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01. Juni 2009

„Europragmatiker, Eurovoluntarist“

Internationale Presse

Auch vor den EU-Wahlen dominiert Nicolas Sarkozy Frankreichs Medien

Wenn die Franzosen am 7. Juni bei der Europawahl abstimmen, dann geht es um mehr als um die Bestimmung der 72 französischen Europaparlamentarier. Es ist die erste Abstimmung auf nationaler Ebene seit der Präsidentschaftswahl im Mai 2006, die erste Europawahl nach dem gescheiterten Verfassungsreferendum 2005, und es ist die erste Wahl zum EU-Parlament nach der französischen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008. Vor allem aber gilt die Abstimmung am 7. Juni als wichtiges Stimmungsbarometer für die Zufriedenheit der Franzosen mit ihrem Präsidenten Nicolas Sarkozy. Die Wähler werden zum einen seine Europapolitik bewerten, denn diese hat durch die französische EU-Ratspräsidentschaft und Sarkozys schnelle Ratifizierung des Lissabon-Vertrags in den ersten 24 Monaten seiner Amtszeit eine herausragende Rolle gespielt. Zum anderen werden sie über die Bilanz und den Regierungsstil in den ersten zwei Jahren seiner Präsidentschaft abstimmen.

Weitgehend desinteressiert

Im Vergleich etwa zu den Europawahlen 2004 und 1999 begann die Kampagne der Parteien dieses Mal spät, entwickelte sich verhalten und wies inhaltlich keine klare Trennlinie zwischen rechts und links auf. Die Bevölkerung scheint weitgehend desinteressiert. Medienkommentatoren erwarteten nach einer Nichtwählerquote von 57 Prozent bei den Europawahlen im Jahr 2004 einen erneuten Rekord bei den Enthaltungen. Meinungsforschungsinstitute prognostizieren eine Wahlbeteiligung von möglicherweise unter 40 Prozent. Über europäische Politik wird in Frankreich kaum debattiert.

Das war nicht immer so. Vor dem 29. Mai 2005 erlebte das Land eine Europadiskussion, die ihresgleichen  in der Geschichte der europäischen Integration sucht. Seither erlebt Frankreich eine Flaute in Sachen europäischer und internationaler Debatten. Außenpolitische Weichenstellungen wie die volle Reintegration in die militärischen Strukturen der NATO lösten keine ernsthaften Kontroversen aus. Und als der Lissabon-Vertrag, der den wesentlichen Inhalten des Verfassungsvertrags eine zweite Lebenschance geben soll, von Sarkozy Ende 2007 durch das französische Parlament gewunken wurde, schwiegen die ehemaligen Opponenten weitgehend. Ebenso wenig führte Frankreichs Ratspräsidentschaft zu intensiven Europadiskussionen.

Ähnlich mau ist die Debatte vor den Europawahlen. Frankreich ist mit sich selbst beschäftigt – und das heißt vor allem: mit seinem Präsidenten. Zwei Jahre nach Amtsübernahme ist die anfänglich breite Zustimmung zu Sarkozy eingebrochen. War es im Jahr 2007 vor allem Sarkozys diskussionswürdiges Verhalten – sein Hang zum Luxus, seine Nervosität oder seine gelegentlichen verbalen Ausfälle –, das die Bevölkerung verschreckte, so hat Frankreichs Präsident nun mit den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise zu kämpfen. Dies erschwert die Realisierung seines umfassenden Reformprogramms.

Zum zweiten Jahrestag der Wahl Sarkozys zum Staatspräsidenten am 7. Mai 2009 bewegte die französischen Medien daher besonders die Frage: Was ist dran an dem Bruch, dem Modernisierungsschub, den Sarkozy für Frankreich angekündigt hatte? Die Reformbilanz fällt weitgehend nüchtern aus. Zwar sei eine beeindruckende Zahl von Initiativen lanciert worden, beobachtet Le Monde in einem ausführlichen Dossier zum zweiten Jahrestag (6.5.). Doch zum Abschluss gekommen seien nur wenige. Das Reformprogramm bleibe zwei Jahre nach der Amtsübernahme weit hinter den Ankündigungen zurück.

