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01. Apr. 2003

Europa wird neu verfasst

Schafft der Konvent den Durchbruch?

Mehr als 1000 Änderungsvorschläge zur europäische Verfassung sind bei Konventspräsident Valéry Giscard d’Estaing eingegangen. Wenn diese Vorschläge alle berücksichtigt werden sollen und der Konvent seinen Zeitplan einhalten will, muss fast ein Wunder geschehen. Der Teufel liegt im Detail der Formulierungen, und wenn nicht bis Dezember 2003 ein verabschiedungsreifer Entwurf präsentiert werden kann, wird eine Einigung nach Beitritt der neuen Mitglieder noch schwieriger.

Spätestens seit Ende Oktober 2002 ist der Verfassungskonvent nach einer etwas zähen Anfangszeit in die Phase reger Betriebsamkeit getreten. Früher als erwartet hat der Vorsitzende des Konvents, der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing, am 28. Oktober 2002 einen Gliederungsvorschlag1 für die neue Verfassung vorgelegt, woraufhin dann Ab Februar 2003 zahlreiche Artikel-Entwürfe vorgelegt wurden.2 Darüber hinaus hatte schon im Januar ein deutsch-französischer Vorschlag für eine Doppelspitze3 – ein gewählter Präsident des Rates und ein vom Europäischen Parlament gewählter Präsident der Kommission – der europäischen Diskussion über die politische Führung der Union neuen Auftrieb gegeben. Und schließlich setzt nun auch noch die Irak-Krise den Verfassungskonvent hinsichtlich seiner Beschlüsse über die Zukunft der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) unter Druck.

Eine Bestandsaufnahme zum jetzigen Zeitpunkt muss zu dem Schluss kommen, dass Vieles, was noch vor einem Jahr unmöglich schien, erreicht wurde. Allerdings ist auch offensichtlich, dass eine Einigung über die wirklich strittigen Kernpunkte der Reform, an denen schon die Regierungskonferenzen von Amsterdam und Nizza schließlich gescheitert sind, noch aussteht. Dazu gehören die Neugestaltung des Europäischen Rates und die Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen, die Zahl der Kommissare, die Zukunft der ESVP und vieles mehr.

Als im Dezember 2001 auf dem EU-Gipfel im belgischen Laeken die Einberufung eines Konvents beschlossen wurde, war noch keineswegs sicher, dass dieser tatsächlich einen einheitlichen Verfassungsentwurf vorlegen würde. Inzwischen hat sich eine breite Mehrheit des Konvents für einen Verfassungsvertrag – und nicht etwa für optionale Vorschläge ausgesprochen. Ebenfalls ist es dem Konventspräsidium unter Leitung von Giscard d’Estaing gelungen, alle bisherigen Konsenspunkte in seinen Vorentwurf aufzunehmen. Dies darf nicht unterschätzt werden, denn so besteht Einigkeit sowohl über eine transparente Neustrukturierung der bisherigen Verträge als auch über die Überwindung der bisherigen Säulenstruktur.

Der künftige Vertrag über eine Verfassung für Europasoll aus drei Teilen bestehen: einem ersten konstitutionellen Teil mit den Grundzielen und der institutionellen Architektur der EU, einem zweiten Teil zu den Politikbereichen und schließlich einem dritten Teil mit ergänzenden Protokollen und Schlussbestimmungen. Konsens ist inzwischen, dass die EU in Zukunft eine eigene Rechtspersönlichkeit erhalten soll. Der Vorentwurf umreißt ferner die zukünftige Kompetenzordnung der Union, indem er die Schaffung von „ausschließlichen“ und „geteilten“ Kompetenzen sowie „unterstützenden Maßnahmen“ skizziert. Einigkeit besteht auch über die Herstellung von Transparenz bei allen Legislativakten, was insbesondere mit Blick auf den Rat relevant ist. Dies alles ist ein wichtiger Etappensieg. Doch dem Konvent stehen stürmische Zeiten bevor.

