Gegen den Strich

03. Jan. 2018

Europa

Fünf Thesen auf dem Prüfstand

Der Brexit-Schock hat in der EU ein politisches und ideelles Vakuum hinterlassen; ein Vakuum, das Kommissionspräsident Juncker und Frankreichs Präsident Macron auf der einen, Ungarns Premierminister Orbán auf der anderen Seite zu füllen suchen. Damit muss man sich auseinandersetzen, zuerst aber mit einigen Illusionen aufräumen.

Vielleicht meint Brexit doch nicht Brexit?

Oh doch. Die Psychoanalytikerin Elisabeth Kübler-Ross unterscheidet fünf Phasen des Sterbens, die man auch auf den Tod von Liebesverhältnissen und Träumen anwenden kann: Nicht-Wahrhaben-Wollen; Zorn und Ärger; Verhandeln; Depression; Akzeptanz. Viele Kontinentaleuropäer verharren noch in der ersten und zweiten Phase. Man schaut auf die Krise der Regierung Theresa May und sieht da­rin Vorboten einer Umkehr in der britischen Politik. Jedoch sind die Ursachen für die Schwäche der Regierung hausgemacht. Und setzt bloß nicht auf die Labour Party. Sollte May stürzen und Neuwahlen einen Labour-Sieg bringen, so würde das nichts am Brexit ändern. Oppositionsführer Jeremy Corbyn sieht in der EU einen neoliberalen Club, dem er noch nie angehören wollte. Keine Partei will ein zweites Referendum.

Auch diejenigen, die jetzt auf einen Zerfall des Königreichs und einen Beitritt Schottlands und vielleicht Nordirlands zur EU wetten, befinden sich im Irrtum. Die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, verwandtschaftlichen und gewohnheitsmäßigen Bindungen zwischen den Nationen des Vereinigten Königreichs sind viel stärker als jene zwischen den Schotten oder Iren und dem „Kontinent“. Nordiren haben ohnehin Anspruch auf die Staatsbürgerschaft der Republik Irland, die ja in der EU verbleibt, ohne auf ihren britischen Pass zu verzichten. Die Schotten wiederum, deren Exporte zu 63 Prozent in den Rest des Vereinigten Königreichs gehen, aber nur zu 16 Prozent in die kontinentale EU, werden kaum eine EU-Außengrenze südlich von Edinburgh goutieren. Ganz davon abgesehen, dass Schottland von großzügigen Zuwendungen aus London profitiert, die von der EU kaum wettgemacht werden könnten.

Die EU selbst wird einem Zerfall des Königreichs nicht das Wort reden. EU-Mitglieder wie Spanien und Italien, die selbst mit starken regionalen Sezessionsbewegungen zu tun haben, aber auch Frankreich, das solche Bewegungen fürchtet, und das immer vom Zerfall bedrohte Belgien dürften wenig geneigt sein, hier einen Präzedenzfall zu schaffen. Katalonien ist ein Menetekel.

Die Briten müssen zumindest bestraft werden, pour encourager les autres

Au contraire. Zwar befinden sich die Brexit-Verhandlungsführer der EU in der Phase des Zorns und Ärgers, stellen unrealistische Geldforderungen und tun so, als könne es keinen gemeinsamen Markt ohne freie Bewegung von Personen geben, was Unsinn ist. Doch am Ende muss die EU mit Großbritannien mehr als einen Modus Vivendi finden. Es geht um eine privilegierte Partnerschaft, die möglichst attraktiv sein sollte, damit sie auch Ländern wie der Türkei, der Ukraine, Georgien und künftig vielleicht Weißrussland, ja Russland selbst angeboten werden kann. Weder darf Großbritannien dafür bestraft werden, dass es von einer im EU-Verfassungsvertrag vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch macht, noch ist Schadenfreude über die daraus folgenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten angebracht. Vielmehr gilt es, die Beziehungen Londons einerseits in die Anglosphäre, andererseits nach Afrika und Asien auszunutzen und die Kooperation mit britischen Firmen auszubauen.