Auch der Erfolg von Sarkozys Politik der „Ouverture“ wird hinterfragt. Mit der Aufnahme etwa von linken Personen und Vertretern des zentristischen Mouvement Démocrate in die Regierung und mit einem Programm, das liberale Ansprüche mit einem entschiedenen Interventionismus vereint, versucht Sarkozy das gesamte politische Spektrum der politischen Elite anzusprechen, und in einer Art großen Koalition unter alleiniger Führung der UMP zu regieren. Dies gelingt nach Ansicht von Arnaud Leparmentier (Le Monde, 5.5.) nur bedingt. Der Präsident spalte die Gemüter mehr, als dass er sie eine. So habe der „Bling-bling“-Präsident wichtige Wählergruppen mit seinem Hang zum großen Geld vergrätzt. Die Intellektuellen Frankreichs habe er bewusst vor den Kopf gestoßen, was sich nun bei seinem Versuch, die Universitäten, das Justizsystem ebenso wie die Krankenhäuser zu reformieren, bitter räche. Dementsprechend lang ist das ABC der „Hyper-Opponenten des Hyper-Präsidenten“, die Le Monde (6.5.) auflistet: Politiker, Journalisten, Philosophen, Sportler, Richter und andere.

Obwohl in der Substanz bislang nicht viel dran ist an der Politik der „Rupture“, haben Sarkozys Strategie und Rhetorik aus Sicht einiger Kommentatoren Umbruchprozesse verstärkt, die derzeit in der französischen Meinungs- und Parteienlandschaft ablaufen. Pierre Martin und Simon Labouret (Commentaire Nr. 125/2009) sehen gar eine neue ideologische Trennlinie entstehen. Eine Trennlinie, die nicht zwischen rechts und links verlaufe, sondern zwischen den globalisierten Eliten, die Antworten auf die Krise im europäischen oder regionalen Zusammenwirken sehen, und denen, die die Lösung in Abschottung und nationalen bis hin zu lokalen Antworten suchen. Die Grenzen zwischen rechts und links sind allerdings nicht erst seit Sarkozys Politik der „Ouverture“ verwischt. In Frankreich wie in anderen westlichen Demokratien konkurrieren konservativ-liberale schon seit Längerem mit sozial-liberalen Vorschlägen zur Globalisierungsgestaltung. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat dieser Entwicklung neuen Schwung verliehen und stellt gerade für das linke Lager eine politische Herausforderung dar.

Der Zustand des Parti Socialiste bereitet vor den Europawahlen nicht nur der linksgerichteten Tageszeitung Libération Sorge, sondern insbesondere dem Blatt Le Monde, das sich immer wieder mit der Richtungslosigkeit und den Profilierungsschwierigkeiten des französischen PS und der europäischen Sozialdemokraten befasst. Zwar habe der PS noch vor der UMP seine Listen für die Europawahl präsentiert, doch fehle es der Partei an Elan und an einer klaren Strategie. Immerhin basiere das Wahlprogramm  des PS auf dem Manifest der Parti Socialiste Européen (PSE), das alle sozialdemokratischen Parteien der EU-27 angenommen hätten. So habe die Partei einen entscheidenden Schritt zurück in die Familie der Europäischen Sozialisten getan. Von dieser hatte sie sich zeitweise abgewandt, etwa durch die von Teilen des PS unterstützte Nein-Kampagne gegen den Verfassungsvertrag. Die PSE-Forderungen nach einem Europäischen Pakt für sozialen Fortschritt und einem besser regierten Europa spielten allerdings keine sichtbare Rolle im Wahlkampf des PS; nicht zuletzt deshalb, weil auch Präsident Sarkozy für die UMP diese Themen besetzt hat. Die Partei tendiert nach Ansicht von Le Monde (6.5.) vielmehr zur Propagierung einer doppelten Sanktionswahl gegen Sarkozy und gegen den rechten Kommissionspräsidenten Barroso.

