicht aus. Immer wieder geht sie aber an der Realität der „ertüchtigten“ Länder vorbei.

Eines der sieben Schwerpunktländer ist Tunesien, wo sowohl das deutsche Innen- als auch das Verteidigungsministerium präsent sind. Nach zwei Anschlägen auf touristische Ziele im ersten Halbjahr 2015 entstanden hier mehrere G7-Plus-­Arbeitsgruppen zum Sicherheitssektor, in denen sich kritisch gegenüberstehende tunesische Sicherheitskräfte an einem Tisch sitzen. Deutschland koordiniert dabei die Zusammenarbeit im Bereich Grenzsicherung. Doch auch Ungarn, Großbritannien und Österreich haben in den vergangenen Monaten Tunesien Unterstützung in diesem Bereich angeboten.

An der Grenze zu Algerien, im äußersten Nordwesten des Landes, kooperiert die Bundespolizei mit den Grenzschützern der tunesischen Nationalgarde, einer Polizeieinheit. Bis zum Ende des Projekts 2020 wird die Bundesregierung dafür über 23 Millionen Euro ausgeben. Finanziert wird davon die Ausstattung für Einheiten und Grenzposten, zum Beispiel Fahrzeuge, Wärmebildkameras, Schutzwände und Ferngläser, die in weiten Teilen von deutscher und europäischer Sicherheitsindustrie bereitgestellt werden. Außerdem trainiert die deutsche Bundespolizei tunesische Grenzschützer.

Das Gelernte sollen die Mitglieder der Nationalgarde in Zukunft an der tunesisch-algerischen Nordgrenze anwenden, die zumeist entlang von Berg­ketten oder Flüssen verläuft. Dort im Norden ist es bis jetzt vergleichsweise einfach, die Grenze zu überqueren, wovon vor allem Schmuggler regen Gebrauch machen.

Ziel des Projekts sei es, „tragfähige Strukturen“ im Sicherheitsbereich zu unterstützen, so Johannes Parzer, der Verbindungsbeamte der Bundespolizei in Tunis, der auf deutscher Seite für das Projekt verantwortlich ist. Denn Gefährder, die man in Tunesien bereits erkenne, „stellen dann auch kein potenzielles Problem für Deutschland mehr dar“. Parzer besteht aber darauf, dass es sich nicht um eine Art ausgelagerten Grenzschutzeinsatz handele: „Wir verteidigen hier nicht die deutsche und auch nicht die europäische Grenze“, sagte er im Sommer 2017 bei einem Besuch des Projekts.

Aus dem Innenministerium in Berlin klingt das anders. Die Flüchtlingskrise werde man allein auf dem europäischen Kontinent nicht lösen können. Tunesien aber könne der Schlüssel zu einer Lösung sein, zitiert die ZEIT im Herbst 2016 einen Beamten des Referats für internationale grenzpolizeiliche Angelegenheiten in Bezug auf das gleiche Projekt.

Das Problem sind die Schmuggler

Hier findet auf deutscher Seite nicht nur eine Vermischung des Diskurses über Migration und Terrorismus statt. Sondern das Ziel der Migrationsabwehr steht auch in eklatantem Widerspruch zu Migrantenzahlen und gängigen Fluchtrouten. Tunesien ist kein klassisches Transitland. Zahlen der tunesischen und italienischen Behörden belegen: Die Mehrheit der Migranten, die aus Tunesien aufbrechen, sind tunesische Staatsbürger. Das Land hat also keineswegs den Nachbarstaat Libyen als Durchgangsland abgelöst.

Entsprechend formuliert auch die tunesische Seite das Hauptziel des Projekts anders. Terroristen seien an seinem Grenzabschnitt die Ausnahme, man habe es hier hauptsächlich mit Schmugglern zu tun. Und denen wolle man so schnell wie möglich das Handwerk legen, sagte ein hoher Verantwortlicher der Nationalgarde in der Region Jendouba im Sommer 2017, wo das Bundespolizei-Projekt durchgeführt wird. Denn der ­informelle Sektor sorgt in Tunesien für rund die Hälfte der Wirtschaftsleistung: Dem Staat entgehen so Milliarden an dringend benötigten Steuern; gleichzeitig sichert er vielen ­tausend Bewohnern der vernachlässigten Grenzregion das Überleben.

