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01. März 2019

Alle Mann an Deck!

Die Sorge vor Fragmentierung prägt Berlins Verständnis der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das birgt Risiken, gerade beim Brexit

Zusammen mit Frankreich war die Bundesrepublik treibende Kraft der Initiativen, die der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU seit Sommer 2016 neuen Schwung verliehen haben: Mit der Einführung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) und des Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) gelang es Paris und Berlin, nach Jahrzehnten des Stillstands ein Politikfeld wiederzubeleben, das viele Beobachter schon abgeschrieben hatten. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen unterstrich deshalb kürzlich im Handelsblatt mit einigem Recht die Fortschritte, die die EU auf dem Weg zu einer „Europäischen Verteidigungsunion“ gemacht habe, und das Tempo, das dabei an den Tag gelegt worden sei. Ohne Deutschlands Engagement würden in Brüssel heute nicht die Weichen gestellt für einen umfassenden Wandel des Rollenverständnisses der EU, insbesondere der Kommission, in Sachen militärische Sicherheit.

Dennoch steht Deutschland immer wieder in der Kritik, weil es in der europäischen Verteidigungspolitik nicht die Rolle spielt, die dem wirtschaftlichen und politischen Gewicht des Landes entspricht: Sei es, weil die Bundesregierung noch immer zu wenig Geld für Verteidigung in die Hand nimmt, was nicht erst der jetzige US-Präsident bemängelt; sei es, weil sie zu wenig dafür tut, dass Europa schnell und schlagkräftig militärisch eingreifen kann, was zum Beispiel in Paris beklagt wird. Zu wenig ambitioniert, zu zögerlich, zu unflexibel, zu dogmatisch – so schallt es Berlin immer wieder entgegen. Wie erklärt sich dieser deutsche Ansatz? Wie sollen europäische Sicherheit und Verteidigung aus Sicht der Bundesregierung organisiert sein? Was will Berlin mit welchem Instrument erreichen – und wie definiert es Erfolg? Ein Blick durch die „deutsche Brille“ auf die GSVP-Initiativen, auf die von Frankreich ins Leben gerufene Europäische Interventionsinitiative (EI2) und auf die Folgen des Brexit ermöglichen eine Standortbestimmung.

Die GSVP erfüllt mehrere Funktionen für Deutschland. Zum einen dient der europäische Rahmen oft als innenpolitische Legitimation für deutsches verteidigungspolitisches Engagement. Deutsche Alleingänge bleiben für weite Teile der Bevölkerung unvorstellbar. Auch mit der NATO fremdeln nicht wenige Deutsche. Insbesondere seit dem Amtsantritt Donald Trumps wollen sie keine vermehrte Kooperation mit den USA, sondern befürworten eine enge Anbindung an europäische Partner, allen voran Frankreich. Die EU-Einbettung nimmt der deutschen Verteidigungspolitik die Schärfe. Die EU-Armee (oder die Europäische Armee, oder die Armee der Europäer, je nach Tagesform des jeweiligen Politikers, der gerade ihre Schaffung fordert) ist in Deutschland seit Jahren beliebt als rhetorisches Bekenntnis zur Verteidigung im EU-Rahmen – auch deshalb, weil die Umsetzung stets knapp hinterm Horizont liegt.

Darüber hinaus verfolgt die Bundesregierung mit der Weiterentwicklung der GSVP das Ziel, ein zusätzliches Band zu knüpfen, das die EU zusammenhält. Als es nach dem Brexit-Votum der Briten vom Juni 2016 darum ging, ein gemeinsames Zukunftsprojekt mit den Franzosen zu finden, sahen beide Regierungen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik das größte Potenzial. Die Stärkung der GSVP dient also als zusätzliche Maßnahme, um den Zusammenhalt unter den EU-Mitgliedern zu fördern, der in diesen Zeiten nicht mehr selbstverständlich ist.

Berlin deshalb zu unterstellen, dass die deutschen Ambitionen in der GSVP nicht über Rhetorik und Integrationspolitik hinausgehen, wäre allerdings falsch. Deutschland will die GSVP substanziell und nachhaltig aufbauen, durch „vertrauensbildende Zwischenschritte“ und „nicht im Hauruckverfahren“, so von der Leyen. Es geht Berlin zum Beispiel nicht darum, schnell möglichst viele Soldaten für militärische Interventionen nach Afrika entsenden zu können. Stattdessen möchte man langfristig an der europäischen Handlungsfähigkeit arbeiten, in der Hoffnung, dass sich die europäische Entscheidungsfähigkeit im Laufe der nächsten Jahre parallel dazu entwickelt.

