Deutschland, der unwillige Koalitionär
Berlin unterstützt Militärmissionen politisch, schließt eine aktive Beteiligung unter Verweis auf das Grundgesetz aber aus. Diese sehr deutsche Haltung stößt an ihre Grenzen: So könnte ein Ausweg aussehen.
Im Januar 2020, auf einer meiner letzten Reisen vor dem Corona-Lockdown, besuchte ich einen kleinen deutsch-französischen Experten-Workshop in Paris. Es ging um das aus dem Tritt geratene „Tandem“ und wie es in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wieder zu einem gemeinsamen Rhythmus finden könne.
Paris hatte gerade die Initiative für eine europäische maritime Überwachungsmission im Persischen Golf ergriffen, um nach der Beschlagnahmung eines britischen Tankers durch Iran den Schiffsverkehr entlang der wichtigen Handelsroute in der Straße von Hormus vor möglichen Angriffen zu schützen. Berlin hatte daraufhin verlauten lassen, es unterstütze diese Initiative politisch, werde sich allerdings militärisch nicht an ihr beteiligen. Jedenfalls nicht, solange die französisch geführte Ad-hoc-Mission nicht in eine Mission der Europäischen Union überführt worden sei.
Die Kommentare einiger französischer Teilnehmer am besagten Workshop waren mit Blick auf diese Haltung recht scharf. Aus französischer Verteidigungsperspektive sei Deutschland ein schwieriger Partner, der sich vor robusten Einsätzen wegducke und sich hinter dem institutionellen Rahmen der EU verstecke. Die Frustration über die militärische Zurückhaltung der Bundesregierung war mit Händen zu greifen.
Zurück in Berlin, teilte ich das in Paris Gehörte mit einer kleinen Gruppe Bundestagsabgeordneter, allesamt Expertinnen und Experten für europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Das Ergebnis war allgemeines Kopfschütteln. Die Parlamentarier waren sich quer durch die Parteien einig: Hätten die Franzosen das deutsche Grundgesetz gelesen, hätte ihnen von Beginn an klar sein müssen, dass sich Deutschland an einer solchen „Koalition der Willigen“ außerhalb des UN-, NATO- oder EU-Rahmens grundsätzlich nicht beteiligen könne. Die Frage, ob ein Engagement politisch beziehungsweise militärisch sinnvoll wäre, haben wir dann gar nicht mehr diskutiert. Das Thema war unter Verweis auf das deutsche Verfassungsrecht vom Tisch.
Anhand dieser Episoden in Paris und Berlin lässt sich ein Problem für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik veranschaulichen, das immer dringlicher wird. Immer mehr Partner, allen voran die USA, bevorzugen Militärmissionen außerhalb etablierter Bündnisse. Sie wollen lieber im Rahmen flexibler Allianzen agieren, in denen sich gleichgesinnte Staaten entsprechend ihren nationalen Fähigkeiten und Prioritäten an einer Operation beteiligen.
Immer mehr Pragmatismus
In Europa treibt insbesondere Frankreich diesen Trend entscheidend voran. Paris möchte ein verteidigungspolitisch handlungsfähigeres Europa, angesichts einer „hirntoten“ NATO, wie es Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron 2019 formuliert hat, und der Aussicht, dass die Vereinigten Staaten das amerikanische Engagement in der europäischen Peripherie schrittweise auf ihre Kerninteressen reduzieren.
Offensichtlich ist Paris aber müde geworden, sich den auf Einstimmigkeit basierenden und daher oft zähen und langwierigen Entscheidungsprozessen in Brüssel zu unterwerfen. Anstatt darauf zu warten, bis sich alle in der EU einig werden, will Frankreich lieber pragmatisch mit denjenigen europäischen Staaten zusammenarbeiten, die dringenden Handlungsbedarf sehen und die „willig und fähig“ sind.