Der Teufel liegt im Detail

Die Ausformulierung der Artikel 1 bis 16 des Vorentwurfs hat im Konvent harsche Kritik ausgelöst. Nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich fühlten sich viele Konventsmitglieder vom Präsidium übergangen, weil der Entwurf in ihren Augen die Ergebnisse der Arbeitsgruppen nur ungenügend widerspiegelte. Über 1000 eingereichte Änderungsanträge belegen, dass bei aller Einigkeit über die großen Linien der Teufel im Detail der Formulierungen steckt. So wandten sich etwa die britischen Konventsmitglieder gegen den Begriff „föderal“ im ersten Artikel, in dem es heißt, mit dieser Verfassung werde eine Union gegründet, „in deren Rahmen die Politiken der Mitgliedstaaten aufeinander abgestimmt werden und die in föderaler Weise bestimmte gemeinsame Zuständigkeiten wahrnimmt.“ Christdemokraten beanstandeten, dass der Grundwertekatalog des Verfassungsentwurfs keinen Hinweis auf Gott enthält.

Kritik wurde ebenfalls laut an Artikel 13, nach dem in Zukunft die Union – und nicht mehr die Mitgliedstaaten – die Wirtschaftspolitik koordinieren soll, was Vielen zu weit geht. Artikel 14 legt die Unionsstaaten auf „Loyalität und gegenseitige Solidarität“ in der Außen- und Sicherheitspolitik fest; diese Formulierung ist nicht nur umstritten – sie wirkt angesichts der fehlenden einheitlichen europäischen Haltung zum Irak-Konflikt geradezu lächerlich. Anderes an dem Entwurf mutet willkürlich an. So stolpert man beispielsweise über die Heraushebung der Weltraumforschung (Artikel 3 über die Ziele der Union) oder über die explizite Erwähnung der Erhaltung der biologischen Meeresschätze (Artikel 11 über die ausschließlichen Zuständigkeiten).

Schwerer wiegt die Kritik zahlreicher Wirtschaftsverbände,4 die eine Asymmetrie zwischen den wirtschaftlichen und sozialen Zielen der Union bemängeln: Während Vollbeschäftigung und sozialer Zusammenhalt unter den Zielen ausdrücklich Erwähnung finden, tauchen ordnungspolitische Grundbegriffe wie etwa das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft oder das Recht auf Eigentum nicht auf. Unklar ist noch, wie das Präsidium mit den zahlreichen Änderungswünschen methodisch umgehen wird, da Giscard d’Estaing eine Abstimmung im Konventsplenum über einzelne Formulierungsvorschläge vermeiden möchte.

Ein Ratspräsident?

Schwerwiegender ist allerdings die Tatsache, dass sich der Konvent an die Kernfragen der institutionellen Reform nur äußerst zögerlich herantastet. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht derzeit die Reform des Rates, genauer die Frage: soll der Rat einen gewählten Präsidenten bekommen? Dieser Vorschlag, der auf Ideen der britischen und spanischen Regierung vom Mai2002 zurückgeht,5 hat durch die am 15. Januar 2003 vorgelegten deutsch-französischen Vorschläge6 eine neue Dynamik erhalten. Deutschland und Frankreich plädieren im Gegensatz zum britisch-spanischen Vorschlag für eine Doppelspitze aus einem vom Rat selbst gewählten Ratspräsidenten und einem vom Europäischen Parlament (EP) gewählten Kommissionspräsidenten. Der bisherige Rat für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen (RAA)7 soll aufgeteilt werden in einen Rat „Auswärtige Politik“, der unter dem Vorsitz eines EU-Außenministers nur für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bzw. die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP/ESVP) zuständig sein soll, und einen Rat „Allgemeine Angelegenheiten“, dem der Generalsekretär des Rates vorsitzen soll.

Begrüßenswert ist der Versuch des deutsch-französischen Vorschlags, durch die gleichzeitige Stärkung beider Komponenten – Rat und Kommission – das spezifische institutionelle Gleichgewicht der EU zu erhalten. Ein Abgleiten der politischen Strukturen der EU in eine zu stark föderale oder eine zu stark intergouvernementale Richtung wird so vermieden. Andere Verfassungsentwürfe, wie beispielsweise der des französischen Konventsmitglieds Pierre Lequiller,8hatten versucht, durch den Vorschlag eines einzigen Präsidenten an der Spitze von Kommission und Rat („Doppelhut“) eine Verknüpfung zwischen den föderalen und den intergouvernementalen Elementen der EU herzustellen. Die Doppelhut-Lösung konnte sich aber bislang nicht durchsetzen. Auch die deutsch-französischen Vorschläge stießen auf harte Kritik insbesondere der kleineren EU-Staaten, die aus Gründen ihrer eigenen Repräsentanz auf einer Beibehaltung der Rotation bestehen,9 oder aber von Polen, das eine „Team-Präsidentschaft“ vorschlägt, in der sich jeweils drei Staaten die Präsidentschaft für 18 Monate teilen.10