„Inklusive“ GSVP: Strategie mit Kehrseite

Diese Überlegungen ergeben durchaus Sinn: Vertrauen in die EU als Akteur in der Verteidigung muss in vielen EU-Mitgliedstaaten erst wachsen. Deutschland sieht sich zwar gemeinsam mit Frankreich als Treiber der GSVP, strebt aber stets an, möglichst kein Land abzuhängen – in Berlin spricht man von einer „inklusiven“ GSVP. Die PESCO wird gerade auch deshalb als Erfolg gewertet, weil fast alle EU-Staaten an dem Format teilnehmen, darunter Länder wie Polen, die ihm anfänglich sehr kritisch gegenüberstanden. Die Kehrseite der Strategie ist allerdings, dass Deutschland sich vorwerfen lassen muss, ­GSVP-Institutionen zu errichten, um deren bloße Existenz als Erfolg zu verbuchen, anstatt die GSVP zu nutzen, um konkret auf die Bedrohungslage an Europas Grenzen zu reagieren.

Was in der öffentlichen Debatte in und über Deutschland dabei häufig untergeht: Für die meisten deutschen Entscheidungsträger, auch im Verteidigungsministerium und in der Bundeswehr, ist immer noch die NATO ­unter ­amerikanischer Führung das Hauptstandbein der deutschen Verteidigung. Dies gilt (noch) trotz des Faktors Trump in Washington und trotz der „Bierzelt-­Rede“ der Kanzlerin in Trudering. Die deutsche Führung der ­NATO-Speerspitze, die deutsche Beteiligung am Luftraumschutz der baltischen Staaten (Air Policing Baltikum) und an der NATO-Battlegroup in Litauen geraten in der heimischen und internationalen Debatte häufig aus dem Blick. Die Entscheider betrachten die GSVP nicht als Alternative zur NATO, sondern als Vehikel, um den europäischen Fußabdruck in der Allianz mit den Amerikanern langfristig zu vergrößern.

Europäische Interventionsinitiative: Die Skepsis überwiegt

Für die Bundesrepublik sind multilaterale Institutionen die Stützen der internationalen Ordnung. Geringes Verständnis herrscht dagegen für „flexiblere“ oder „pragmatischere“ Formate. Angriffe auf multilaterale Institutionen, die von allen Seiten kommen und in aller Deutlichkeit vom amerikanischen Außenminister Mike Pompeo am 4. Dezember 2018 in Brüssel vorgetragen wurden, lassen sich aus Berliner Perspektive nicht mit der Stärkung von Ad-hoc-­Koalitionen außerhalb von NATO und EU beantworten. So erklärt sich, warum Berlin Frankreichs Europäische Interventionsinitiative bislang nur widerwillig mitgetragen hat. Die Zielsetzung der französischen Initiative sei unklar, heißt es in Berlin; und, angelegt außerhalb der EU-Mechanismen, drohe sie gar, die GSVP zu untergraben.

Berlin hat sich deshalb klar dafür ausgesprochen, die EI2 lieber heute als morgen in den EU-Rahmen zu überführen. Im deutschen Verständnis der europäischen Sicherheitsarchitektur ist wenig Platz für minilaterale Bestrebungen. Die Sorge vor einer Fragmentierung und Schwächung der multilateralen Organisationen, in die Deutschland so viel Kapital investiert hat, politisches wie reales, ist zu groß. Auch die Sonderbeziehung mit Frankreich ist darin eingebettet: Berlin bekennt sich zwar klar zum deutsch-französischen „Motor“ in der GSVP, der bilaterale Aachener Vertrag geht aber nicht nennenswert über bereits bestehende multilaterale Verpflichtungen hinaus.

In ihrem Bemühen, die EU zusammenzuhalten, übersehen viele in Berlin jedoch, dass die EI2 einen starken Beitrag zur europäischen Handlungsfähigkeit leisten könnte – und nicht zwangsläufig im Widerspruch zur GSVP steht. Zwar war die Initiative in ihrer Ambition und Spannbreite in den ersten Wochen und Monaten nach der Ankündigung durch Staatspräsident Emmanuel Macron schwer zu greifen. In ihrer heutigen Fassung jedoch ist die EI2 sinnvoll und klar begrenzt: kein Wundermittel der europäischen Verteidigung, aber doch gut dazu angelegt, Lücken zu schließen, zum Beispiel in der gemeinsamen europäischen Bedrohungsanalyse. Außerdem bindet sie Großbritannien ein.

