In 80 Phrasen um die Welt

26. Juni 2023

„Es droht eine Eskalation“



Nicht die westlichen Waffenlieferungen haben das Eskalationsrisiko zwischen den Großmächten erhöht – auch wenn die russische Propaganda das suggeriert.

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Bild: Illustration eines Spruckbandes das die Erde umkreist
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Mit jeder neuen Waffengattung, deren Lieferung von den Unterstützern der Ukraine angekündigt wird, bekommt der Begriff in Deutschland Konjunktur. So war es, als es um alte NVA-Haubitzen ging, um FLAK-Panzer, Panzerhaubitzen, Kampfpanzer, und auch zuletzt bei den Kampfjets. Das Verdachtsmuster bleibt gleich: Reizen westliche Waffenlieferungen Russland zur Eskalation?


Eskalation ist das Angstwort schlechthin in der deutschen Kriegsdebatte. Es steht für die Furcht vor dem Einsatz taktischer nuklearer Waffen, und am Ende vor dem Atomkrieg der Großmächte über die Köpfe der Deutschen hinweg.

Auffällig ist, dass der Begriff selten benutzt wird, um die anlasslose Gewalt­eskalation der russischen Armee zu beschreiben, in deren Gefolge Städte wie Mariupol und Bachmut dem Erdboden gleichgemacht wurden. In der deutschen Debatte steigt das Eskalationsrisiko erst, wenn der Ukraine neue Waffen zur Verfügung gestellt werden. Offenbar fällt auch nach 15 Monaten Krieg der Gedanke schwer, dass Putins Angriff nicht provoziert wurde, dass er einer eigenen Logik folgt. Die Steigerungslogik des russischen Vernichtungsfeldzugs lässt sich nicht aus der Ferne mikromanagen, indem man der Ukraine bestimmte Waffen verweigert.

Mehr noch, die deutsche Eskalationsdebatte lenkt von einer unbequemen Erkenntnis ab: Auch Zögerlichkeit und Ambivalenz können eskalatorisch wirken – wenn die Gegenseite diese Haltung als Signal versteht, risikolos die Intensität ihrer Angriffe steigern zu können. Vielleicht ist das die bitterste Erkenntnis für die deutsche Außenpolitik: die kriegstreiberische Wirkung jener „Kultur der Zurückhaltung“, auf die man so stolz war, wenn man es mit einem Gegner wie Putin zu tun hat.

Das Konzept der Eskalation und das davon abgeleitete Wort der Eskalationsdominanz sind unverzichtbare analytische Mittel der Konfliktforschung. Sie beschreiben, was geschieht, wenn eine Seite der anderen gewaltsam ihren Willen aufzuzwingen versucht und jene darauf reagiert. Die Grundannahme lautet: Wer über den Grad der Verschärfung des militärischen Konflikts bestimmen kann, ist im Vorteil. Er kann dem Gegner sein Kalkül aufzwingen, ihn vom Einsatz seiner Mittel abschrecken, ihn niederwerfen. Ohne Eskalationsfähigkeit (und -bereitschaft) keine Abschreckung. Es stimmt nicht, wenn selbsternannte „Realisten“ behaupten, Russland habe in diesem Konflikt die „Eskalationsdominanz“. Die wechselseitige nukleare Abschreckung funktioniert, das Gleichgewicht des Schreckens bleibt bestehen.

Nicht die westlichen Waffenlieferungen haben das Eskalationsrisiko zwischen den Großmächten erhöht (auch wenn die russische Propaganda das suggeriert). Verteidigungsminister Boris Pistorius wurde Ende Mai zu möglichen Lieferungen westlicher Kampfjets befragt: Er sehe „kein Eskalationsrisiko an der Stelle“, antwortete er trocken.

So nötig die Abwägung bleibt: Die Nachrüstung der Ukraine dient dem Zweck, die russische Eskalation gegen die Ukraine zu stoppen. Sie ist also ihrem Wesen nach anti-eskalatorisch. Es wäre kein geringes Verdienst des Verteidigungsministers, wenn sich dieser Gedanke auch in Deutschland langsam durchsetzte.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2023, S. 15

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Jörg Lau ist außenpolitischer Korrespondent für die ZEIT in Berlin und Kolumnist der „80 Phrasen“.

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