„Europäische Lösung“
Seit einigen Jahren ist die Phrase vor allem dann zu hören, wenn es in Europa um Einwanderung, Asyl und Flucht geht. Sie taucht auch gelegentlich in anderen Zusammenhängen auf – etwa bei Fragen der Verteidigung und gemeinsamen Rüstung, der Energieversorgung und Emissionsreduktion, wenn es um Kriterien für die Sicherheit von 5G-Netzen geht oder jüngst bei der Corona-Bekämpfung. Zuverlässig heißt es dann jeweils, dieses und jenes Problem brauche eine „europäische Lösung“.
Auf eine triviale Weise stimmt das: Wo im wahrsten Sinne des Wortes grenzüberschreitende Probleme gelöst werden müssen, greifen nationale Maßnahmen zu kurz. Besonders sinnfällig ist das in allen Fragen, die Einwanderung und Asyl betreffen. Solange es Freizügigkeit in Europa gibt (und was wäre Europa ohne sie), geht es alle EU-Mitgliedstaaten an, wie jeder einzelne Staat sein Grenzregime handhabt.
Das Problem mit der Beschwörung der „europäischen Lösung“ für Migration und Asyl ist die Heuchelei, die sich so oft damit verbindet. Wenn deutsche Politiker die Formel verwenden, löst das bei Kollegen aus den migrationspolitischen Frontstaaten an den Außengrenzen stille Wut aus. Sie haben schließlich seit vielen Jahren die Hauptlast der real existierenden „europäischen Lösung“ zu tragen, gemäß der Dublin-Verordnung, nach der Asylbewerber ihren Antrag im Land der Ankunft stellen müssen.
Diese Regelung beruht auf dem richtigen Gedanken, dass niemand in der EU mehrfach Asyl beantragen dürfe. Sie hatte für die nördlichen Länder Europas allerdings auch den Vorteil, dass sie de facto unerreichbar für die meisten Flüchtenden wurden und die Asylprüfung entsprechend an Griechen und Italiener outsourcen konnten. Das wiederum führte zu deren Praxis, die Asylbewerber umgehend in jene nördlichen Länder weiterreisen zu lassen, in die sie ohnehin wollten.
Reflexhafte Forderung
Das Heuchelei-Problem konnte man auch in den schrecklichen Zuständen des kürzlich abgebrannten Lagers Moria auf der Insel Lesbos besichtigen. Dass als Reaktion auf den Brand dort in Deutschland reflexhaft wieder eine „europäische Lösung“ gefordert wurde, kaschiert nur notdürftig die Tatsache, dass Moria seit Jahren Teil eben dieser Lösung war.
Dass in dem Lager zusehends unerträgliche Zustände herrschten, wurde in Kauf genommen. Wenn die Abschreckungswirkung der auf Dauer gestellten humanitären Katastrophe nicht gar beabsichtigt war.
Ein anderes Beispiel: Deutschland hat jahrelang aggressiv für die Pipeline Nord Stream 2 lobbyiert. Die zweite Röhre durch die Ostsee wurde als Beitrag zur Energiesicherheit in Europa dargestellt, gegen den erbitterten Widerstand der Polen, die eine größere Abhängigkeit von Russland befürchteten. Als die Sache dann durch Russlands aggressives Verhalten an Rückhalt verlor, beschwor man plötzlich eine „europäische Lösung“ für die Pipeline.
Merke: Wer wirklich „europäische Lösungen“ will, darf die Parole nicht nur immer dann verwenden, wenn es ihm gerade passt.
Jörg Lau ist Außenpolitischer Koordinator im Ressort Politik der ZEIT und Kolumnist der „80 Phrasen“.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2020, S. 13
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