Brexit und die Folgen

Berlins Verständnis der GSVP wirkt sich auch auf die deutsche Herangehensweise an die zukünftige sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperation mit Großbritannien nach dem Brexit aus – sowohl im europäischen als auch im bilateralen Kontext. So versteht die Bundesregierung die GSVP als ­inklusiv nach innen, aber als exklusiv nach außen. Wie im gesamten Brexit-Prozess gilt auch für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik, dass ein maßgeblicher Unterschied darin bestehen muss, ob ein Land Mitglied der EU ist oder ein Drittstaat. Es geht darum, keine Anreize zu schaffen, die eine bloße Kooperation mit der EU so attraktiv erscheinen lassen wie die EU-Mitgliedschaft. Auch wenn Deutschland bestrebt ist, in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach dem Brexit ein enges und konstruktives Verhältnis mit Großbritannien zu schaffen, so kann es aus Sicht Berlins nicht Ziel sein, das Niveau der Kooperation im EU-Rahmen zu duplizieren.

Bei den Brexit-Verhandlungen stand und steht für Berlin die Geschlossenheit der verbleibenden 27 Mitgliedstaaten an erster Stelle. Die Bundesregierung hat daher vermieden, den Scheidungsprozess durch bilaterale Abkommen zu unterminieren und den Eindruck einer „special relationship“ zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich zu erwecken. Ein gemeinsames Joint Vision Statement zur engeren Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurde erst nach einiger Verzögerung verabschiedet. Eine bereits weitgehend fertig ausgearbeitete, korrespondierende Erklärung zur Außenpolitik liegt immer noch in der Schublade. Beide sind weit von der Zielsetzung der Lancaster-House-Verträge zwischen Frankreich und Großbritannien entfernt, um den Raum für sicherheitspolitische Kooperation außerhalb von EU und NATO (und den Vereinten Nationen) klein zu halten.

Hinzu kommt, dass viele in Berlin argumentieren, man habe wirkliche Fortschritte in der GSVP erst erzielen können, seit die Briten den Austritt aus der EU gewählt haben. Sie sehen den Brexit daher eher als Befreiungsschlag denn als Verlust. Als Beleg dient der Verweis auf die jahrelange ­Blockadehaltung der Briten, die bei der GSVP vieles von dem verhindert hatte, was seither ­beschlossen wurde, beispielsweise ein europäisches Hauptquartier für EU-Missionen. Eine allzu enge Anbindung der Briten birgt aus dieser Sicht die Gefahr, sich ein trojanisches Pferd in die EU zu holen. Das Argument, dass eine Ab­nabelung von der größten Militärmacht Europas zu Problemen führen dürfte, wenn man nach Autonomie strebt, verfängt nicht. Auch Friktionen, die sich auf die Kooperation mit Großbritannien im NATO-Rahmen auswirken, werden in Berlin eher nicht befürchtet.

Aus deutscher Sicht sollte sich Großbritannien stattdessen an GSVP-Projekten im Rahmen einer Drittstaatenkooperation beteiligen, wie es bereits heute gängige Praxis ist. Für Berlin ist wichtig, dass die politische Kontrolle und die Entscheidungshoheit bei der EU verbleiben, wenn sich Großbritannien von Fall zu Fall an PESCO-Projekten beteiligt. Mit Blick auf den Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) gilt, dass kein EU-Geld an Drittstaaten fließen soll und sich Großbritannien finanziell am Fonds beteiligen muss. Und es besteht ein langfristiges Interesse daran, die Entscheidungshoheit der Kommission in der europäischen Rüstungspolitik zu begrenzen, wenn diese gegen deutsche Interessen handelt.

Allerdings sind die Positionen der Bundesregierung noch nicht in jedem Punkt in Stein gemeißelt, und es gibt durchaus unterschiedliche Vorstellungen in den zuständigen Ministerien. Daher werden auch die Art und Weise, wie sich der Brexit letztlich vollzieht, einen Einfluss auf die deutsche Positionierung haben. Bereits jetzt ist klar, dass im Laufe des Prozesses viel Vertrauen in die Verlässlichkeit der britischen Verhandlungspartner verlorengegangen ist.