In diese Kategorie fallen auch das Vereinigte Königreich, das nach dem Brexit kein Interesse mehr an einer institutionellen Anbindung an die Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU hat, und Dänemark, das sich an der GSVP mit Berufung auf ein „Opt-out“ nicht beteiligt.
In den Augen von Paris bestimmen die Missionen die Koalitionen – und nicht umgekehrt. Ad-hoc-Bündnisse sind aus französischer Perspektive mittlerweile ein den Einsätzen im EU- oder NATO-Rahmen gleichgestellter Normalfall.
Ein weiterer Beleg dafür ist die von Frankreich initiierte und geführte europäische Task Force Takuba in der Sahel-Zone, die 2020 ins Leben gerufen wurde und ebenfalls außerhalb formaler GSVP-Strukturen angelegt ist. Inzwischen beteiligen sich daran sieben europäische Staaten mit Streitkräften. Deutschland unterstützt auch diese Mission nur politisch und lehnte französische Anfragen nach militärischer Unterstützung bislang mehrfach ab.
Der verfassungsrechtliche Rahmen
Anders als in Frankreich tut man sich in Deutschland mit dem vermehrten Rückgriff auf flexible Koalitionen der Willigen außerhalb der Vereinten Nationen, der NATO oder der EU schwer. Die enge Einbindung in alle drei Institutionen gehört zum Markenkern deutscher Außenpolitik. Erst der NATO-Beitritt hat eine (west)deutsche Wiederbewaffnung nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt möglich gemacht. Viele außenpolitische Entscheidungsträger in Berlin teilen die Sorge, die traditionellen Organisationen multilateralen Handelns zu untergraben, wenn man an ihnen vorbei operiert.
Vor allem aber herrscht in Deutschland ein Verfassungsverständnis, das dem Handlungsspielraum der Bundesregierung und des Bundestags für eine mögliche Beteiligung der Bundeswehr an derartigen Missionen sehr enge Grenzen setzt. Der Einsatz deutscher Soldaten im Ausland ist gemäß Artikel 87a Absatz 2 des Grundgesetzes (GG) außer zur Verteidigung nur dann zu rechtfertigen, wenn es die Verfassung ausdrücklich erlaubt.
In seiner Grundsatzentscheidung zu den „Out-of-Area“-Einsätzen im Jahr 1994 hat das Bundesverfassungsgericht diese Erlaubnis angesichts anderer fehlender ausdrücklicher Ermächtigungsgrundlagen aus Artikel 24 Absatz 2 GG abgeleitet. Dieser gestattet es der Bundesrepublik, zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit beizutreten. Das Bundesverfassungsgericht argumentierte damals, dass mit einem solchen Beitritt auch die Übernahme von für das System typischen Aufgaben verbunden sei. Dazu gehöre auch der Einsatz von Streitkräften.
Seitdem hat sich im politischen Berlin die Auffassung etabliert, dass, wie das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil von 2009 in einem „obiter dictum“ feststellte, der „Auslandseinsatz der Streitkräfte [...] außer im Verteidigungsfall nur in Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit erlaubt (Art. 24 Abs. 2 GG) [ist]“. Zudem muss der Bundestag einem jeden Einsatz der Streitkräfte zuvor zugestimmt haben, und der Einsatz muss völkerrechtlich legitimiert sein. Damit sind der Beteiligung der Bundeswehr an Militäreinsätzen enge verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt, die die Vereinigten Staaten, Frankreich, aber auch Großbritannien so nicht kennen.
