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01. Juli 2002

Eine „neue“ Nuklearstrategie der USA?

Die Nuclear Posture Review

Die Aufregung über eine mögliche Senkung der nuklearen Hemmschwelle, die in der neuesten Einschätzung des Pentagons zum Ausdruck komme, halten die Autoren für unbegründet. Es handele sich hierbei nicht um einen Paradigmenwechsel von der nuklearen Abschreckungsdoktrin zu einer Mischung aus nuklearer Abrüstung, Raketenabwehrschirm und moderner konventioneller Kriegführung.

Seit einigen Monaten ist ein vertrauliches amerikanisches Regierungsdokument in jedermanns Mund, von dem die meisten Deutschen zuvor noch nie gehört hatten: die Nuclear Posture Review (NPR). Dieses Papier wird von vielen deutschen Kommentatoren mittlerweile als letzter Beweis dafür angesehen, dass die Bush-Regierung den Griff zur globalen Vorherrschaft wage. Den Vogel schoss das Hamburger Wochenmagazin Der Spiegel ab: Rudolf Augstein persönlich attestierte dem amerikanischen Präsidenten er sei „hirnrissig“ und betreibe eine Politik der Hochrüstung, zustimmend wurde der britische Historiker Eric Hobsbawm zitiert, der sich zu der Behauptung verstieg, „die USA wollen die Weltherrschaft.“1

Begründet wird diese Kritik mit einem angeblich in der NPR enthaltenen Passus, der die Entwicklung neuer taktischer Kernwaffen vorsehe, die zur Zerstörung von Massenvernichtungswaffen in tief im Erdreich gelagerten Bunkeranlagen eingesetzt werden könnten. Damit würden Kernwaffen nicht mehr ausschließlich als Instrument der Abschreckung verstanden, sondern ihr „normaler“ Einsatz in zukünftigen Krisen erwogen. Die NPR, so wird behauptet, markiere damit einen Schwenk in Richtung einer Nuklearisierung der amerikanischen Militärstrategie und ein Abwenden vom Ziel der nuklearen Abrüstung.2

Eine nüchterne Analyse der NPR zeigt jedoch, dass vor voreiligen Schlüssen über die Richtung der amerikanischen Politik und vor allem über die Rolle von Kernwaffen gewarnt werden muss. Viele Vertreter der deutschen Diskussion um die Zukunft der Nuklearstrategie sind leider immer noch zu stark den strategischen Konzepten aus der Zeit des Kalten Krieges verhaftet. Dieses Schicksal teilen sie mit weiten Teilen der amerikanischen „liberal arms control community“, die geradezu gebetsmühlenartig mit alten Konzepten auf die Politik der Bush-Regierung reagieren.

Die NPR ist Ausdruck eines seit dem Ende des Ost-West-Konflikts einsetzenden, tief greifenden Wandels der amerikanischen Militär- und damit auch der Nuklearstrategie, deren Konturen sich immer deutlicher abzeichnen. Dieser Wandel trägt der veränderten Bedrohungssituation und der ordnungspolitischen Rolle der USA Rechnung. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat eine bedeutende Verschiebung der potenziellen Gegner der USA sowie der diesen Gegnern zur Verfügung stehenden militärischen Mittel stattgefunden. Gemeint sind regionale „Schurkenstaaten“ im Besitz von ballistischen Raketen, deren Gefechtsköpfe sie mit Massenvernichtungswaffen (MVW) bestücken können. Die in der NPR formulierte amerikanische Nuklearstrategie richtet sich demnach auf regional zu verortende Bedrohungen aus.

Die in Deutschland und Teilen der liberalen amerikanischen Debatte aufgeworfene Kritik an der NPR macht sich an einer angeblichen Senkung der „nuklearen Hemmschwelle“ fest. In diesem Zusammenhang wird die These aufgestellt, es hätte in den USA ein jahrzehntelanges Tabu gegen den Einsatz von Kernwaffen gegeben. Dieses Tabu werde gebrochen, weil über konkrete Einsatzoptionen für Kernwaffen nachgedacht werde. Wer die mit den frühen fünfziger Jahren einsetzende Debatte über die amerikanische Nuklearstrategie studiert hat, kann derartige Behauptungen eigentlich nur mit Unverständnis quittieren. Konkrete Einsatzpläne für den Einsatz von Kernwaffen im Krisenfall hat es während des Kalten Krieges immer gegeben. Spätestens seit dem Übergang zur Strategie der massiven Vergeltung (1954) haben Kernwaffen in der amerikanischen Militärstrategie bezüglich eines europäischen Kriegsschauplatzes – und nicht nur dort – eine überragende Rolle gespielt.3

Dass die NPR neben China und Russland auch die „Schurkenstaaten“ als mögliche Ziele für Atomwaffen nennt, bedeutet nur, dass diesen von den amerikanischen Militärplanern eine mögliche Rolle zur Abschreckung von biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen zugebilligt wird. Dies ist jedoch in erster Linie als deutliches Warnsignal an diese Staaten zu deuten. Vielmehr lässt die Kritik an der NPR völlig unberücksichtigt, dass Kernwaffen für die USA zwar immer noch eine wichtige militärische Kapazität darstellen, diese jedoch insgesamt an Bedeutung verloren haben und auch weiterhin verlieren werden.