Vor fünf Jahren hat Deutschland die Fusion von EADS und British ­Aerospace torpediert und damit die Entstehung des weltweit größten Rüstungs-, Luft- und Raumfahrtkonzerns als europäisches Projekt verhindert. Eine der größten Dummheiten der an Dummheiten nicht armen schwarz-gelben Koalition. Wie auch immer der künftige Brexit-Vertrag aussieht: Fusionen über den Kanal hinweg sollten gefördert werden, ebenso wie die enge Kooperation mit Großbritannien in den Vereinten Nationen, der NATO, der OECD, dem Europarat und anderen bestehenden und noch zu schaffenden supranationalen Organisationen. Möglichst viele gemeinsame Projekte sollten weiterhin für Großbritannien offenbleiben, von Europol bis Erasmus. Man sollte über eine europäische Staatsbürgerschaft nachdenken, die auf Antrag von britischen Bürgern erworben werden kann, die in Europa studieren, arbeiten und leben wollen. Auf diese Weise kann Europa die Phase der Depression möglichst schnell hinter sich bringen und lernen, den Tod der Illusion eines Großbritanniens „im Herzen Europas“, wie es Tony Blair formulierte, anzunehmen.

Ohne die Briten kann endlich ernst gemacht ­werden mit „Mehr Europa“

Im Gegenteil. Ohne die Briten werden die tiefen Risse in der Union erst recht deutlich. Nachdem er im März 2017 „fünf Szenarien“ für die Zukunft der EU vorgelegt hatte, machte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im September klar, dass er nur ein Szenario befürwortet: „Mehr Europa“. Dazu gehören die beschleunigte Aufnahme neuer Mitglieder in die Euro-Zone, auch mit Hilfe neuer finanzieller Instrumente; die Ausdehnung der Bankenunion auf alle EU-Mitglieder; die Erweiterung der Schengen-Zone; die Reform der Entsenderichtlinie, um Lohnkonkurrenz zu verhindern; die Verabschiedung einheitlicher Sozialstandards; die Schaffung eines europäischen Finanzministers, der zugleich Vizepräsident der Kommission sein sollte; die Verschmelzung der Ämter von Rats- und Kommissionspräsident und schließlich die Einführung des Mehrheitsprinzips bei Entscheidungen im Rat über Unternehmens- und Mehrwertsteuersätze. Überdies sollte bis 2025 eine Europäische Verteidigungsunion entstehen.

Weniger Tage später – am 26. September – schlug Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron bei einer Rede in der Sorbonne ähnliche Töne an. Macron forderte nicht weniger als eine „Neugründung Europas“. Hatte Juncker die Verteidigungsunion eher als Postskriptum genannt, forderte Macron gleich zu Beginn die Schaffung eines gemeinsamen Verteidigungshaushalts, ­einer Militärdoktrin, einer Eingreiftruppe und einer Nachrichtenakademie. Außerdem forderte er ein gemeinsames Asyl-, Migrations- und Grenzregime, die Sicherung europäischer Autarkie in der Ernährung, die Förderung von Schlüsseltechnologien und -industrien, eine Konvergenz der Steuer- und Sozialmodelle, einen europäischen Mindestlohn sowie einen eigenen Haushalt der Euro-Zone mit einem Solidaritätsfonds für Krisenfälle.

Zwischen den Reden Junckers und Macrons jedoch – am 16. Februar – hielt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán eine Rede vor der „Föderation christlicher Intellektueller“ in Budapest. Dort entwarf er ein ganz anderes Europa-Bild. „Wir wollen ein christliches Ungarn in einem christlichen Europa“, sagte Orbán. Der wichtigste Gegensatz innerhalb der EU sei der zwischen Einwanderungsländern und jener Gruppe von Ländern, die „noch nicht Einwanderungsländer geworden sind und nie Einwanderungsländer werden wollen“. Gemeint war die Visegrad-Gruppe: Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen.

Orbáns Ideen stoßen jedoch auch in den Ländern des Baltikums und des Balkans auf Widerhall. Die Länder mit „Mischbevölkerungen“ seien, so Orbán, die größte Bedrohung für die europäischen Werte. Denn „die zum Ausgleich für den demografischen Niedergang hereingeholten“ Muslime würden diese Werte nicht respektieren. Verantwortlich für den Niedergang Europas sei die selbstmörderische Ideologie des internationalen Liberalismus. Ein angebliches Programm der Westler zur Verwandlung der „widerspenstigen mitteleuropäischen Länder“ in Staaten mit mehrheitlich nichtchristlicher Bevölkerung bezeichnet Orbáns als „Soros-Plan“. Finde man nicht zu einer Koexistenz innerhalb der EU zwischen Einwanderungsländern und Nichteinwanderungsländern, könne es zur Spaltung Europas, ja zur Katastrophe kommen.

