Buchkritik

02. Nov. 2017

Europas Achterbahnfahrt

Zwischen finsterem Pessimismus und europäischer Unabhängigkeitserklärung

Das Jahr 2016 geriet mit der Brexit-Entscheidung, der Flüchtlingskrise und Donald Trumps Triumph in den USA zum bislang schwärzesten Jahr der EU-Geschichte. Mit den Wahlsiegen des Niederländers Mark Rutte und des Franzosen Emmanuel Macron schien sich das Blatt 2017 zu wenden. Schlägt jetzt die Stunde der Europäer? Drei Neuerscheinungen.

Erleben wir in Europa derzeit einen „Zerfallsaugenblick“? Dieser Frage geht Ivan Krastev in seinem neuen, brillant geschriebenen Buch nach, das auf Deutsch den düsteren Titel „Europadämmerung“ trägt. Krastevs Buch beginnt mit einer ernüchterten Bestandsaufnahme. Entgegen der ursprünglichen Erwartungen habe die Globalisierung den Niedergang des Staates und des Nationalismus nicht beschleunigt. Das politische Modell der EU, gestern noch universell anwendbar, wirke heute eher wie eine – zerbrechliche – Ausnahme.

Überstehen ist alles

Für Krastev ist bereits die Zeit „nach Europa“ angebrochen. Das bedeute nicht unbedingt, dass die Europäische Union am Ende sei, „wohl aber, dass wir unsere naiven Hoffnungen und Erwartungen hinsichtlich der zukünftigen Gestaltung Europas und der Welt begraben müssen“. Krastev will die EU weder retten noch sie betrauern. Er schaut auf das, was die EU erwartet: „Wer spricht von Siegen?“, zitiert er den deutschen Dichter Rainer Maria Rilke, „Überstehn ist alles!“

Krastev, 1965 in Bulgarien geboren, hat dem westeuropäischen Leser etwas voraus, denn er kennt das plötzliche und gewaltsame Ende eines politischen Systems aus eigener Anschauung. Es gelingt ihm daher besser als anderen, die Grenzen des Undenkbaren zu erweitern und in seine Analyse einzubeziehen.

So führt er die derzeitige Krise der EU weder auf fundamentale Mängel in ihrer institutionellen Architektur noch auf ihr Demokratiedefizit zurück. Stattdessen wählt er die Flüchtlingskrise zum Dreh- und Angelpunkt seiner Analyse, die als „einzige wirklich gesamteuropäische Krise“ das politische, ökonomische und soziale Modell Europas infrage stelle.

Gerade die „Unfähigkeit und die mangelnde Bereitschaft liberaler Eliten, die Migration und deren Folgen zum Gegenstand der Diskussion und der politischen Auseinandersetzung zu machen“, hätten dazu geführt, dass der Liberalismus in den Augen vieler Menschen zum Synonym für Heuchelei geworden sei. Mehr noch, der Liberalismus sei durch die Flüchtlingskrise mit einem zentralen Widerspruch konfrontiert: „Wie lassen sich unsere universellen Rechte mit der Tatsache vereinbaren, dass wir sie als Bürger ungleich freierer und wohlhabenderer Gesellschaften genießen?“

Was folgt, ist eine tiefgehende Analyse der Auswirkungen der Flüchtlingskrise auf den Zusammenhalt in Europa, ganz ohne übertriebene Moralisierung. Die Flüchtlingskrise ist für Krastev „Europas 11. September“, der Moment, der alles veränderte. Die Krise ist der Lackmustest der europäischen Integration. Nicht nur hat sie eine „Rebellion der Wähler gegen die meritokratischen Eliten“ losgetreten, sie hat die Spaltungen in Europa und seinen Gesellschaften verschärft oder ans Licht gebracht.

Die wesentliche Spaltung, die Krastev in seinem Buch beschreibt, ist diejenige zwischen Ost und West. Diese Beschreibung ist zugleich das große Verdienst dieses Buches. Krastev gelingt es, den Mittel- und Osteuropäern eine differenzierende, Zwischentöne nicht ausblendende Stimme zu geben; eine Stimme, die man im paneuropäischen EU-Diskurs zu oft vernachlässigt, weil man das Echo aus diesen Ländern auf die Aussagen eines Viktor Orbán oder eines Jaroslaw Kaczynski reduziert.