Allerdings hat auch in Deutschland in den vergangenen Jahren – von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet – eine Entwicklung stattgefunden, die es nicht mehr so einfach macht, Debatten über die politische Sinnhaftigkeit eines Einsatzes reflexartig mit dem Verweis auf den verfassungsrechtlich inakzeptablen Ad-hoc-Rahmen zu beenden. So findet sich bereits im Weißbuch aus dem Jahr 2016 der Hinweis, dass insbesondere Ad-hoc-Kooperationen als Instrumente der internationalen Krisen- und Konfliktbewältigung weiter an Bedeutung gewinnen werden. Dieser Entwicklung, so steht es im Weißbuch, werde Deutschland Rechnung tragen „und sich in solchen Fällen, in denen es seine Interessen auf diesem Weg schützen kann, an Ad-hoc-Kooperationen beteiligen oder diese gemeinsam mit seinen Partnern initiieren“.
Auch in der „Konzeption der Bundeswehr“, die im Sommer 2018 verabschiedet wurde, werden Ad-hoc-Kooperationen außerhalb der Vereinten Nationen, der NATO oder der EU als möglicher Einsatzrahmen für die Bundeswehr erwähnt. Somit stehen beide Dokumente zumindest in einem Spannungsverhältnis zum herrschenden Verfassungsverständnis.
Paragrafendehnung gegen den IS
De facto haben die Bundesregierung und der Bundestag mit der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte im Rahmen der internationalen Koalition gegen den „Islamischen Staat“ in den Irak und Syrien das Verständnis von Einsätzen „im Rahmen und nach den Regeln eines kollektiven Sicherheitssystems“ bereits arg strapaziert.
So stützte sich der Einsatz im Rahmen von „Counter Daesh“ gleich auf drei Rechtsgrundlagen: erstens die UN-Sicherheitsratsresolution 2249, die allerdings keinen Bezug zu Maßnahmen nach Kapitel VII beinhaltete, zweitens das Selbstverteidigungsrecht Frankreichs nach Artikel 51 der UN-Charta und drittens die EU-Beistandsklausel nach Artikel 42 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union. So wurde versucht, die Beteiligung an der von den USA geführten Koalition der Willigen in das Korsett des Artikel 24 Absatz 2 GG zu pressen, um die verfassungsrechtlichen Vorgaben durch eine sehr weite Auslegung an die neuen militärischen Gegebenheiten anzupassen.
Dies war allerdings keineswegs unumstritten. Die Grünen lehnen den Einsatz unter Verweis auf den „verfassungs- und völkerrechtlich hoch problematischen Bundeswehreinsatz in einer Koalition der Willigen“ bis heute ab. Die Linke zog vor das Bundesverfassungsgericht, um im Rahmen eines Organstreitverfahrens gegen den IS-Einsatz zu klagen. Das Bundesverfassungsgericht wies die Klage allerdings ab, weil es die Rechte des Bundestags und der Abgeordneten nicht verletzt sah – die Mehrheit der Abgeordneten hatte ja zugestimmt. Es sah sich außerdem im Rahmen des Organstreitverfahrens nicht für die allgemeine Kontrolle der sicherheitspolitischen Entscheidungen der Bundesrepublik zuständig. Anders als noch im Lissabon-Urteil stellte das Bundesverfassungsgericht jedoch fest, dass es „zumindest vertretbar“ sei, die Europäische Union als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit anzusehen.
Einsatzrealität der 1950er Jahre
Zukünftig wird Deutschland immer wieder in die Situation kommen, sich gegenüber seinen Verbündeten positionieren zu müssen. Dauerhaft wird sich die Bundesregierung dem Druck, auf die veränderten Rahmenbedingungen zu reagieren und ein Engagement Deutschlands mit militärischen Beiträgen künftig auch in Ad-hoc-Kooperationen zu ermöglichen, allein durch den Verweis auf die Beschränkungen des Grundgesetzes nur schwer entziehen können.
Zu Recht stellt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags in seiner Ausarbeitung vom 16. Februar 2016 zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen für Auslandseinsätze der Bundeswehr fest, dass ein Aufweichen des verfassungsrechtlichen Prüfmaßstabs für Auslandseinsätze der Bundeswehr längst begonnen habe.
