Exit der Skeptiker
Wie sich der Brexit auf die Europawahlen 2019 auswirken wird
Der britische Austritt aus der EU ist der größte politische Erfolg von Gegnern der europäischen Integration – und wird voraussichtlich wenige Wochen vor den Europawahlen 2019 vollzogen. Paradoxerweise aber zwingt der Brexit die EU-skeptischen Parteien zum Umbau, parlamentarisch und politisch.
Der 29. März 2019 ist das Datum, an dem das Vereinigte Königreich aller Voraussicht nach als erstes Land überhaupt den Austritt aus der Europäischen Union vollzieht. Das ist nur knapp acht Wochen vor den nächsten Europawahlen, zu denen die Europäerinnen und Europäer in dann nur noch 27 EU-Staaten an die Wahlurne gerufen werden, um das nächste Europäische Parlament zu wählen.
Noch ist völlig unklar, unter welchen Umständen der Brexit dann ablaufen wird; selbst eine Verlängerung der Verhandlungen über das Datum hinweg ist nicht völlig ausgeschlossen. Doch ob am Ende ein „weicher Brexit“, ein „harter Brexit“ oder „no deal“ steht – sobald Großbritannien die EU verlässt, werden auch seine politischen Repräsentanten alle EU-Institutionen verlassen, einschließlich der 73 britischen Abgeordneten im Europäischen Parlament. Dies gilt auch für die Übergangszeit, so sie denn zustande kommt, in der Großbritannien nach der vorläufigen politischen Einigung zwar weiter an EU-Regeln gebunden, als Drittstaat aber nicht mehr in den EU-Institutionen repräsentiert sein wird. Mit dem früheren Anführer der UK Independence Party (UKIP) Nigel Farage verlässt damit nicht nur eine der schillerndsten Figuren das Straßburger Parlament, auch auf die Mehrheitsverhältnisse zwischen den anderen Parteien wird sich der Brexit spürbar auswirken.
Die EVP als Gewinner
Der unmittelbarste Effekt des Brexit auf das Europäische Parlament sind die Verschiebungen zwischen den Parteien (siehe Grafik 1). Bei den großen Parteien ist die Europäische Volkspartei (EVP), Heimat der deutschen CDU/CSU, der offensichtliche Gewinner. Denn seit die britischen Konservativen die EVP im Jahr 2009 verlassen haben, hat die größte europäische Partei keinen Partner im Vereinigten Königreich mehr. Da alle anderen Fraktionen Abgeordnete verlieren, steht die EVP als relativer Gewinner dar. Die europäischen Sozialdemokraten (S&D) verlieren mit Labour hingegen die westeuropäische sozialdemokratische Partei, die mit 40 Prozent bei den letzten nationalen Wahlen noch am besten dastand; aktuell stellen sie 20 S&D-Abgeordnete. Die Verluste bei der liberalen ALDE, den europäischen Grünen und der Europäischen Linken sind hingegen deutlich geringer.
Für das Machtverhältnis im Europaparlament ist das entscheidend: Neben den zu erwartenden Verlusten sozialdemokratischer Parteien etwa in Italien, Deutschland oder Frankreich wird der Brexit dazu beitragen, dass die EVP die Position als stärkste Fraktion auch nach den Wahlen 2019 fast sicher hat. Das wird sich ebenfalls auf das Spitzenkandidatenprinzip auswirken. Während der Kampf um die Position als größte Fraktion 2014 noch als offenes Rennen galt, bei dem sich auch die S&D unter ihrem damaligen Spitzenkandidaten Martin Schulz Chancen auf das Amt des Kommissionspräsidenten ausrechnete, dürfte eine Mehrheitsbildung im Europaparlament nach 2019 nur mit der EVP möglich sein. Der Spitzenkandidat der EVP hat damit auch die besten Chancen, Präsident der EU-Kommission zu werden.
Verlustgeschäft für EU-Kritiker
Noch größer sind die Auswirkungen bei den EU-skeptischen Fraktionen. Seit dem Zuwachs bei den Wahlen 2014 nehmen tendenziell antieuropäisch eingestellte Parteien knapp 20 Prozent der Sitze im EP ein, verteilen sich aber auf drei Fraktionen, in denen jeweils britische Abgeordnete eine wichtige Rolle spielen. Die – bis dato – moderat EU-skeptische Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) wird von zwei Säulen getragen, den britischen Tories und der polnischen Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (PiS), die zusammen 37 der 73 EKR-Abgeordneten stellen. Das Europaparlament verliert damit die mitunter konstruktivsten Abgeordneten aus dem EU-skeptischen Lager. Auch nach dem Brexit hat die EKR mit Parteien aus 17 EU-Staaten genügend Mitglieder, um als Fraktion fortzubestehen – allerdings mit einer dann deutlichen Prägung aus Mittel- und Osteuropa, aus dem 31 der 54 übrigen EKR-Abgeordneten stammen.
