Weltspiegel

02. Jan. 2023

Europas geopolitische Verwirrung

Die EU solle „geopolitischer“ werden, heißt es oft. Was damit gemeint sein soll, bleibt unklar, wohl mit Bedacht. Tatsächlich drücken sich die Befürworter um eine Antwort.

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Bild: Porträt von Josep Borrell
Muss die EU „lernen, die Sprache der Macht zu sprechen“? Dem EU-Außenbeauftragten Borrell geht es wohl eher um die traditionelle Sprache der Macht.
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Es besteht ein Konsens – zumal seit der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 –, dass die Europäische Union angesichts immer größerer Bedrohungen „geopolitischer“ werden muss. Wenig Klarheit besteht jedoch darüber, was „Geopolitik“ überhaupt bedeutet. Der Begriff wird in mindestens fünf verschiedenen Bedeutungen verwendet: erstens einfach als Synonym für internationale Politik; zweitens in dem engen und ursprünglichen Sinne, bei dem es um die Rolle der Geografie in der internationalen Politik geht; drittens, um sich auf den strategischen Einsatz militärischer Mittel zu beziehen (im Gegensatz zu Geoökonomie); viertens als Synonym für Machtpolitik (im Gegensatz zu regelbasierter internationaler Politik); und fünftens, um einen Prioritätenwechsel zulasten des wirtschaftlichen Liberalismus und der Verfolgung wirtschaftlicher Ziele zu beschreiben.



Diejenigen, die ein geopolitischeres Europa fordern, erklären selten genau, welche dieser fünf – oder vielleicht noch eine ganz andere – Bedeutungen sie im Sinne haben. Oft wirkt es so, als ob diejenigen, die den Begriff verwenden, weder über seine Herkunft noch über seine verschiedenen Bedeutungen und deren Implikationen nachgedacht haben. Dies führt zu einer recht verwirrten und oft zirkulären Diskussion, weil die Teilnehmer unterschiedliche Bedeutungen von Geopolitik vermischen oder jeder etwas anderes damit meint. Und noch etwas: Wenn Diskutanten den Begriff für ein kontroverses Argument verwenden, für das sie Kritik ernten, können sie einen Rückzieher machen und sagen, sie hätten etwas ganz anderes gemeint. Kurz gesagt: Es herrscht das intellektuelle Chaos.



Ein gutes Beispiel ist das Interview, das Olaf Scholz einen Monat nach Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine in der Talkshow von Anne Will gab. ­Scholz sagte, ihn habe „diese unglaubliche Betonung von Geopolitik im Denken des russischen Präsidenten“ geängstigt. Sie zeige, dass Putin mit einem der Grundsätze der europäischen Friedensordnung hadere. Während andere Persönlichkeiten wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Außenbeauftragter Josep Borrell die EU drängten, geopolitischer zu werden, verstand Scholz Geopolitik also nach wie vor als etwas, das eher abzulehnen als anzustreben ist, selbst nach der russischen Invasion. Es ist leicht, dies als deutsche Machtvergessenheit abzutun. Aber tatsächlich hatte Scholz für seine Haltung gute Gründe.



Eine fragwürdige Geschichte

Das Konzept der Geopolitik entstand im Zeitalter des Hochimperialismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Ursprünglich beschrieb es die Rolle der physischen Geografie in der internationalen Politik, vor allem im Wettbewerb zwischen Land- und Seemächten. Das Misstrauen gegenüber der Geopolitik, das Scholz zum Ausdruck brachte, entsprang seinem Bewusstsein für die besondere deutsche Tradition des geopolitischen Denkens und ihrem Einfluss auf den Nationalsozialismus. Vor allem war es die Idee des Lebensraums, die aus der von Friedrich Ratzel und Karl Haushofer geprägten deutschen Tradition geopolitischen Denkens hervorging. Das Konzept, das Ratzel als Erster am Ende des 19. Jahrhunderts verwendete, diente später zur Rechtfertigung der deutschen Expansion in Europa.