Problematisch beim deutsch-französischen Vorschlag zur Reform des Rates ist zum einen, dass er (noch) nicht explizit den Rat konsequent in Richtung einer Staatenkammer („Senat“) entwickelt, wobei die legislative Funktion klar von der exekutiven durch die formelle Gründung eines Gesetzgebungsrats getrennt werden müsste.11 In anderen Vorschlägen, die genau darauf abzielen, wird durchgehend die Einrichtung eines Koordinierungsrats oder eines Rates der Europa-Minister als „Vermittler“ vorgeschlagen. Der Rat „Gesetzgebung“ wäre dabei ein Rat in ständig wechselnder Besetzung: entweder in Zusammensetzung der verschiedenen Fachminister, wenn dem Koordinierungsrat kein Widerspruch eines anderen Fachrats vorliegt, oder als Koordinierungsrat, wenn Uneinigkeit herrscht.

Zweitens bleibt beim deutsch-französischen Vorschlag ungeklärt, wie die Kompetenzabgrenzung zwischen den beiden Präsidenten verlaufen soll. Viele Konventsmitglieder befürchten, dass es zwischen den beiden Präsidenten zu einer systemblockierenden Konkurrenz kommen könnte. Auch ist nicht klar, wie die Funktion des Ratspräsidenten, der die Union nach außen auf höchster Ebene außenpolitisch vertreten soll, von den operativen, außenpolitischen Aufgaben des geplanten EU-Außenministers abgegrenzt werden soll. Befürchtet wird auch der Aufbau einer parallelen Exekutive im Ratssekretariat.

In der Tat wird es notwendig sein klarzustellen, dass der Präsident des Rates ein politischer Präsident ohne exekutive Befugnis, der Kommissionspräsident hingegen ein nichtpolitischer Präsident mit exekutiver Befugnis sein muss. Nur so kann auch die Neutralität der Kommission als „Hüterin der Verträge“ gewahrt bleiben, die ansonsten das Opfer ihrer „Politisierung“ werden könnte. Insbesondere der deutsche Außenminister und Konventsteilnehmer Joschka Fischer hatte sich für die „Demokratisierung“ der Kommission durch ihre Wahl durch das Europäische Parlament stark gemacht. Frankreich schluckte diese Forderung erst, nachdem es als Gegenzug das deutsche „Ja“ zu einem Ratspräsidenten erhalten hatte.

Widerstände

Derzeit ist die politische Gemengelage im Konvent so, dass eine Mehrheit der Konventsmitglieder die Wahl der Kommission durch das EP befürwortet, die Schaffung eines Ratspräsidenten hingegen besonders zwischen kleinen und großen Staaten umstritten ist – so hatte das finnische Konventsmitglied Kimmo Kiljunen beispielsweise bis Mitte März schon 68 Unterschriften aus dem Konvent gegen den deutsch-französischen Vorschlag gesammelt! Wird aber die Wahl eines Ratspräsidenten aus dem Vorschlag herausgenommen, dürfte Frankreich abspringen. Deutschland, traditionellerweise „Anwalt“ der kleinen Staaten, sitzt hier zwischen den Stühlen: die von den kleinen Staaten gewünschte Wahl des Kommissionspräsidenten durch das EP kann nur durchgesetzt werden, wenn diese im Gegenzug den Ratspräsidenten akzeptieren.

Aber auch große Staaten, vornehmlich Großbritannien und Spanien, haben hierzu Gegenentwürfe vorgelegt. Zwar sind beide auch für einen (auf vier Jahre) gewählten, „Vollzeit“-Ratspräsidenten, lehnen aber eine Wahl des Kommissionspräsidenten durch das EP Ab. Stattdessen soll dieser, wie bisher, vom Rat ernannt und vom EP nur noch bestätigt werden. Auch hinsichtlich der Sitzungen von Ministerräten divergieren die vier Großen: Während Deutschland und Frankreich die Rotation in den verbleibenden sechs Räten aufrecht erhalten wollen, schlagen Spanien und Großbritannien zweijährige „Team-Präsidentschaften“ vor, deren Laufzeiten auf die mehrjährigen Arbeitsprogramme der Kommission abgestimmt sein sollten. Ferner plädieren sie auch für einen EU-Außenminister sowie die Trennung des RAA in einen Außenministerrat und einen Rat Allgemeine Angelegenheiten, wobei der Außenminister aber nicht wie im deutsch-französischen Vorschlag mit der Kommission verzahnt werden soll.12 Schließlich fordern die Britenund Spaniereinen Europäischen Kongress als Vertretung der nationalen Parlamente im politischen System der EU, der von der Konventsmehrheit allerdings abgelehnt wird.