Vor dem Zusammenbruch steht hingegen die fundamental EU-kritische Fraktion des „Europa der Freiheit und Direkten Demokratie“ (EFDD). Diese Fraktion ist von Beginn an eine Zweckgemeinschaft aus UKIP und italienischer Fünf-Sterne-Bewegung gewesen. Während UKIP via Brexit das Europaparlament verlässt, hat die Fünf-Sterne-Bewegung ihre EU-Kritik zumindest rhetorisch abgemildert – und im EP beispielsweise für das Artikel-7-Verfahren gegen Viktor Orbáns Regierung gestimmt. Die EFDD wird den Brexit kaum überleben, und die anderen kleinen Partner werden sich umorientieren. Die Schwedendemokraten etwa haben die EFDD im Juli 2018 in Richtung EKR verlassen. Und die Alternative für Deutschland, deren aktuell einziger Europa-Abgeordneter (von ursprünglich sieben) in der EFDD sitzt, wird sich dann auch neu orientieren müssen.
Die ebenfalls fundamental EU-kritische Fraktion „Europa der Nationen und Freiheit“ (ENF) hat zwar keine britische Mitgliedspartei, ist aber für den Fraktionsstatus (noch) auf einzelne britische Mitglieder angewiesen. Angesichts erwartbarer Zuwächse etwa für die italienische Lega dürfte die ENF sich aber auch nach den Wahlen 2019 wieder bilden können.
Kurzum: Das EU-skeptische Spektrum wird sich nach dem Brexit und den Europawahlen 2019 neu ordnen müssen. Insbesondere die EFDD steht vor dem Aus. Für diese Neuordnung gibt es zwei grundsätzliche Szenarien: eine fortgesetzte Spaltung in eine moderatere, stärker mittel- und osteuropäisch geprägte EKR-Fraktion sowie eine klar rechtspopulistische, fundamental EU-kritische ENF, die miteinander um jede einzelne Partei und die Vorherrschaft im EU-skeptischen Lager ringen. Die zweite Option ist eine EU-skeptische Sammelfraktion, die von der ungarischen Fidesz (jetzt EVP) über die EKR-Fraktion bis hin zu EFDD und ENF reichen könnte. Eine solche Sammelfraktion, wie sie etwa vom italienischen Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini angestrebt und von Donald Trumps ehemaligem Berater Steve Bannon medienwirksam unterstützt wird, hätte nach den Wahlen 2019 durchaus das Potenzial, die mindestens zweitgrößte Fraktion im EP zu werden oder die EVP sogar noch zu übertrumpfen.
Die Verschiebungen finden jedoch nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch den Mitgliedstaaten statt. Bereits im Sommer 2018 haben die EU-Institutionen entschieden, wie mit den 73 Sitzen nach dem Brexit umgegangen werden soll – 27 werden an 14 unterrepräsentierte Mitgliedstaaten verteilt, um bestehende Ungleichgewichte bei der Repräsentation im Parlament auszugleichen (siehe Grafik 2).
Verschiebungen zur Euro-Zone
Das Europaparlament wird damit erstmals spürbar kleiner und schrumpft von 751 auf 705 Abgeordnete. Frankreich etwa erhält fünf zusätzliche Abgeordnete, Irland zwei. Deutschland hingegen gewinnt keine weiteren Parlamentarier hinzu, weil es bereits das vertraglich festgelegte obere Limit von 96 Abgeordneten erreicht hat.
Die Neuverteilung orientiert sich an Verschiebungen bei den Bevölkerungsgrößen der Mitgliedstaaten. Dennoch gibt es auch einen politischen Effekt. Mit Großbritannien verlässt der größte Nicht-Euro-Staat die EU, mehr als 85 Prozent der EU-Wirtschaftskraft sind nach dem Brexit auf die Euro-Zone konzentriert. Gleichzeitig gehen 22 der 27 umverteilten Sitze an Euro-Mitgliedstaaten. Im Ergebnis steigt der Anteil von EU-Parlamentariern aus dem Euro-Raum von derzeit 65 auf demnächst 72 Prozent. Besonders profitiert davon „der Süden“ – nämlich die Euro-Staaten Frankreich, Italien und Spanien.
Die 46 übrigen britischen Sitze fallen zunächst nach dem Grundsatz „kleinere EU, kleineres Parlament“ weg. Sie dienen aber nicht nur als Reserve für potenzielle Erweiterungen der Union, sondern auch für die Idee der Einführung transnationaler Listen. Diese Idee, die besonders Frankreichs Präsident Emmanuel Macron unterstützt, sieht die Nutzung der 46 Sitze für einen europaweiten Wahlkreis vor, in dem europäische Parteien direkt um Wähler konkurrieren könnten. Für 2019 ist die Einführung aber vor allem am Widerstand aus der EVP gescheitert, eine unter anderem von Macron und Angela Merkel geforderte Einführung zu den Wahlen 2024 bleibt – als Zukunftsmusik – aber möglich.