Krastev kommt zu dem Schluss, dass Osteuropa gerade jene kosmopolitischen Werte als Bedrohung empfindet, auf denen die Europäische Union basiert. Eines der wesentlichen Erkenntnisse des Buches ist es, dass sich eine solche Spaltung auch im Westen wiederfindet, etwa zwischen kosmopolitischen Großstädten und ländlichen Gegenden – das habe jüngst der Wahlerfolg Donald Trumps in den USA gezeigt. Die zentralen Auseinandersetzungen im Westen sind demnach die zwischen Globalisten und Nativisten und jene zwischen offenen und geschlossenen Gesellschaften.

Krastevs Blick auf Europa bleibt bis zum Ende skeptisch. Er räumt ein, dass „Macrons Augenblick“ die Stimmung in Europa dramatisch verändert habe. Zugleich verweist er jedoch darauf, dass damit noch keines der zentralen Probleme gelöst sei, vor denen der Kontinent stehe.

Wider die Fiskalunion

Wenn es nach dem deutschen Ökonomen Hans-Werner Sinn geht, taugen die Vorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ohnehin wenig zur Lösung der zentralen europäischen Probleme. Diese sieht Sinn vor allem in einer verfehlten Eurozonenpolitik und der fatalen Rolle der Europäischen Zentralbank. Zwar ist sein Buch „Der schwarze Juni“ bereits im Sommer 2016 erschienen und geht nicht mehr auf Macrons Wahlsieg ein. In seinem Buch spricht er sich jedoch vehement gegen die nun von Macron geforderte Weiterentwicklung der Eurozone zu einer Fiskalunion mit einem einheitlichen Budget und einem Finanzminister aus – wie überhaupt gegen jedwede Form einer europäischen Haftungs- oder Transferunion.

Das große Thema von Sinns Buch ist nicht nur die Abrechnung mit der europäischen Rettungspolitik in der Eurozone, sondern auch eine Kritik an der Flüchtlingspolitik der vergangenen Jahre. Sein Ausgangspunkt sind zwei Ereignisse im „schwarzen Juni“ 2016, dem das Buch seinen Titel verdankt. Am 21. Juni 2016 unterwarf sich das deutsche Verfassungsgericht in seinem Urteil zu den endgültigen Käufen von Staatsanleihen („Outright Monetary Transactions“, daher OMT-Urteil genannt) der – nach Sinn – „ausufernden“ Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Rettungspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Am 23. Juni 2016 entschied sich die Bevölkerung Großbritanniens mehrheitlich, die EU zu verlassen. Beide Entscheidungen symbolisieren für Sinn vor dem Hintergrund der „Flüchtlingswelle“ und des „Euro-Desasters“ eine Zeitenwende: Sie stellen die Weichen für die künftige Ausrichtung Europas in eine völlig falsche Richtung.

Im OMT-Urteil des Bundesverfassungsgerichts sieht Sinn „nichts weniger als einen Freifahrtschein für eine Politik der Vergemeinschaftung der Haftung für Staatsschulden“. Nutznießer dieser Politik seien „vor allem die kriselnden Südländer Europas und Frankreich, Zahlmeister die noch einigermaßen gesunden Nordländer, allen voran Deutschland“.

Die EZB als „Rettungsmaschine“

In zwei Kapiteln, die sich mit dem „Weg in eine Haftungsunion“ und der „Gigantomanie der Europäischen Zentralbank“ auseinandersetzen, prangert Sinn – mitunter an der Grenze zur Polemik – die Umverteilung der Haftung zwischen den Euroländern, die Einführung von Eurobonds durch die Hintertür und die Entwicklung der EZB hin zu einer europäischen „Bailout- und Rettungsmaschine“ an.