Dieses festzustellen bedeutet nicht, dass die NPR kritiklos zur Kenntnis zu nehmen ist. Wichtig ist jedoch, die Bewertungsmaßstäbe richtig zu setzen. Man kann nicht eine fiktive Vorstellung über die angebliche Tabuisierung von Kernwaffen in früheren Zeiten als Maßstab nehmen, sondern muss die tatsächliche Bedeutung von Kernwaffen und deren Veränderungen zum Ausgangspunkt nehmen. Daher ist die Kritik an der NPR in erster Linie im Zusammenhang mit früheren Veränderungen der Nuklearstrategie zu sehen und muss an der politischen Rhetorik der Bush-Regierung gemessen werden. Diese hatte angekündigt, die Doktrin der gegenseitig gesicherten nuklearen Zerstörungsfähigkeit (mutual assured destruction – MAD) zwischen den USA und Russland aufzugeben und zu so etwas zu gelangen wie einer Doktrin gegenseitig gesicherter Sicherheit, bei der es zu massiven Reduzierungen von Kernwaffen kommen soll. Die NPR weist in diese Richtung, nur viel verhaltener als ursprünglich von Präsident George W. Bush in Aussicht gestellt. Es bleibt doch beim nuklearen „Overkill“ – wenngleich auf einer niedrigeren Ebene.

Aufgabe und Ergebnisse der NPR

Die NPR, was oft in der Diskussion ausgeblendet wird, ist kein militärischer Einsatzplan, sondern ein konzeptionelles Strategiepapier. Der amerikanische Kongress hatte die Bush-Regierung vor einem Jahr beauftragt, bis Ende Dezember 2001 ein derartiges Papier vorzulegen. Verfasst wurde es vom Pentagon in Zusammenarbeit mit dem Energieministerium. Diejenigen, die bislang für die Herstellung, den Unterhalt und die Einsatzplanung von Kernwaffen in den USA zuständig gewesen sind, erklären, wie sie sich die zukünftige Rolle von Kernwaffen in der amerikanischen Strategie und Streitkräfteplanung vorstellen. Damit wird schnell deutlich, dass die NPR in nicht unbedeutendem Maße als „militärische Wunschliste“ der beteiligten Ministerien gewertet werden kann.4 Es ist somit kurzsichtig, davon auszugehen, die Empfehlungen der NPR würden automatisch in politische Entscheidungen umgesetzt.

Die letzte NPR war 1993 unter der Clinton-Regierung angefertigt worden. Wie damals spiegelt die NPR 2002 die eher konservative Haltung des nuklearen Establishments der USA wider. Dennoch markiert sie einen graduellen Wandel in Richtung auf eine Marginalisierung von Kernwaffen in der amerikanischen Militärdoktrin, der stärker ausgeprägt ist als noch in der NPR von 1993. Diese Marginalisierung ist in der strategischen Literatur wiederholt herausgestellt worden und dürfte der wesentlichste Trend sein, der langfristig die Perspektive einer Reduzierung von Kernwaffen eröffnet.5

Die Ergebnisse der NPR sind nicht in voller Länge veröffentlicht worden. Das Pentagon gab hierzu am 9. Januar 2002 eine Pressekonferenz; Wortlaut und begleitende Grafiken sind auf der Webseite des Pentagons einsehbar: <www.defenselink.mil&gt;. Im März 2002 überraschte dann die Los Angeles Times mit Auszügen aus dem Originaltext, die von Kritikern sofort als Beweis für ihre Behauptungen über eine Senkung der Nuklearschwelle angeführt wurden.6 Schaut man sich die vorhandenen Dokumente an und koppelt man sie mit der breiteren strategischen Debatte in den USA, wird es aber möglich, ein differenzierteres Bild von der NPR zu entwerfen.

Die Ergebnisse der NPR lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:

–US-Militärplaner wollen sich in ihren Eventualplanungen über mögliche Abschreckung durch Kernwaffen nicht länger auf die immer unwahrscheinlicher werdende Möglichkeit einer Konfrontation mit Russland abstützen, sondern neue, existenzielle Gefährdungen amerikanischer und westlicher Sicherheit einbeziehen.

–Des Weiteren wird eine Herabstufung der Rolle von Kernwaffen im Vergleich zu anderen Waffen vorgenommen.

–Drittens sieht die NPR eine deutliche unilaterale Verringerung der operativ einsetzbaren strategischen Nuklearsprengköpfe vor.

–Viertens schließt die NPR explizit die Einführung neuer Kernwaffen in die Arsenale aus, regt aber an, die Möglichkeiten der Modernisierung von bunkerbrechenden Waffen zu überprüfen.

