IP

01. Nov. 2019

Welche „deutsche Frage“?

Ein Kommentar

Deutsche Macht hat heute eine andere Gestalt als in der Vergangenheit. War die „deutsche Frage“ vor 1945 geopolitischer, ist sie seitdem geoökonomischer Natur, wie ich in „German Power: Das Paradox der deutschen Stärke“ skizziert habe. Aber das Buch erschien 2015 – seitdem hat sich vieles geändert, insbesondere mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Robert Kagan hat in einem anregenden Essay in Foreign Affairs („The New German Question. What Happens When Europe Comes Apart?“, Mai/Juni 2019) argumentiert, wir könnten uns mittlerweile weniger sicher sein, dass Deutschland im geopolitischen Sinne in der Zukunft weiter „gutartig“ („benign“) bliebe. Anders ausgedrückt: Für Kagan stellt sich die alte „deutsche Frage“ wieder.

Doch diese Perspektive unterschätzt den tiefen kulturellen Wandel, den Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Man kann sich kaum Umstände vorstellen, die zu einem Rückfall in Nationalismus und Militarismus der alten Art führen könnten. Außerdem verschleiert der Fokus auf eine angebliche Remilitarisierung eine wahrscheinlichere – und interessantere – Möglichkeit. Sollten die USA tatsächlich ihr Sicherheitsversprechen für Europa zurückziehen, würde Deutschland möglicherweise gegen die Erwartungen realistischer Theoretiker der internationalen Beziehungen verstoßen und schlicht Unsicherheit vorziehen, um die eigene Identität als „Friedensmacht“ nicht aufgeben zu müssen. Selbst in diesem Worst-Case-Szenario würde Deutschland also letztendlich eher nichts tun als entweder ein eigenes schlagkräftiges Militär, inklusive Atomwaffen, zu entwickeln oder die alte Abhängigkeit von den USA durch eine neue, nämlich von Frankreich, zu ersetzen.

 

Der halbe Hegemon

Diejenigen, die vor der Gefahr der Rückkehr der alten „deutschen Frage“ warnen, darunter insbesondere die Amerikaner, unterschätzen zugleich, wie problematisch Berlins Rolle im europäischen Kontext schon heute ist. Die halbhegemoniale Stellung Deutschlands in Europa ist einer der Hauptgründe dafür, warum die EU sich an der Lösung der Reihe von Krisen abmühte, die 2010 mit der Eurokrise begann: Einerseits fehlen Deutschland die Mittel, die Probleme so zu bewältigen, wie ein Hegemon es täte. Andererseits ist Deutschland mächtig genug, um anderen EU-Mitgliedstaaten, besonders Frankreich, keine weiteren Zugeständnisse machen zu müssen. Das Ergebnis ist die Dysfunktionalität der EU.

Man sollte Nachkriegsdeutschland aber nicht als selbstlos handelnden Akteur idealisieren. Denn deutsche Politiker verfolgen in Europa zweifelsohne deutsche Interessen. Tatsächlich stand die Frage, wie sich das deutsche Interesse zum weiter gefassten europäischen Interesse verhält, seit Beginn der Eurokrise im Zentrum der Debatte. Von der Wirtschaftspolitik über die Flüchtlingskrise bis zur Gaspipeline Nord Stream 2 wurde Deutschland immer wieder beschuldigt, sein nationales Interesse über das europäische zu stellen.

Genauso wenig hat Deutschland den Nationalismus vollständig abgelegt. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – die Deutschen den Militarismus ablehnten, fanden sie neue Quellen des Nationalstolzes. Insbesondere entwickelte sich eine Art ökonomischer Nationalismus, der sich immer mehr auf den Erfolg Deutschlands als Exporteur konzentrierte (ich habe das „Export-Nationalismus“ genannt). Schon zur Zeit der Regierung Obama – lange bevor Trump Deutschland wegen des riesigen Leistungsbilanzüberschusses „ins Visier nahm“, wie Kagan es ausdrückt – hatte das US-Finanzministerium Deutschland auf die Beobachtungsliste für Währungsmanipulatoren gesetzt.