Das Verlängerungsrisiko
Bei der Analyse der Auswirkungen des Brexit auf die Europawahlen darf jedoch nicht vergessen werden: Auch in den wenigen verbleibenden Monaten vor dem anvisierten Austritt sind die Brexit-Verhandlungen weiterhin von maximaler Unsicherheit geprägt. Ein Austritt ohne Einigung, aber auch ein Scheitern des Verhandlungsergebnisses im britischen Unterhaus bis hin zu Neuwahlen waren bei Drucklegung der IP weiterhin im Bereich des Denkbaren. Insbesondere erlaubt Artikel 50 bei einem einstimmigen Beschluss der EU-27 mit Großbritannien, die Austrittsverhandlungen zu verlängern. Dies ist politisch aktuell von keiner der beiden Seiten gewollt, aber angesichts der politischen Krise in London nicht auszuschließen.
Dies hätte einige bislang kaum bedachte Konsequenzen, auch für die Europawahlen. Bei einer Verlängerung der Artikel-50-Verhandlungen bliebe Großbritannien bis zur nächsten Frist weiterhin EU-Mitglied mit allen Rechten und Pflichten. Hierzu gehören auch das Recht auf 73 EP-Abgeordnete und die Pflicht, im Mai 2019 Europawahlen durchzuführen. Für die EU würde das bedeuten, dass die Veränderung bei der Sitzverteilung vorerst ruhen würde. Das sehen auch die entsprechenden Rechtstexte vor.
Aus Brüsseler Sicht wären Europawahlen in einem Land, was sich weiterhin auf dem Weg zum Exit befindet, eine unbequeme Angelegenheit. Gravierender noch wären die Konsequenzen für Großbritannien. In der angespannten innenpolitischen Lage würden Europawahlen wohl nahezu zwangsläufig zu einer Art zweitem Referendum über den Brexit werden. Der UKIP würde neues Leben eingehaucht. Brexit-Befürworter würden schon die Verlängerung als Betrug am Referendum angreifen, und Brexit-Gegner würden für den Verbleib in der EU trommeln. Eine explosive Mischung – aber nur ein Randszenario.
Nicht unterschätzt werden sollte zuletzt der psychologische Effekt auf die Europawahlen, wenn Großbritannien wie erwartet kurz vorher die EU verlässt. Die aktuellen Verhandlungen konzentrieren sich vor allem auf die wirtschaftlichen und technischen Aspekte des Brexit. Gleichzeitig scheint die Uhr für das Vereinigte Königreich gewissermaßen stehengeblieben sein, denn noch hat das Land die EU nicht verlassen. Kurz vor den Europawahlen wird die Schwere des Brexit aber in aller Deutlichkeit offensichtlich – britische Vertreter, die alle EU-Institutionen verlassen, Brexit-Befürworter in Großbritannien, die den Vollzug des Austritts feiern, und eine EU, die um ihr zweitgrößtes Mitglied ärmer ist. Plötzlich steht vor den Toren der EU ein westeuropäisches Land, das eine Alternative zum europäischen Integrationsprozess sucht.
Historischer Einschnitt
Am Europawahlkampf kann dieser historische Einschnitt nicht spurlos vorübergehen. Zusätzlich zu zahlreichen Prozessen der Selbstvergewisserung in den verbleibenden 27 EU-Staaten hat der Brexit zuletzt auch Einfluss auf die politische Ausrichtung EU-skeptischer Parteien in anderen Mitgliedstaaten genommen.
Das Erzwingen und Gewinnen des britischen Austrittsreferendums ist zwar der größte bisherige politische Erfolg EU-skeptischer Bewegungen und wurde von euroskeptischen Parteien als Vorbild gefeiert. Doch gleichzeitig haben der Verlauf der Brexit-Verhandlungen, die politische Dauerkrise in London und das schmerzhafte Ringen Großbritanniens mit seiner Entscheidung in anderen EU-Staaten bis dato eher abschreckende Wirkung; die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft ist seit dem Brexit europaweit gestiegen. In Kombination mit der Niederlage Marine Le Pens bei den französischen Präsidentschaftswahlen scheinen die meisten EU-skeptischen Parteien daraus die Lehre gezogen zu haben, nicht mehr die Mitgliedschaft in der EU an sich infrage zu stellen, sondern – als Mitglied – ihre fundamentalen Werte und politische Ausrichtung von einer kosmopolitischen Ausrichtung hin zu einer stärkeren Abschottung grundlegend verändern zu wollen.
Sowohl der Brexit selbst als auch die damit erzwungene Neuordnung des EU-skeptischen Spektrums unterstreichen damit die Bedeutung der kommenden Europawahlen als Richtungsentscheidung über die Zukunft der EU. Auf dem Spiel steht hierbei nicht weniger als die grundlegende Ausrichtung der weiteren europäischen Integration.
Dr. Nicolai von Ondarza leitet die Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
Felix Schenuit ist Forschungsassistent in der Forschungsgruppe EU/Europa bei der SWP.
Internationale Politik 6, November-Dezember 2018, S 76-81