Form folgt Funktion

Die Gründung einer „Europäischen Verteidigungsunion“ dient aus deutscher Sicht dazu, einen verbindenden Rahmen zu schaffen, in dem sich möglichst viele EU-Staaten wiederfinden und kooperieren. Sie ist erst langfristig ein Instrument zur Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit, die Berlin zurzeit weiterhin in erster Linie durch die NATO gewährleistet sieht. Die Bundesregierung möchte ausdrücklich keine parallelen Strukturen oder Anreize schaffen – bilateral oder als „Koalition der Willigen“ –, die die EU-Institutionen untergraben könnten.

Da aber zurzeit eben noch kein von allen Mitgliedstaaten geteiltes Verständnis vitaler außenpolitischer EU-Interessen besteht, die verteidigt werden müssen, werden sich zwangsläufig und vermehrt Ad-hoc-Formate gründen, in denen kleinere Gruppen von EU- und NATO-Staaten direkt agieren – auch wenn Deutschland dies so weit wie möglich verhindern möchte. Hier besteht natürlich die Gefahr, dass die supranationale und bindende Kraft der GSVP untergraben wird. Das Risiko, sich auf EU-Formate zu versteifen, die nicht handlungsfähig sind, wäre allerdings noch größer.

Jedes Format, in dem Europäer verteidigungspolitisch zusammenarbeiten, stärkt letztlich die europäische Handlungsfähigkeit, sei es durch eine Verbesserung der Interoperabilität oder eine Angleichung der Bedrohungsanalyse. Berlin sollte nicht nur die EI2 unterstützen, sondern sich auch noch stärker dafür einsetzen, die Kooperation zwischen NATO und EU weiter auszubauen. Die europäische Sicherheitslage erfordert ein „Alle Mann an Deck“.

Wenn die EU, in Ergänzung zur NATO, tatsächlich eine Organisation werden soll, die europäische Sicherheit „produziert“, muss sie denjenigen auch attraktive Anknüpfungsmöglichkeiten bieten, die für die europäische Verteidigungsfähigkeit zentral sind, auch wenn diese nicht (mehr) EU-Mitglieder sind. Sollten nicht bald attraktive Mechanismen geschaffen werden, in denen strategische Partner wie die Briten, die Norweger, in einigen Fällen auch die Türken, an der GSVP teilhaben können, kann diese nicht halten, was sie verspricht. Eine „­inklusive“ GSVP ist nur inklusive Großbritannien schlagkräftig.

Deutschland sollte sich daher bei den EU-Verhandlungen zur Drittstaatenbeteiligung an europäischen Rüstungsprojekten stärker einbringen. Berlin ist bei der industriellen Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich deutlich weniger dogmatisch als zum Beispiel Paris. Die Brexit-Verhandlungen haben zwar noch nicht die Phase der „zukünftigen Beziehung“ erreicht – doch die EU-Richtlinien, zum Beispiel zum EDF, werden jetzt geschrieben. Hier sollte sich Berlin zusammen mit den Niederländern oder Skandinaviern für die Rechte von Drittstaaten an EU-Rüstungsprojekten einsetzen. Was die Partizipation der Briten an der GSVP-Entscheidungsfindung und die operative Beteiligung britischer Verbände anbelangt, sind deutsche Zweifel an der Aufrichtigkeit des neuerwachten britischen GSVP-Enthusiasmus verständlich. Berlin sollte Großbritannien aber die Gelegenheit geben zu beweisen, dass das Angebot, ein „ambitionierter“ GSVP-Partner zu werden, ernst gemeint ist.

Die Europäische Union langfristig als handlungsfähige supranationale Organisation auch in Sachen Verteidigung aufzustellen, ist Kern der Berliner Bestrebungen. Diese Ambition für die ferne Zukunft aber wird der heutigen Bedrohungslage nicht gerecht. Der Druck auf Europa ist akut. Die GSVP muss leisten können, was im Rahmen einer Verteidigungsunion immer wieder versprochen wird, um auf die Gefahren zu reagieren, mit denen sich Europa heute konfrontiert sieht: insbesondere dort, wo die NATO nicht handlungswillig oder -fähig ist.

Sophia Besch ist Research Fellow im Berliner Büro des ­Centre for European Reform (CER).

Dr. Jana Puglierin leitet das Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen im Forschungsinstitut der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2019, S. 46-51

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