Nachschubwege der Hisbollah

Das deutsche Projekt an der Grenze zu Algerien erinnert an ein anderes, das die Bundesregierung federführend gut zehn Jahre zuvor im Libanon aufgelegt hatte: die Common Border Force. Ihr Ziel war es, nach dem israelisch-libanesischen Krieg 2006 an der syrischen Grenze den Schmuggel im Allgemeinen und im Besonderen den Waffenschmuggel an die schiitische Hisbollah zu unterbinden.

Der Umgang mit der radikalen „Partei Gottes“ ist für die europäischen Staaten seit Langem problematisch. Zwar zählt die vom Iran und Syrien unterstützte Partei zu den mächtigsten politischen und militärischen Akteuren im Libanon. Aber ihre antiisraelische Haltung und ihre Gewaltbereitschaft sind den Europäern ein Dorn im Auge. Die EU hat den militärischen Flügel der Organisation 2013 schließlich auf ihre Terrorliste gesetzt – ein Kunstgriff, der nicht der Realität entspricht. Denn man kann die Hisbollah, die seit Jahren mit Abgeordneten im Beiruter Parlament sowie mit Ministern in der Regierung vertreten ist, nicht in einen politischen und einen militärischen Flügel unterteilen.

Das Pilotprojekt der Common Border Force, auf den Norden der rund 375 Kilometer langen Grenze beschränkt, umfasste eine 800 Mann starke Truppe, in der erstmalig die libanesische Armee, die Polizei, der Zoll und der Geheimdienst bei der Grenzüberwachung zusammenarbeiten sollten. Doch die Bilanz blieb nach einem Jahr mager. Ein ­Bericht der Vereinten Nationen zur Grenz­überwachung sprach von „höchstens vereinzelten Inseln des Fortschritts, aber sie haben keine durchgreifende Wirkung auf die allgemeine Grenzsicherheit“. Die libanesische Grenze zu Syrien sei noch genauso durchlässig wie zuvor.

Die Common Border Force wurde bald begraben. Die Gründe dafür: Der libanesischen Regierung fehlte nach Angaben westlicher Diplomaten der politische Wille zur effizienten Grenzsicherung, denn es gab keine politische Mehrheit dafür, die Nachschubwege der Hisbollah abzuriegeln. Zudem war das Projekt mit der Lebensrealität der verarmten, von der libanesischen Regierung vernachlässigten Bewohner in der Grenzregion nicht vereinbar. Es wurde von den Menschen boykottiert. Denn die Bevölkerung lebte hier grenz­übergreifend und in erster Linie vom Schmuggel: vor allem Zement, Diesel, Gasflaschen, Viehfutter, Güter für den täglichen Bedarf, aber mancherorts auch Drogen und Waffen. Hassan Atiyeh, Besitzer eines kleinen Gemischtwarenhandels in Wadi Khaled, sagt: „Wir betrachten die andere Seite des Grenzflusses nicht als Ausland. Meine Kinder gehen dort zur Schule, wir gehen in Syrien zum Arzt. Ohne den kleinen Grenzverkehr ist ein Leben hier unmöglich.“

Die libanesische Regierung und Geberstaaten hätten sich zugleich um die Armut, Arbeitslosigkeit und den jämmerlichen Zustand der Infra­struktur im Grenzgebiet kümmern müssen. Und ganz ähnlich müsste es auch in Tunesien sein. Zwar versprach die EU sozioökonomische Hilfe, doch die Menschen spürten davon nichts. Deshalb ist es umso ­erstaunlicher, dass ein solches Projekt in Tunesien mit ähnlichen Defiziten von der Bundesregierung wieder aufgelegt wurde.