„Stiefkinder“ des Konvents

Im Schatten der Diskussion über den Präsidenten des Rates stehen die Kommission und das Parlament. Erschreckend ist, dass der Konvent sich den eigentlichen „left-overs“ von Amsterdam und Nizza, nämlich der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen sowie der Verringerung der Zahl der Kommissare und mehr Befugnissen für das EP, noch nicht recht zugewandt hat, obgleich dies immer wieder von Konventsmitgliedern gefordert wurde.13 In der Konventssitzung im Januar 2003 sprach sich eine große Zahl von Mitgliedern für die Stärkung der Gemeinschaftsmethode aus – Ausdehnung des Initiativrechts der Kommission, der Mehrheitsentscheidungen (wobei hier mehrheitlich für eine einfache, doppelte Mehrheit aus Staaten und Bevölkerung plädiert wird) und der Mitentscheidung des Parlaments. Allerdings gaben Vertreter der kleinen Staaten auch vehemente Plädoyers ab für das Prinzip der Gleichheit der Staaten und damit gegen eine Verkleinerung der Kommission. Es ist noch ziemlich unklar, ob der Konvent in der Lage sein wird, diesen gordischen Knoten zwischen hehren Forderungen und politischen Realitäten zu zerschlagen.

Angesichts dieser beiden Frontlinien im Konvent (zwei Große gegen zwei Große bei der Wahl des Kommissionspräsidenten durch das EP sowie kleine Staaten gegen große Staaten bei der Wahl eines Ratspräsidenten) scheinen zwei Entwicklungen wahrscheinlich: erstens, dass die Laufzeit des Konvents über Juni 2003 hinaus verlängert wird; zweitens, dass der Verfassungsentwurf, den der Konvent der für Dezember 2003geplanten Regierungskonferenz übergeben wird, mehr „eckige Klammern“, d.h. mehr offene Fragen als bisher eingeplant, enthalten wird. Dies werden erneut die alten Kernfragen sein: die Ratspräsidentschaft könnte dazu gehören und von den großen EU-Staaten möglicherweise auch gegen eine Mehrheit des Konvents durchgesetzt werden.

Der französische Staatspräsident, Jacques Chirac, hat wiederholt deutlich gemacht,14 dass die anschließende Regierungskonferenz die eigentliche Entscheidung über die europäische Verfassung fällen wird. Allerdings zeichnen sich jetzt – auch angesichts der Irak-Krise – einige Hindernisse Ab: Wird die Sitzungsdauer des Konvents verlängert, findet auch die Regierungskonferenz später statt. Möglicherweise kann diese dann nicht mehr vor dem Beitritt der zehn Neumitglieder im Mai 2004 abgeschlossen werden – und dann sitzen mehr kleine als große Staaten am Verhandlungstisch. Eine Regierungskonferenz mit 25 Staats- und Regierungsvertretern, die einstimmig über einen Verfassungsentwurf abstimmen sollen, die auch noch unter Zeitdruck steht, denn der Verfassungsvertrag soll bis spätestens zu den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2004 verabschiedet sein – könnte indes den letzten Verfassungselan zunichte machen.

Irak und die Zukunft der ESVP

Neben der Kontroverse über das politische System der EU ist die ESVP das zweite große Themenfeld, das eine Zerreißprobe für den Konvent sein kann und das augenblicklich durch die Irak-Krise in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt ist. In keinem anderen Politikfeld ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit so groß: Die EU-Bürger wünschen sich in ihrer Gesamtheit zu über 70 Prozent eine Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Die GASP/ESVP sollte das Fortschrittsthema des Konvents schlechthin werden: In den Eröffnungsreden des Konvents wurde betont, dass die EU eine „Machtprojektion“ brauche, um in der Welt politische Verantwortung übernehmen zu können. Eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie verbesserte militärische Fähigkeiten sind dafür die conditio sine qua non. Aber die ESVP ist nicht nur bisher das erste und prominenteste Opfer des irakischen Diktators, Saddam Hussein. Auch lassen die bisherigen Ergebnisse der Arbeitsgruppe GASP/ESVP des Konvents keine großen Sprünge erwarten. Ihr einziger innovativer Vorschlag ist die inzwischen viel diskutierte Zusammenlegung des Amtes des Kommissars für Außenbeziehungen mit der Position des Hohen Vertreters für die GASP, die beim Rat angesiedelt ist. Dies allein aber wird die GASP weder reformieren noch handlungsfähiger machen.