Den Befürwortern einer geopolitischen EU ist dagegen Scholz’ Unbehagen fremd. Sie benutzen den Begriff auf recht naive und ahistorische Weise. Vor allem fehlt ihnen offenbar das Bewusstsein für die Ursprünge der Idee von Europa als geopolitischem Block. In den 1920er Jahren sahen viele die Zivilisation Europas durch die Vereinigten Staaten und die Sowjet­union bedroht. Sie drängten darauf, Europa solle sich zu einer „dritten Kraft“ zusammenschließen, um es mit diesen beiden aufnehmen zu können. Auch für diese Idee eines geopolitischen Europas war die Vorstellung vom Lebensraum ­zentral. Die „Proeuropäer“ jener Zeit sahen Afrika nicht nur als Quelle von Rohstoffen an, die Europa wettbewerbsfähig machen würden, sondern auch als Raum, in dem sich die überschüssige europäische Bevölkerung würde ansiedeln können. In anderen Worten: Die Idee eines geopolitischen Europas hat eine sehr fragwürdige Geschichte.



Natürlich sucht die EU von heute nicht nach Lebensraum. Statt Europäer in Afrika anzusiedeln, konzentriert sich die EU darauf, Afrikaner davon abzuhalten, nach Europa zu kommen – besonders seit der Flüchtlingskrise 2015. Aber trotz der Kontinuitäten zu früheren Vorstellungen von einem geopolitischen Europa, vor allem im Zusammenhang mit der Idee, dass Europa eine dritte Kraft in der internationalen Politik sein sollte (wobei China die Sowjetunion als zweite Kraft abgelöst hat), verzichten die „Proeuropäer“ hier auf jeden Erklärungsversuch. Zwar befürworten sie eine geopolitischere EU, aber sie sagen nicht, wie sie den Begriff Geopolitik verstehen und wie sich ihr Verständnis vom früheren Gebrauch unterscheidet. Vor allem aber machen sie kaum einen Versuch zu erklären, wie er mit der EU selbst in Einklang gebracht werden kann, die gerade von ihren Unterstützern lange als Antithese zur Geopolitik – interpretiert in zwei deutlich unterschiedlichen, auf verschiedenen Bedeutungen des Begriffs basierenden Weisen – verstanden wurde.



Der Mythos vom friedlichen Europa

Wenn der Begriff Geopolitik im EU-Kontext gebraucht wird, bezieht er sich oft auf den Einsatz militärischer statt wirtschaftlicher Mittel. Die Institutionen, die im Prozess der europäischen Integration entstanden, waren von Anfang an mehr auf Wirtschaft als auf Sicherheit ausgerichtet. Erst recht galt das nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung 1954. Seither gilt, dass sich die Diskussion über die Macht Europas zum großen Teil auf Instrumente und nicht auf Ziele konzentriert. Das zeigte sich schon an einem der ersten Versuche, das, was zur EU werden sollte, als handelnden Akteur in der internationalen Politik zu definieren: Anfang der 1970er Jahre beschrieb François Duchêne die Europäische Gemeinschaft als „Zivilmacht“, die über große wirtschaftliche Macht, aber vergleichsweise wenig militärische Stärke verfüge.



Aber auch wenn es stimmt, dass die Europäische Gemeinschaft über große wirtschaftliche Macht und wenig militärische Stärke verfügte, galt das nicht für Europa insgesamt. Schließlich besaßen die Europäer reichlich konventionelle militärische Fähigkeiten und sogar Atomwaffen. Doch trotz dieser offensichtlichen Realität wird die Idee der Zivilmacht oft schnell auf Europa angewendet – ganz so, als ob es den Mitgliedstaaten, im Gegensatz zu den gemeinsamen europäischen Institutionen, kollektiv an militärischer Macht fehlte. Diese Charakterisierung, nach der es „Europa“ – im Gegensatz zur EG und späteren EU – an militärischer Macht mangele, hat für Verwirrung in der Diskussion über europäische Macht und die transatlantischen Beziehungen gesorgt. Ein Beispiel ist Robert Kagans stilisierter Gegensatz zwischen Amerikanern, die vom Mars seien, und den Europäern, die von der Venus stammten – kriegerisch die einen, friedliebend die anderen. Europäer wie Borrell haben diese Vorstellung anscheinend inzwischen verinnerlicht.