Historisch betrachtet war es amerikanische Machtpolitik, die Europa befriedet, also „alte Konflikte in Europa stummgeschaltet und die Bedingungen für Kooperation hergestellt hat“, wie Josef Joffe 1984 schrieb. Daher gibt es gute Gründe zu befürchten, dass der Wegfall der Sicherheitsgarantie zur europäischen Desintegration und sogar zu einer Rückkehr des Sicherheitsdilemmas in Europa führen könnte. Doch ein Rückzug der USA könnte auch dazu beitragen, die „deutsche Frage“ in ihrer aktuellen, geoökonomischen Form zu klären – ohne dabei zwangsläufig die klassische, geopolitische „deutsche Frage“ erneut aufzuwerfen.



Ein neues Druckmittel für Frankreich

Der Grund dafür ist, dass Deutschlands halbhegemoniale Stellung von der Struktur der US-geführten liberalen internationalen Ordnung abhängig ist. Die besondere Gestalt, die diese Ordnung in Europa annahm, sorgte dafür, dass Deutschland sicherheitspolitisch einen Freifahrtschein lösen konnte. Konkret bedeutete die amerikanische Garantie, dass Deutschland Frankreichs Militär nicht brauchte und es daher wenig Anreize gab, Paris in anderen Bereichen wie dem Euro Zugeständnisse zu machen. Was auch immer Trumps eigentliche Intentionen waren: Seine Drohungen haben Frankreich ein Druckmittel gegenüber Deutschland an die Hand gegeben und dazu beigetragen, das „Gleichgewicht der Ungleichgewichte“, wie es Stanley Hoffman nennt, wiederherzustellen. Zögen die USA tatsächlich die Sicherheitsgarantie zurück, käme man einer Wiederherstellung dieses Gleichgewichts näher. Das könnte zum Ende der deutschen Halbhegemonie führen.

Insbesondere könnte – und ich betone: könnte – die größere sicherheitspolitische Abhängigkeit von Frankreich Deutschland dazu zwingen, Zugeständnisse etwa bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik zu machen, was nicht nur für Frankreich, sondern für ganz Europa von Vorteil wäre. Europa wäre dann endlich in der Lage, auf die Krise, die 2010 begann, effektiv zu antworten. Die entscheidende Frage ist aber, ob selbst dieses dramatische Szenario ausreichte, um Deutschland zu einem Überdenken des eigenen Ansatzes in Sachen Wirtschaftspolitik und Euro zu zwingen. Es ist ebenfalls ohne Weiteres denkbar, dass die Deutschen sich immer noch nicht ausreichend bedroht fühlen würden, um den Franzosen Zugeständnisse zu machen.

Die Welt wird derzeit häufig in binären Kategorien beschrieben. Doch die heutige Situation in Europa ist weitaus komplexer. Kommentatoren wie Kagan sorgen sich, dass ein Zerfall der Ordnung zu einer Rückkehr der Machtpolitik in Europa führen würde. Tatsächlich aber ist die Machtpolitik nie wirklich verschwunden, auch wenn sie nicht länger mit militärischen Mitteln betrieben wurde. Innerhalb des friedlichen, institutionalisierten Kontexts der EU verfolgen die Mitgliedstaaten weiterhin ihre eigenen nationalen Interessen. Europa war vielleicht nie wirklich das kantische Paradies, als das es Kagan in seinem Buch „Macht und Ohnmacht“ beschrieben hat.

Mit der Eurokrise ist offensichtlich geworden, dass das transatlantische Bündnis und die europäische Integration die „deutsche Frage“ nicht so abschließend lösen konnten wie zuvor angenommen wurde. Das Machtgefälle unter den EU-Mitgliedstaaten blieb weiterhin von Bedeutung, auch wenn diese Macht eher ökonomisch denn militärisch war. Nachdem die deutsche Wiedervereinigung und die EU-­Erweiterung Deutschlands Macht innerhalb der EU vergrößert hatten, entstand eine mittlerweile wohlbekannte Dynamik – auch wenn sie erst nach der Eurokrise wirklich sichtbar wurde. Kurz: Bei dem Versuch, eine Version der „deutschen Frage“ zu lösen, haben die USA und die EU schlicht eine weitere geschaffen.

Hans Kundnani ist Senior Research Fellow beim Europa-Programm des Chatham House in London.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2019, S. 108-109

Teilen