Berlin ist darüber hinaus in anderen Ländern der Region im Bereich Grenzmanagement aktiv, ebenso wie die EU. Die Projekte sind unterschiedlich strukturiert, deshalb nicht direkt vergleichbar. Gemein ist ihnen allerdings die starke Fokussierung auf die sicherheitstechnischen Aspekte.

Eine Militarisierung der Grenze

Mit dem syrischen Bürgerkrieg seit 2011 veränderte sich die Lage an der libanesisch-syrischen Grenze dramatisch. Die größten Sorgen für die Regierung in Beirut sowie für die internationale Gemeinschaft waren fortan der Flüchtlingsstrom aus Syrien sowie das Einsickern radikal-sunnitischer Kämpfer des IS und der früheren Nusra-Front (jetzt Hayat Tahrir al-Scham). Alle einflussreichen libanesischen Parteien wollten das unterbinden, auch die Hisbollah.

Die Sicherung der libanesischen Nord- und Ostgrenze wird seither von den wichtigsten westlichen Gebern USA, Großbritannien, Frankreich und EU fast ausschließlich durch die Prismen der Terrorbekämpfung und der Migrationskontrolle betrachtet. Obwohl die Europäische Union noch von einem Projekt zur Entwicklung der nationalen Kapazität für inte­griertes Grenzmanagement spricht, konzentrieren sich die Maßnahmen nun auf die Befähigung der Libane­sischen Armee (LAF), das Grenzgebiet unter Kon­trolle zu halten, illegale Zuwanderung und Schmuggel zu unterbinden und insbesondere ­radikale sunnitische Islamisten vom libanesischen ­Territorium fernzuhalten.

­Simone Tholens von der Universität Cardiff spricht in einem Artikel über die Unterstützung der ­libanesischen ­Sicherheitsarchitektur 2017 von einer Militarisierung der Grenze und der Grenzgebiete. Die Folgen einer effektiveren Armee mit ausgeweiteten Kompetenzen seien später nur schwer wieder rückgängig zu machen, warnt sie.

Konkurrierende Strukturen

Libanesische Sicherheitsorgane arbeiten bei der Terrorbekämpfung zwar überwiegend zusammen, aber konfessionell-­politische Differenzen verhindern bis heute eine ­nationale Verteidigungsstrategie. Die ­massive finanzielle und materielle Unterstützung der LAF insbesondere aus Wa­shington und London – und in geringerem Umfang aus Paris und anderen EU-Staaten inklusive Deutschlands – führt jedoch dazu, dass die Armee als ernstzunehmende Sicherheitsinstanz angesehen wird.

Aram Nerguizian erklärt in einer Studie über die libanesische Armee und Hisbollah für den Washingtoner Thinktank Center for Strategic and International Studies: „Der erfolgreiche und professionelle Kampfeinsatz der libanesischen Armee gegen den IS hat in den Augen vieler Libanesen die Auffassung korrigiert, die Hisbollah sei der einzige wirklich fähige Akteur im militärischen Bereich.“ Das an sich sei schon ein Erfolg.

Die „Partei Gottes“ genießt jedoch ein großes Maß an Unterstützung im Libanon, „und es sollte niemanden überraschen, dass auch Teile der Armee das antiisraelische Credo der Hisbollah teilen“, meint der Hisbollah- und Armee-Experte Nicholas Blanford in einem Briefing für den Atlantic Council 2018. Viele LAF-Offiziere und Soldaten seien hingegen nicht glücklich darüber, die Verantwortung für die nationale Verteidigung mit einem nichtstaatlichen Akteur zu teilen, dessen religiöse und ideologische Bezugsgröße in Teheran sitzt. Doch die Rolle der Hisbollah wird respektiert. Denn wer immer in Europa oder in den USA darauf setzt, dass eine weitere Stärkung der Armee dazu führen könnte, die Rolle der Hisbollah zu verringern oder sie gar zu entwaffnen, der dürfte enttäuscht werden. „Realistischerweise gibt es so gut wie keine Chance, dass die LAF versuchen könnte, Hisbollah zu konfrontieren oder zu entwaffnen. Ein solcher Schritt wäre ein Rezept für einen Bürgerkrieg“, so Blanford.