Es ist absurd, wenn Juncker und Macron so tun, als gebe es diesen Gegensatz nicht, diesen Kampf der Werte, wie Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik kürzlich bei einer Konferenz der DGAP sagte. In der Tat ist der Liberalismus die Leitkultur der Europäischen Union. So viel er auch der jüdischen und christlichen Tradition verdanken mag, am Ende ist er unvereinbar mit einem Europa, das, wie Orbán fordert, „der Souveränität und der christlichen Soziallehre“ verpflichtet wäre. Es ist bezeichnend, dass Orbán den Begriff Koexistenz verwendet, um das Verhältnis zwischen den „Einwanderungsländern“ Westeuropas einerseits und den „Nichteinwanderungsländern“ Osteuropas andererseits zu charakterisieren. Der Begriff wurde ja von Lenin erfunden, um das Verhältnis von kommunistischen und kapitalistischen Ländern – von Ländern mit unvereinbaren Gesellschaftssystemen – zu kennzeichnen. Und wenn Martin Schulz die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa bis 2025 fordert, dann lebt er offensichtlich auf einem anderen Kontinent als Viktor Orbán.

Wenn Osteuropa bei Flüchtlingen unsolidarisch ist, kann es keine Solidarität von uns erwarten

Das ist eine einfältige Haltung. Und überdies imperialistisch. Sie wird scheitern. In seiner Rede vor den christlichen Intellektuellen kritisierte Orbán die Haltung Deutschlands und Österreichs gegenüber der ungarischen Grenzschließung im Herbst 2015 als imperialistisch und arrogant. Man mag dieses Urteil für ungerecht halten. Schließlich hat Angela Merkel nicht zuletzt deshalb Deutschlands Grenzen geöffnet, weil die Situation im Hauptbahnhof von Budapest, wo Tausende Flüchtlinge kampierten, unhaltbar geworden war. Aber Orbán gibt einem Ressentiment Ausdruck, das im östlichen Erweiterungsgebiet der EU, die Kommissionspräsident José Manuel Barroso einmal selbst als „Imperium“ bezeichnete, ziemlich verbreitet ist, und nicht ohne Grund.

Erinnern wir uns, wie Frankreichs damaliger Staatspräsident Jacques Chirac den Polen sagte, sie sollten in Sachen Irak-Krieg „den Mund halten“; wie Gerhard Schröder den deutschen Arbeitsmarkt sieben Jahre lang für Polen sperrte; wie Angela Merkel den polnischen Wunsch nach einer gerechteren Stimmenverteilung im Europäischen Rat abbürstete. Denken wir an deutsche Energiedeals mit Russland über die Köpfe der Osteuropäer hinweg. An Subventionen für westeuropäische Agrarkonzerne, während die Bauern in Osteuropa fast leer ausgingen. An Auflagen für die osteuropäische Industrie, etwa in Sachen Umwelt oder Produktqualität, die ihre Wettbewerbsvorteile ebenso zunichtemachten wie der Kampf der Westeuropäer gegen niedrige Steuern und Löhne im Osten.

Wirtschaftsreformen – hauptsächlich Personallabbau – wurden im Osten mit Brachialgewalt durchgesetzt, Griechenland und Spanien hingegen bekamen billiges Geld, um die Folgen des Staatsbankrotts abzufedern. Und so weiter und so fort. All das ist keine Entschuldigung für den Rassismus, erklärt aber, wieso Orbán seinem Rassismus den Mantel des Kampfes gegen die imperiale Arroganz der international-liberalen „Westler“ umhängen kann.

Und tatsächlich ist der Rassismus, der Kampf gegen die Einwanderung, der einzige Punkt, an dem der Widerstand gegen das Imperium aussichtsreich ist. Wirtschaftlich konnte der Osten dem Westen nicht das Wasser reichen. Politisch konnten die Osteuropäer lange keine gemeinsamen Positionen entwickeln. Kulturell dominierten die Amerikaner und Westeuropäer, während sich Osteuropäer als Straßenmusiker in den westlichen Metropolen wiederfanden. Das Ressentiment, das dem „Wessi“ in der ehemaligen DDR entgegenschlägt, muss man sich in Osteuropa potenziert vorstellen, um ein Phänomen wie Orbán und die Visegrad-Gruppe zu erklären. Der Versuch Merkels, eine Quotenregelung für Flüchtlinge per Mehrheitsbeschluss im Rat durchzudrücken, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sollte man nun versuchen, diesem Beschluss mit Sanktionen Wirksamkeit zu verschaffen, riskierte man den Bruch der EU. Das Gerede von Solidarität trifft in Osteuropa auf höhnisches Gelächter. Ratspräsident Donald Tusk hat das inzwischen erkannt.