Dabei verwehrt sich Sinn gegen den Vorwurf, die von ihm formulierte Kritik sei bloße Euroskepsis. Denn Sinn sieht keine Alternative zur europäischen Integration. Es geht ihm um die dringend gebotene Neukonstruktion der EU, nicht um ihre Abschaffung. Folgerichtig beendet er sein Buch mit 15 konkreten und weitreichenden Reformvorschlägen. Dabei geht es etwa um geregelte Ein- und Austritte in die Währungsunion oder eine Reform der EZB-Politik. Die Lektüre von Sinns Buch lohnt sich in diesem Punkt vor allem für diejenigen, die ansonsten eher die Kritik von Paul Krugman oder Joseph Stiglitz an der deutschen Austeritätspolitik teilen und die nun die Ratio hinter Wolfgang Schäubles Europapolitik besser verstehen wollen – oder wissen möchten, wie sich die FDP in einer Jamaika-Koalition mit Blick auf eine Reform der Eurozone positionieren könnte.

Ein Teil von Sinns Buch ist der Migrations- und Flüchtlingskrise gewidmet, die er als entscheidend für Europas Zukunft ansieht. Dabei geht Sinn hart mit der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung seit 2015 ins Gericht. Er bescheinigt ihr unter anderem Rechtswidrigkeit und macht sie indirekt für den Brexit zumindest mitverantwortlich. Als Hauptproblem auf europäischer Ebene macht Sinn ein „unauflösbares Trilemma“ aus. Dieses bestehe darin, dass sich das Ziel der Freizügigkeit für EU-Bürger nicht gleichzeitig mit dem der Sozialstaatlichkeit und dem der Inklu­sion der Migranten in das Sozialsystem des Gastlands realisieren ließen. Er gibt hier dem ehemaligen britischen Premierminister David Cameron nachträglich Recht, der diesen Punkt in seinen Reformverhandlungen mit der EU vorgebracht hatte – und damit nicht durchgedrungen war.

Genauso wenig wie in den Kapiteln über die Eurozonenpolitik der EZB scheut sich Sinn in dem Kapitel über Migration, Missstände schonungslos aufzudecken. Allein schon deshalb lohnt sich die Lektüre sehr, auch wenn man die Meinung des Autors nicht in allen Dingen teilt.

Allerdings folgt Sinn in seiner Argumentation allzu oft dem Primat der Ökonomie über die Politik. Besonders deutlich wird das in seinen Empfehlungen für eine europäische Politik gegenüber Großbritannien im Brexit-Prozess und bei seinen Ratschlägen für eine europäische Russland-Politik. Im ersten Fall empfiehlt er, den Briten zu erlauben, die europäische Personenfreizügigkeit zu beschränken, und das bei andauerndem und ungehindertem Zugang zum europäischen Binnenmarkt.

Würde die EU aber tatsächlich den Status eines assoziierten Mitglieds nach den Wünschen Großbritanniens schaffen, der dann anderen EU-Mitgliedstaaten ebenfalls offenstünde, dann würde die EU einen gefährlichen Anreiz für Trittbrettfahrer setzen und weitere Austritte motivieren. Die EU ist ja gerade kein Gemischtwarenladen, in dem jeder nur das, was ihm gefällt, in den Warenkorb legen kann.

Mit Blick auf den Umgang mit Russland empfiehlt Sinn, die Handelsbeziehungen wieder zu intensivieren und Putins Vorschlag einer Freihandelszone vom Atlantik bis nach Wladiwostok aufzugreifen. Kein Wort von der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim und dem russischen Krieg im Osten der Ukraine, kein Wort von den vielfachen Versuchen politischer Destabilisierung in ganz Europa. Würde die EU dieser Empfehlung folgen, legitimierte sie damit implizit das russische Vorgehen, historische Gebietsansprüche geltend zu machen und mit militärischer Gewalt durchzusetzen – mit unabsehbaren Folgen für Frieden und Stabilität.

Die EU neu gestalten

Eine Erneuerung Europas fordert auch Claus Leggewie, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen, in seinem Buch „Europa zuerst!“ Es gehe darum, jetzt den „kairós“, den günstigen Moment, zu nutzen, den der Wahlsieg Macrons am 7. Mai 2017 eröffnet habe.