Die Hisbollah kontrolliert strategisch wichtige Bereiche auf libanesischer wie auf syrischer Seite. Trotz mancher Fortschritte bewertete die EU 2018 die Qualität der Grenz­überwachung sowie des Grenzmanagements in nördlichen und östlichen Grenzbereichen immer noch als mangelhaft. Der Einsatz eigens gegründeter Grenzregimenter, der Bau von zwölf befestigten Wachtürmen, die mit ferngesteuerten Kameras und Nachtsichtgeräten ausgestattet sind, und der Einsatz von Überwachungsdrohnen reichen nicht aus.

Inwieweit der Schmuggel von Waren und Waffen tatsächlich eingedämmt werden kann, wird auch davon abhängen, ob die Bevölkerung unabhängig von solchen Einnahmequellen leben kann. Ansonsten könnte der Versuch, die Grenze weiter dicht zu machen, langfristig kontraproduktiv sein. Weil er dann statt zur Staats­bildung dazu beiträgt, die unterprivilegierten Bürger der Grenzregionen radikalen nichtstaatlichen Gruppierungen in die Arme zu treiben.

Hilft elektronische Überwachung?

Auf Hochtechnologie setzt Deutschland auch an der libysch-tunesischen Grenze. Wo die tunesische Armee 2016 einen 180 Kilometer langen Graben ausgehoben und einen Grenz­wall aufgeschüttet hatte, finanzieren Deutschland und die USA zusätzlich ein elektronisches Grenz­überwachungssystem.

2017 lieferte das deutsche Verteidigungsministerium für 16 Millionen Euro mobile Grenzüberwachungssysteme an Tunesien. In einem nächsten Schritt errichten die USA ein stationäres elektronisches Überwachungssystem entlang des Grenz­walls. Sein erster Abschnitt reicht vom Grenz­übergang Ras Jdir an der Mittelmeerküste bis zum Übergang in Dhehiba. Die Verlängerung über die restlichen 400 Kilometer bis nach Borj el Khadra am äußersten Südzipfel Tunesiens soll bis Anfang 2020 installiert sein und wird vom deutschen Verteidigungsministerium finanziert. Das Projektvolumen liegt bei 18 Millionen Euro. Geliefert wird das System ebenfalls aus Deutschland, von der Firma Hensoldt, einem 2017 gegründeten Ableger von Airbus Space and Defence.

Bereits jetzt sei der Schmuggel deutlich zurückgegangen, so das tunesische Verteidigungsministerium, das für den Grenzschutz zum fragilen Nachbarn Libyen zuständig ist. In den ersten vier Monaten des Jahres 2019 habe das Militär an der Grenze 655 Schmuggler und Migranten festgenommen und Waren im Wert von rund sieben Millionen Euro beschlagnahmt, darunter Fahrzeuge, Treibstoff, Zigaretten, Cannabis und Altkleider, aber auch Kriegs- und Jagdwaffen. Wie das Innenministerium für die Nordgrenze nennt auch das Militär für die Südgrenze die Abwehr von Schmugglern, die der tunesischen Wirtschaft schaden, als wichtigstes Ziel der verstärkten Grenzsicherung – noch vor der Terrorabwehr oder der Eindämmung illegaler Migration.