Auch die Wirtschaftstageszeitung Les Echos stellt fest, dass sich fast alle Parteien auf eine „Sanktionswahl gegen Sarkozy“ konzentrieren (11.5.). Dies gelte insbesondere für den Chef des Mouvement Démocrate (MoDem), François Bayrou. Dessen Partei wird mittlerweile – trotz seiner teilweise enttäuschenden Ergebnisse – als integraler Bestandteil der politischen Landschaft Frankreichs gesehen (Commentaire Nr. 125/2009). Der „Zusammenbruch“ der Sozialisten könne gar dafür sorgen, dass Bayrou bei den Präsidentschaftswahlen 2012 in die Stichwahl einziehe (Jean d’Ormesson in Le Figaro, 6.5.). Für Bayrou sei die Juni-Abstimmung daher eine wichtige Etappe hin zur Präsidentschaftswahl 2012. In seiner Kampagne sucht er vor allem die Abgrenzung von Amtsinhaber Sarkozy. Er konzentriert sich darauf, dessen Machtmissbrauch anzuprangern. Die programmatischen Inhalte des MoDem, die durchaus weitreichend sind und sich von denen der PS und der UMP abheben, stehen so in der Kampagnenführung eindeutig im Hintergrund – und werden entsprechend wenig in den Medien reflektiert.

Was ist also aus der Dynamik des Nein zum Verfassungsvertrag geworden? In der medialen Diskussion spielt der Referendumsschock vom Mai 2005 kaum eine Rolle mehr. Anders in den Parteien: Zwei politische Kräfte stehen nach Ansicht von Les Echos (7.5.) in klarer Kontinuität des Nein. Das sind einerseits die rechten Splitterparteien um Philippe de Villiers sowie die Jäger des CPNT, die sich unter der Fahne des irischen Europaskeptikers „Libertas“ gesammelt haben. Und andererseits die Partei des Gaullisten Nicolas Dupont-Aignan, der mit „Debout la République“ die Europäische Kommission abschaffen will und mit Hilfe von Handelsschranken einen „intelligenten europäischen Protektionismus“ einführen will.

Sehr deutlich greift hingegen Nicolas Sarkozy selbst die Kluft zwischen dem Ja- und dem Nein-Lager auf. In seiner Europarede in Nîmes Anfang Mai 2009 sprach er diesen Konflikt explizit an – und positionierte seine Vorschläge als Antwort an beide Seiten. Das wiederholte klare Nein zum EU-Beitritt der Türkei, die Sorge um Frankreichs Gestaltungsspielraum, die Infragestellung der geltenden Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung der EU etwa sind Themen, die die Positionen rechter wie linker Kritiker des Verfassungsvertrags aufnehmen und gleichzeitig  bei dessen Befürwortern auf Zustimmung stoßen. Daraus schaffe er nach Ansicht von Paul-Henri du Limbert (Le Figaro, 6.5.) ein „kohärentes Ganzes“. Sarkozy sei ein Euro-pragmatiker und ein Eurovoluntarist. Dieser unverhohlene Gestaltungswille und die Breite der Themen drängen die Opposition in einen „Antisarkozysmus“, der es nicht erlaube, politische Alternativen in der öffentlichen Wahrnehmung aufzubauen (La Tribune, 5.5.). Das gelte für die Europapolitik ebenso wie für innerfranzösische Themen – die Aussicht auf einen Wechsel sei in der Wahrnehmung der Wähler geschwunden. Der überparteiliche Europadiskurs des Staatspräsidenten mache ihn bei den Europawahlen „omnipräsenter“ als je zuvor.

Die Kommentatoren interessieren sich selbst weniger für die Inhalte in den Europawahlprogrammen als für die Frage, mit welcher Strategie welche Partei in den Wahlkampf geht – und das bedeutet unter Sarkozy vor allem: wie sie sich zum übermächtigen Staatspräsidenten verhält. Die Regionalzeitung Sud Ouest sieht sich bei so viel Konzentration auf das Staatsoberhaupt genötigt, an eines zu erinnern: „Das ist nicht, worum es in diesen Wahlen geht. Es geht, viel prosaischer, darum, Abgeordnete zu wählen, die im Parlament für eher liberale oder sozialdemokratische Töne sorgen, und ob die Europäische Kommission eher rechts- oder linkslastig wird“ (6.5.).

Dr. DANIELA SCHWARZER leitet die Forschungsgruppe EU-Integration bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2009, S. 96 - 99.

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