Das Grundgesetz spiegelt noch immer die Einsatzrealitäten der Bundeswehr aus den 1950er Jahren wider, als Artikel 87a nach einem heftigen Streit über die Wiederbewaffnung ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Die sicherheits- und verteidigungspolitischen Anforderungen an Deutschland haben sich seitdem jedoch entscheidend gewandelt. In der verfassungsrechtlichen Literatur gab es in den vergangenen Jahren deshalb immer wieder Stimmen, die sich dafür ausgesprochen haben, das gegenwärtige Verfassungsverständnis weiterzuentwickeln und eine Ermächtigung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr durch andere verfassungsrechtliche Normen in Betracht zu ziehen.
Diskutiert wurde unter anderem, den Verteidigungsbegriff des Artikel 87a Absatz 2 GG weiter zu fassen und den verfassungsrechtlichen Verteidigungsbegriff mit dem völkerrechtlichen Verteidigungsbegriff gleichzusetzen. Dann wären Auslandseinsätze deutscher Streitkräfte verfassungsrechtlich immer dann zulässig, wenn sie auch völkerrechtlich zulässig wären.
Einige Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben dies angesichts der verfassungsrechtlich umstrittenen Bundeswehreinsätze gegen den IS in Erbil im Nordirak und in Syrien politisch unterstützt. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen, hatte bereits am 28. November 2015 in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärt, beim Einsatz gegen den IS gehe es „exakt um Verteidigung“, „genau um das, was das Grundgesetz sagt und meint“.
Sprengstoff für die nächste Regierung
Das Thema könnte durchaus für Sprengkraft in einer kommenden Koalitionsregierung sorgen. Im neuen Grundsatzprogramm der Grünen wurde gerade erst wieder bestätigt, dass bewaffnete Einsätze der Bundeswehr im Ausland in „ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ einzubetten sind, „das heißt nicht in verfassungswidrige Koalitionen der Willigen“. Auch innerhalb der SPD ist der Widerstand gegen ein Abrücken von der herrschenden Verfassungsinterpretation stark. In der Union hingegen gibt es eine größere Bereitschaft, den Verteidigungsfall künftig weitergehend auszulegen.
Am Ende ist es vor allem eine politische Frage, ob man den sicherheitspolitischen Handlungsspielraum Deutschlands perspektivisch erweitern möchte oder nicht. Die Antwort kann man nicht einfach nach Karlsruhe „outsourcen“. Es gibt, gerade nach den Erfahrungen aus Afghanistan oder Libyen, gute Gründe, die Erfolgsaussichten militärischer Missionen mit Skepsis zu betrachten.
Aber nur, weil man sich gegebenenfalls von der strengen Erfordernis eines Systems kollektiver Sicherheit als Handlungsrahmen für deutsche Auslandseinsätze löste, hieße das noch lange nicht, dass sich Deutschland an jeder Ad-hoc-Kooperation auch beteiligen müsste oder sollte. Generell spricht vieles dafür, das europäische Krisenmanagement besser im EU-Rahmen als unter dem Dach flexibler Zusammenschlüsse organisieren zu wollen; ein Argument ist vor allem die größere Legitimität der EU-Missionen.
Die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit eines Auslandseinsatzes der Bundeswehr und der Rahmen, in dem dieser stattfindet, sollten auf Basis deutscher Interessen und Werte diskutiert werden. Das Grundgesetz bietet größere Flexibilität, als dies der reflexhafte Rückzug auf Artikel 24 Absatz 2 GG vermuten lässt. Der deutsche Ansatz, die französischen Initiativen in der Straße von Hormus oder die Anti-Terror-Mission in der Sahel-Zone zwar politisch zu unterstützen, aber sich dann militärisch nicht zu beteiligen, lässt sich jedenfalls allein mit Verweis auf die „Koalitionen der Willigen“ nicht länger aufrechterhalten.
Dr. Jana Puglierin leitet das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR).
Internationale Politik 3, Mai-Juni 2021, S. 37-42
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