Diese diffuse Idee eines „zivilen“ Europas im Gegensatz zu einer zivilen EG oder EU führte zusammen mit der Idee von der europäischen Integration als einem Friedensprojekt zu einer weitverbreiteten und irreführenden Selbstwahrnehmung der Europäer, die sich im Vergleich zu anderen auf der Welt als einzigartig friedlich ansahen. Timothy Snyder geht zu weit, wenn er meint, dass die Vorstellung der europäischen Einigung als Friedensprojekt ein „Mythos“ sei. Aber Europas Zurückweisung militärischer Gewalt nach 1945 war viel begrenzter und spezifischer, als sich „Proeuropäer“ gern vorstellen: Zwar setzten sie keine militärische Gewalt mehr gegeneinander ein, aber sie wollten und konnten sie weiterhin außerhalb Europas anwenden, insbesondere zur Unterdrückung von Unabhängigkeitsbewegungen in ihren Kolonien, bis sie diese zwischen den 1950er und den 1970er Jahren nach und nach verloren. Auch in der Zeit nach dem Kalten Krieg haben sie verschiedene Formen von militärischer Gewalt angewendet, wenngleich dies nur selten über die EU geschah.



Wenn wir Geopolitik so verstehen, dass es um den Einsatz von militärischen statt wirtschaftlichen Instrumenten geht, ist es alles andere als klar, was ein geopolitischeres Europa überhaupt bedeuten kann. Es ist offensichtlich, dass die EU-Mitgliedstaaten die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik so weiterentwickeln könnten, dass ein stärkerer Einsatz militärischer Gewalt eher über die EU laufen könnte als über die NATO oder durch Ad-hoc-Koalitionen. Die Mitgliedstaaten könnten sogar die „europäische Armee“ aufstellen, von der von der Leyen gesprochen hat. Wer allerdings solche Schritte zur Schaffung einer Verteidigungsunion befürwortet, sollte sich um Genauigkeit bemühen: Eine weitere Integration in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik würde die EU geopolitischer machen, nicht aber Europa im weiteren Sinn. Denn dieses, wenn wir Geopolitik im Sinne von militärischer Macht verstehen, hat nie wirklich aufgehört, geopolitisch zu sein.



Regeln und Macht

Die Bedeutung von Geopolitik, die im Kontext der laufenden Debatte über die Europäische Union am meisten Sinn ergibt, bezieht sich auf den Widerspruch zwischen Regeln und Macht in der internationalen Politik. Die EU versuchte, Macht durch Regeln zu ersetzen – erst nur zwischen den Ländern, die beim europäischen Projekt mitmachten, später aber auch darüber hinaus, als die EU ihr Modell exportierte und die internationale Politik zivilisierte oder „domestizierte“. (Dies ist ein Aspekt der Vorstellung einer Zivilmacht, der oft übersehen wird: Es ging nie ausschließlich um militärische Mittel, sondern immer auch um zivilisatorische Zwecke.) Dieser Gegensatz lässt sich auch als Widerspruch zwischen der liberalen und der realistischen Sichtweise der internationalen Politik beschreiben. Ein in diesem Sinne verstandenes geopolitisches Europa ist realistischer und weniger liberal.



Lange Zeit strebte die EU nicht danach, zur Großmacht zu werden, was „Proeuropäer“ für ein überholtes Konzept hielten. Sie machten gerade aus der Tatsache, dass die EU keine Großmacht ist, eine Tugend. Genau dies war das Argument von Du­chêne und später von dem britischen Politikwissenschaftler Ian Manners, der die EU als „normative“ Macht betrachtete, die besonders geeignet sei, eine Rolle bei der Transformation der internationalen Politik zu spielen. Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte sind „Proeuropäer“ allerdings immer mehr zu der Erkenntnis gelangt, dass die EU nicht die internationale Politik verändern könne, sondern sich selbst ändern müsse, um sich der Realität anzupassen. Borrell wiederholt endlos, dass die EU „lernen“ müsse, „die Sprache der Macht zu sprechen“. Was er damit wirklich meint, ist, dass sie lernen muss, eine traditionellere oder realistischere Sprache der Macht zu sprechen, anstelle der alternativen Sprache der Macht, von der man lange glaubte, dass die EU sie spräche.