Von Bedeutung ist daher auch ein im November 2002 von den beiden Außenministern Deutschlands und Frankreichs im Konvent eingebrachter Vorschlag.15 Beide fordern darin die Schaffung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion, was von der Wortwahl her symbolisch auf die notwendige Vergemeinschaftung der ESVP abzielt. Da hierfür keine Einstimmigkeit im Rat zu erhalten ist, schlagen Deutschland und Frankreich vor, die verstärkte Zusammenarbeit über den Vertrag von Nizza hinausgehend16 für die ESVP besser nutzbar zu machen. Der Beschluss einer solchen Zusammenarbeit soll mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden; gleichzeitig soll die Schwelle für die Teilnehmer (laut Vertrag von Nizza mindestens acht Staaten) niedriger gesetzt werden. Diese Form der Flexibilität würde eine „Avantgarde“ von willigen und fähigen Staaten in der ESVP möglich machen, die dann unter dem Dach der Union (und nicht außerhalb) tätig werden könnten. Die Vetomöglichkeit bei einer verstärkten Zusammenarbeit in der GASP würde entfallen.

Die kleineren EU-Staaten befürchten von dieser Regelung jedoch die Schaffung eines „Direktoriums“ der Großen. Allerdings wurde in der Irak-Krise deutlich, dass die sicherheitspolitische Frontstellung mitten durch die fünf großen EU-Staaten (Frankreich-Deutschland; Großbritannien-Spanien-Italien) verläuft. Selbst wenn man diese Reformen durchführen würde, wäre dann beispielsweise eine deutsch-französisch-belgische Position eine „verstärkte Zusammenarbeit“, oder diejenige der acht Staaten, die den offenen Brief an den amerikanischen Präsidenten unterschrieben haben? Diese Beispiele zeigen, dass institutionelle Schritte allein nicht weiterhelfen. In der Irak-Frage haben Deutschland und Frankreich nicht nur ihre Rolle als europäischer Motor verspielt; sie haben im Gegenteil die sicherheitspolitische Spaltung Europas gefördert17 – unabhängig davon, ob man die Verwendung der Begriffe „altes“ Europa gegen „neues“ Europa für angebracht hält oder nicht. Ein Motor, der niemanden antreibt, hat seine Funktion verloren.

Mehr als an probaten Institutionen mangelt es der ESVP an gemeinsamem politischen Willen. Die Irak-Krise könnte sogar als Ursache dafür gewertet werden, dass alle institutionellen Verbesserungen im Bereich der GASP infolge einer „Realitätsüberprüfung“ als „Wolkenkuckucksheim“18 angesehen werden. Eine gemeinsame Außenvertretung der EU, z.B. im UN-Sicherheitsrat, scheint derzeit völlig unrealistisch.

Erwartungen

Es steht zu befürchten, dass der europäische Verfassungsentwurf hinter den Erwartungen der Öffentlichkeit und der Experten zurückbleibt. Sollte die Europäische Union in Zukunft durch einen gewählten Ratspräsidenten nach außen einheitlich vertreten werden, wäre dies natürlich sehr zu begrüßen. Aber diese institutionelle Reform bleibt Makulatur, solange die Mehrheitsentscheidungen nicht auf weitere Gebiete ausgedehnt, die Kommission und das EP nicht in ihren Kompetenzen gestärkt und die ESVP nicht schlagkräftiger gemacht werden. So wichtig eine eigene Rechtspersönlichkeit und der bisherige „Acquis“ auch sind: noch muss der Konvent beweisen, dass er mehr als kosmetische Korrekturen an den bestehenden Verträgen vornehmen will.

Schon munkelt man, dass der Konvent seine Arbeiten nicht wie geplant zum Sommer 2003 abschließen wird und die entscheidende Regierungskonferenz nicht, wie geplant, auf dem Europäischen Rat in Rom im Dezember 2003 zum Abschluss kommt, sondern möglicherweise erst unter irischer Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2004. Da kann man dann nur hoffen, dass das geteilte Irland und ein „Vertrag von Dublin“ nicht zum negativen Präjudiz einer Spaltung Europas werden.