Leggewies Empfehlungen lesen sich weitgehend als das Gegenteil dessen, was Hans-Werner Sinn vorschlägt. Es geht ihm um eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, „beginnend mit einem gemeinsamen Finanzminister, mit dem klaren Auftrag, Megaprobleme vor allem im Süden wie die massive Perspektivlosigkeit der dortigen Jugend anzugehen und das Finanzkapital einzuhegen“. Daneben fordert Leggewie eine Steuer für Finanztransaktionen, eine verschärfte Bankenkontrolle und langfristig einen „europäischen Währungsfonds unter parlamentarischer Kontrolle“.

Außerdem schlägt Leggewie einen Mindestsatz bei der Körperschaftssteuer und den entschlossenen Kampf gegen Steuervermeidung und -hinterziehung vor. Die erwirtschafteten Erträge möchte er in die Finanzierung europäischer Gemeinschaftsprojekte stecken, die vernachlässigten Regionen wieder Anschluss verschaffen und die Identifikation mit der EU erleichtern können. Dabei sieht er vor allem Deutschland in der Pflicht, die EU gemeinsam mit Frankreich in diesem Sinne neu zu gestalten.

Europas Unabhängigkeitserklärung

Nach eigenem Bekunden ist Leggewies Programm „sozial-demokratisch“ bis „sozial-progressiv“, es spiegelt vieles von dem wider, was die Grünen seit Langem fordern. Liest man Sinn und Leggewie nacheinander, bekommt man eine Vorstellung davon, wie schwer es in den Jamaika-Koalitionsverhandlungen zwischen FDP und Grünen werden wird, auf einen europapolitischen Nenner zu kommen – zumindest, was die europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik betrifft. Interessanterweise schlagen beide Autoren eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik und eine EU-Armee vor.

Leggewie versteht sein Buch als europäische ­Unabhängigkeitserklärung. Es ist nach der pessimistischen Lektüre von Krastev und Sinn eine wohltuend optimistische Stimme in der aktuellen Debatte – ein leidenschaftliches Plädoyer für ein offenes, selbstbewusstes, starkes Europa, das schon jetzt viel besser ist als seine Kritiker meinen.

Dabei ist Leggewie nicht blind gegenüber den Herausforderungen. Weite Teile seines Buches beschäftigen sich mit dem Erstarken eines „völkisch-autoritären Nationalismus“. Anhand von Länderstudien zeichnet er sehr differenziert den Aufstieg der „europäischen Internationale der Nationalisten“ nach. Der Leser erfährt hier viel Nachdenkenswertes über den europapolitischen Diskurs in anderen EU-Ländern.

Der Autor zeigt Alternativen zum nationalistischen Diskurs auf und vollzieht einen „Themenwechsel weg von der lähmenden Fremdenfurcht, der übertriebenen Terrorpanik und Vergangenheitsfixierung“ hin zu den „Zukunftsthemen“, bestehend aus dem Dreiklang ökologische Nachhaltigkeit, soziale Solidarität und politische Teilhabe. Leggewie bietet dem Leser eine progressive Agenda für eine nachhaltige europäische Bürger- und Sozialunion an, die sich aus Dutzenden konkreter Beispiele aus ganz Europa speist.

Claus Leggewie geht davon aus, dass sein Programm mehrheitsfähig ist und der „durchaus vorherrschenden Stimmungslage ‚pro EU‘ entspreche“. Allerdings sind heute euroskeptische Populisten, die den Nationalismus wieder salonfähig machen wollen, weiter auf dem Vormarsch, wie die Wahlerfolge der AfD bei der Bundestagswahl und der FPÖ bei der Nationalratswahl in Österreich gerade erst wieder gezeigt haben. Ähnliches lassen die Vorhersagen in Tschechien befürchten. Und für Frankreich selbst steht zu befürchten, dass Macron nicht wegen, sondern eher trotz seiner europapolitischen Positionen gewählt wurde.

Dr. Jana Puglierin leitet das Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische ­Zukunftsfragen im ­Forschungsinstitut der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November-Dezember 2017, S. 136 - 140

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