Diese Definition von Geopolitik ist dann besonders schlüssig, wenn sie sich speziell auf die EU-Kommission bezieht, die sich am intensivsten um die Aufrechterhaltung der Regeln bemüht, die sich die EU selbst gegeben hat – vor allem der Regeln für den Binnenmarkt. Es ist mutmaßlich dieses Verständnis von Geopolitik, das von der Leyen vorschwebte, als sie 2019 eine „geopolitische Kommission“ versprach (obwohl sie dies, was typisch ist, nicht genauer definierte, sodass es schwer ist, mit Sicherheit zu wissen, was sie meinte oder ob sie überhaupt eine klare Vorstellung dessen hatte, was sie meinte). Von der Leyen wurde so verstanden, dass ihre Kommission sich weniger auf Regeln konzentrieren würde und in realistischerer Form darüber nachdenken würde, wie sie ihre Macht einsetzt – insbesondere die wirtschaftliche Macht, die die Größe ihres Marktes ihr verleiht. Unter ihrer Führung würde die Kommission versuchen, strategischer zu denken – oder, anders ausgedrückt, politischer.



Allerdings gibt es strukturelle Gründe, warum die EU sich damit schwertut. Hätte sie sich beispielsweise beim Brexit für ein geopolitisches Vorgehen entschieden, hätte sie anerkennen müssen, dass Großbritannien einen wichtigen Beitrag für die Sicherheit Europas leistet. Dieser wird umso dringender gebraucht, als sowohl die Bedrohungen als auch die Unsicherheit über die Sicherheitsgarantie der USA stärker werden. Die EU hätte deswegen bereit sein müssen, Großbritannien Zugeständnisse zu machen, um dessen Beitrag zur europäischen Sicherheit weiterhin zu garantieren, auch wenn dies Kosten für die Integrität des Binnenmarkts mit sich gebracht hätte. Stattdessen entschied sie sich für ein Vorgehen, dass ihrem traditionellen, an Regeln orientierten Ansatz entsprach.



In ähnlicher Weise reagierte die EU auf den russischen Einmarsch in die Ukraine. Ihr erster Reflex war es, an einen Beitritt der Ukraine zu denken, also bei ihrem traditionellen Ansatz gegenüber ihrer Nachbarschaft zu bleiben. Viele glaubten, dass die EU der Ukraine aus politischen oder strategischen Gründen einen beschleunigten Weg zur EU-Mitgliedschaft anbieten sollte. Dies hätte aber die entpolitisierte Anwendung der Regeln unterminiert, für die die EU auch noch stehen will – trotz aller Rhetorik für ein geopolitisches Europa.



Schließlich weigern sich „Proeuropäer“ wie Borrell zu akzeptieren, dass mehr Realismus in den internationalen Beziehungen auch bedeutet, weniger liberal zu werden. So drängt Borrell die EU zwar dazu, geopolitischer zu werden, besteht aber zugleich darauf, sie dürfe ihren Fokus auf Normen nicht aufgeben. In anderen Worten, der Außenbeauftragte will beides haben: „Ich bin ein realistischer Kantianer.“ Dies könnte einer der Gründe sein, warum Befürworter eines geopolitischen Europas den Begriff mögen: Seine Mehrdeutigkeit und vor allem die Unklarheit darüber, wogegen er sich richtet, ermöglicht es ihnen, schwierige Entscheidungen zu vermeiden.



Die Frage, die die EU aber beantworten muss, ist diese: Wenn sie in dem Sinne einer Anpassung an eine Welt der Macht­politik selbst geopolitischer wird, wie steht es dann mit ihrem Versprechen, Macht durch Regeln zu ersetzen?    



Aus dem Englischen von Bettina Vestring

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2023, S. 92-96

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Hans Kundnani ist Associate Fellow des Europa-Programms von Chatham House in London