Doch außer Acht lassen sowohl die tunesische als auch die deutsche Seite, dass der Schmuggel seit Jahrzehnten ein zwar korruptes, aber wesentliches stabilisierendes Element der Region ist. An der Grenze existiert ein eingespieltes System zwischen Schmugglern, Zoll, Sicherheitskräften und Politik, mit festgesetzten Tarifen und Warenmengen. Auch wenn das stillschweigende Übereinkommen zwischen Staat und Schmugg­lern aus der Zeit der Diktatur, weder Drogen noch Waffen zu schmuggeln, nach dem politischen Umbruch 2011 ins Wanken geriet, habe „der tunesische Staat zu diesem Abkommen keine Alternative“, so Max Gallien, der an der London School of Economics zur politischen Ökonomie des informellen Handels im Maghreb promoviert. Denn der Schmuggel garantiert den Bewohnern der strukturschwachen, vom Staat vernachlässigten Grenzregionen nicht nur ein Auskommen, sondern schützt die Machthaber vor sozialen Revolten. Sicherheitssysteme müssten, um wirksam zu sein, wirtschaftlich und lokal eingebettet werden, betont auch Gallien.

Doch genau diese Einbindung ist im Projekt nicht vorgesehen. In einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion Die Linke zur Evaluierung der Ertüchtigungsinitiative schrieb die deutsche ­Regierung im Dezember 2018: „Erkenntnisse zu Auswirkungen auf die sozioökonomische Lage der Bevölkerung in den Grenzregionen aufgrund des Projekts der Ertüchtigungsinitiative zur elektronischen Überwachung der tunesisch-libyschen Grenze liegen der Bundesregierung nicht vor.“

Früher sei die Bevölkerung ein zentraler Teil des Schutzmechanismus gegen Terroristen gewesen, so Gallien, heute betrachte der Staat sie primär als Sicherheitsrisiko: „Das ist mit das gefährlichste an diesen Technologien: die Vorstellung, dass dort früher auch im Sicherheitsbereich ein Niemandsland war.“ Stattdessen würden alte Deals zerschlagen und die Sicherheitslage fragiler, als sie es zuvor war.

Das im Weißbuch formulierte Ziel, Konflikte und Krisen mit präventiven Maßnahmen frühzeitig zu entschärfen, wird hier ad absurdum geführt, da die Grenzsicherungsmaßnahmen nicht von umfassenden wirtschaftlichen Reformen in der Region begleitet werden. Kurzfristiger Gewinner ist dabei allenfalls die europäische Rüstungsindustrie.

Demokratische Reformen fehlen

Hinzu kommt, dass die tunesischen Sicherheitsinstitutionen zusammen mit der Justiz die Bereiche sind, in denen nach dem politischen Umbruch die wenigsten demokratischen Reformen vorgenommen wurden. Isabelle Werenfels und Max Gallien bezeichnen die Lage im tunesischen Sicherheitssektor und insbesondere im Innenministerium in einer Studie der SWP vom Februar 2019 als bedenklich: „Zwar haben sich die Kapazitäten der tunesischen Sicherheitskräfte insgesamt in den letzten Jahren verbessert, vor allem aufgrund extensiver Unterstützung internationaler Partner. Dennoch sind grundlegende interne Reformen, vor allem der Polizei, verschleppt worden. Der Sektor operiert weithin intransparent, fragmentiert sowie ohne klare Rechenschaftspflicht bzw. parlamentarische Aufsicht.“

Die Priorität westlicher Geberländer, die Grenzen in Tunesien und im Libanon durch militärische und technische Aufrüstung sicherer zu machen, stellt offenbar alle anderen demokratischen Reformziele in den Schatten. Dass sie gleichsam das sozioökonomische Umfeld der betroffenen Grenzregionen wenig oder gar nicht berücksichtigt, könnte zum Fallstrick werden. Denn die dort immer weiter verarmende Bevölkerung wird einen Ausweg suchen. Migration ist eine Alternative. Eine andere ist die Kooperation mit radikalen Gruppierungen, die als Gegenleistung ihren Lebensunterhalt sichern.

Birgit Kaspar arbeitet nach mehr als zehn Jahren Nahostberichterstattung in Jordanien und Libanon als freie Journalistin in Frankreich.

Sarah Mersch berichtet seit 2010 als freie Journalistin u.a. für die ARD, die Neue Zürcher Zeitung, den epd und die Deutsche Welle aus Tunesien.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli August 2019, S. 57-63

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