Anmerkungen

1  Vgl. Vorentwurf des Vertrags über eine Verfassung für Europa, Brüssel, 28.10.2002, abgedruckt in: Internationale Politik (IP), 1/2003, S. 87 ff.

2  Vgl. Entwurf der Artikel 1 bis 16 des Verfassungsvertrags, CONV 528/03, 6.2.2003; Entwurf der Artikel 24 bis 33 des Verfassungsvertrags, CONV 571/03, 26.2.2003; über: <http://register.consilium.eu.int&gt;.

3  Text abrufbar über: <http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/eu_politik/aktuelles/zukunft/ konvent/bm_beitraege_html>.

4  Vgl. beispielsweise die Kritik des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands vom 25.2.2003.

5  Vgl. dazu den britischen Außenminister, Jack Straw, in: The Financial Times, 15.5.2002 sowie die Rede des spanischen Ministerpräsidenten, José Maria Aznar, am 20.5.2002 in Oxford, <http://www.info-spanischebot schaft.de/doku/r21.htm>.

6  Vgl. a.a.O. (Anm. 3).

7  Vgl. dazu die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 21./22.6.2002 in Sevilla, in Auszügen abgedruckt in: IP, 8/2002, S. 92 ff.; hier S. 99 f.

8  Beitrag von Pierre Lequiller zum Europäischen Konvent, Ein Präsident für Europa, <http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/ cv00/00320d2.pdf>.

9  Vgl. z.B. das Memorandum der Benelux-Staaten, Prise de position des Premiers et des Ministres des affaires étrangères suite à la Contribution franco-allemande à la Convention, Brüssel, 21.2.2003, <http://euro pa.eu.int/futurum/documents/contrib/cont210103_fr.pdf>.

10Vgl. dazu den Beitrag des polnischen Konventsmitglieds Danuta Hübner, Effective Management in the enlarged European Union, CONV 550/03 (Annex), 19.2.2003, <http://register.consilium.eu.int/pdf/en/03/cv00/cv00550en03.pdf&gt;.

11Zu den im Konvent diskutierten Vorschlägen vgl. Der Konvent muss die Ratsreform differenziert angehen – Präsidenten und Vorsitzende allein sind keine Lösung, Internationale Politikanalyse der Arbeitsgruppe Europäische Integration der Friedrich-Ebert-Stiftung, Arbeitspapier Nr. 14 Berlin, Januar 2003, und Andreas Maurer, Auf dem Weg zur Staatenkammer. Die Reform des Ministerrats der EU, Berlin (Stiftung Wissenschaft und Politik), Februar 2003, S. 23 ff.

12Vgl. Abschlusserklärung des 4. Britisch-Spanischen Gipfels vom 28.2.2003 in Madrid zu den Institutionen der Europäischen Union, <http://www.ukinspain.com/News/UKinSpain_News_detail. asp?IdNews=400>.

13Zu den Diskussionen über Kommission und Entscheidungsmechanismen/Mehrheitsentscheidungen vgl. Schlussbericht der Gruppe IX „Vereinfachung“, CONV 424/02, 29.11.2002, <http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00424d2.pdf&gt;.

14Vgl. gemeinsame Pressekonferenz von Staatspräsident Jacques Chirac, Premierminister Lionel Jospin und Außenminister Hubert Védrine im Anschluss an das EU-Gipfeltreffen in Laeken am 15.12.2001, <http://www.ambafrance-de.org/aktuellprog/478pdf.pdf&gt;.

15Vgl. gemeinsame deutsch-französische Vorschläge für den Europäischen Konvent zum Bereich Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, vorgelegt vom französischen Außenminister, Dominique de Villepin, und vom deutschen Außenminister, Joschka Fischer, Mitglieder des Konvents, Brüssel, 22.11.2002, in: IP, 3/2003, S. 103 ff.

16Vgl. Vertrag von Nizza, Art. 27b und 27c sowie 43a und 43g EUV-N.

17Vgl. François Heisbourg, Irak: la montée des enchères, in: Le Monde, 28.2.2003.

18Vgl. André Glucksmann, Paris und Berlin leben im Wolkenkuckucksheim, in: Die Welt, 25.2.2003.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2003, S. 41 - 48

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