Wie auch in Teilen Südeuropas vermischen sich antikapitalistische, sozialistische, konservative, nationalistische, antisemitische, antiamerikanische und antideutsche Stimmungen zu einem explosiven Gebräu. Nur vordergründig geht es um die Flüchtlinge. Im Grunde geht es um den Liberalismus, der vor 1989 nirgendwo in Osteuropa eine starke Bewegung gewesen ist. Und man darf nicht vergessen, dass auch in Westeuropa, im Herzen des Imperiums, der Populismus stark geworden ist. Nicht zufällig begann die AfD in Deutschland als nationalliberale Bewegung gegen den Euro, so wie Orbán seine Karriere als Nationalliberaler begann.

Also ist der europäische Traum tot?

Nein. Tot sind aber die Illusionen der Westeuropäer. Jetzt ist nicht die Zeit, wie es einige Unentwegte tun, ein „Europa der Bürger“ zu fordern, in dem das Europäische Parlament die oberste Autorität hätte. Es ist denkbar, dass im Parlament bald die Vertreter der Intoleranz die Mehrheit haben. Gerade angesichts der illiberalen Welle sind die westeuropäischen Nationalstaaten mit ihrer politischen Kultur ein Hort des Widerstands und der liberalen Vernunft.

Jetzt ist schon gar nicht die Zeit, wie es Macron fordert, eine gemeinsame Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungspolitik zu forcieren. Die Union würde daran zerbrechen, wie die USA im 19. Jahrhundert an der Frage der Sklaverei. Und im Hintergrund warten Russland und China mit ihren Vorstellungen einer Eurasischen Union oder der Neuen Seidenstraße und ihrer Förderung autoritärer, nationalistischer und rassistischer Kräfte. Auch eine Vereinheitlichung der Steuer- und Sozialsysteme, die Einbindung möglichst vieler Länder Ost- und Südeuropas in den Euro unter der Ägide eines dem Wirtschaftsliberalismus verpflichteten Finanzministers und was dergleichen Verwestlichungsträume mehr sind, können ein Europa nicht voranbringen, das sich auch nur halbwegs in dem von Orbán entworfenen Bild wiedererkennt.

Die föderalistische Illusion ist erledigt. Europa muss den umgekehrten Weg gehen: Es muss sich auf einen Wettbewerb der Werte einlassen zwischen illiberaler und liberaler Demokratie, was ja auch bedeutet, den ungarischen Weg zu akzeptieren, in der Zuversicht, dass er sich auf Dauer weder als attraktiv noch als erfolgreich erweisen wird. Darüber hinaus muss Europa vor allem Projekte in Angriff nehmen, die es nach außen stärken und für seine Mitglieder unverzichtbar machen.

Dazu gehören: Die Sicherheits- und Verteidigungsunion, die – fast hinter dem Rücken der deutschen Öffentlichkeit, die auf die Jamaika-Sondierungsgespräche stierte – am 13. November 2017 auf den Weg gebracht wurde. Ein historischer Tag, wie Noch-Außenminister Sigmar Gabriel bei der Unterzeichnung des Vertrags zur „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ der 23 teilnehmenden Staaten meinte. Der Ausbau der Grenzagentur Frontex. Die Zusammenarbeit in der Terrorabwehr. Eine Energieunion, die Europa unabhängig macht von russischem Gas und Osteuropa stattdessen an den Westen bindet. Die Wiederbelebung der Mittelmeerunion, um die Flüchtlingskrise zu meistern und Rechtsstaatlichkeit im arabischen Raum zu fördern. Und ja, auch eine europäische Einlagensicherung sowie Eurobonds, damit das Wort ­Solidarität etwas von seinem schlechten Beigeschmack verliert. Das wäre nicht wenig. Vermutlich mehr, als der deutsche „Steuerzahlerohnemichel“ zu schultern bereit ist. Doch dann soll er sich bitte nicht wundern, wenn Europa um ihn herum zerfällt.

Alan Posener ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der WELT-Gruppe.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar-Februar 2018, S. 80 - 85

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