Bedrohungen durch asymmetrische Kriegführung

Die NPR wird dafür kritisiert, dass sie mögliche Einsätze nuklearer Waffen gegen Russland und China sowie gegen „Schurkenstaaten“ vorsehe. Tatsächlich haben sich die USA wiederholt dazu verpflichtet, keine Kernwaffen gegen Staaten einzusetzen, die weder solche besitzen noch mit einer Atommacht verbündet sind.7 Es gibt allerdings keinen ernst zu nehmenden Hinweis darauf, dass sich das Militär für die Aufhebung dieser Beschränkungen ausspricht. Was die NPR aber beinhaltet – und alles andere wäre Augenwischerei –, ist die Berücksichtigung der Tatsache, dass es eine Reihe von Staaten gibt, die nicht nur regionale Störenfriede sind, sondern auch das Potenzial haben, überregional  den Frieden zu gefährden und die nachweislich ihre Verpflichtungen unter dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag oder unter der Biowaffenkonvention gebrochen haben. Dies sind auch diejenigen, die sich massiv um Raketenwaffen mittlerer und größerer Reichweite bemühen (insbesondere Irak, Nordkorea und Iran). Durch den Besitz von Raketen und MVW versuchen sie, ihre gegenüber den westlichen Staaten bestehende Unterlegenheit im konventionellen militärischen Bereich zu kompensieren.

Diese Staaten sind bereits mittelfristig eine strategische Herausforderung für die USA und für Europa und könnten Bedrohungen von solch existenzieller Natur aufbauen, dass unter Umständen der Einsatz nuklearer Abschreckungsmittel gegen sie ins Auge gefasst werden müsste. Dieses ist schon länger Zeit Gegenstand der politischen und strategischen Debatte in den USA (wie auch in Frankreich oder Großbritannien) und geht über Parteiengrenzen hinweg. Die Politik der kalkulierten Unklarheit (strategic ambiguity) wird auch unter der gegenwärtigen Bush-Regierung beibehalten, wie der Sprecher des amerikanischen Außenministeriums, Richard Boucher, Ende Februar dieses Jahres verkündete.8

Neue strategische Triade

Die viel entscheidendere Frage ist, unter welchen Bedingungen die USA den Einsatz von Kernwaffen denn tatsächlich in Betracht ziehen könnten. Dies ist sowohl eine Frage der politisch-strategischen Einsatzdoktrin als auch eine der tatsächlichen Vorbereitungen im Sinne von strategischer Planung.

Was die politisch-strategische Einsatzdoktrin betrifft, so ist es seit dem Ende des Kalten Krieges Politik, den Einsatz von Kernwaffen unter zwei Bedingungen ins Auge zu fassen. Zum einen als „weapons of last resort“, um potenzielle Gegner von dem Einsatz atomarer Waffen abzuschrecken. Zum andern wurde bereits unter Präsident Clinton darüber nachgedacht, Kernwaffen zur Abschreckung eines Einsatzes biologischer oder auch chemischer Waffen einzusetzen, sollten diese als Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden und damit die Qualität von Kernwaffen erreichen. Die breit gefächerte Nutzung von Kernwaffen als mögliches Instrument taktischer Kriegführung, so wie sie während des Kalten Krieges unter der Not der Verhältnisse unabdingbar war, ist hingegen vorbei. Nichts in der NPR deutet darauf hin, dass alte Konzepte taktischer nuklearer Kriegführung wiederbelebt werden sollen.

Was die Frage der militärischen Planungen betrifft, so hat sich die neue Einsatzdoktrin darin niedergeschlagen, dass schon in der Regierung von George Bush senior taktische Kernwaffen weitgehend aus den Arsenalen der Streitkräfte herausgezogen wurden. Auch die strategischen Waffen wurden reduziert, wenngleich weniger radikal. Die Abwehr strategischer Risiken, d.h. von schwerwiegenden Bedrohungen der USA oder ihrer Streitkräfte, blieb für viele Jahre hingegen einzig auf die abschreckende Wirkung der amerikanischen strategischen Kernwaffenarsenale beschränkt, die aus einer strategischen Triade aus land-, luft- und seegestützten Systemen bestehen. In der NPR wird vorgeschlagen, dass sich die USA bei der Abwehr strategischer Bedrohungen weniger auf die abschreckende Wirkung von Kernwaffen verlassen, sondern vielmehr auf ihre konventionellen Streitkräfte und auf Raketenabwehr setzen. Nun soll es eine neue Triade geben, bestehend aus 1. offensiven nuklearen Kräften, 2. konventionellen Streitkräften sowie 3. defensiven Raketenabwehrsystemen. Sie soll mit einer technologischen Infrastruktur versehen werden, die zur Vernetzung der offensiven und defensiven Kapazitäten führen soll. Wie man daraus den Schluss ziehen kann, die USA beabsichtigen, Kernwaffen eine stärkere Rolle zukommen zu lassen und insbesondere die Hemmschwelle für nukleare Einsätze zu senken, bleibt rätselhaft.

Reduzierung der strategischen Arsenale

Eines der herausragenden Ergebnisse der NPR ist die vorgeschlagene Reduzierung der operativ einsetzbaren strategischen Gefechtsköpfe um mehr als zwei Drittel. Diese Reduzierung ist eine Fortsetzung der seit Ende des Kalten Krieges einsetzenden quantitativen und qualitativen Verringerung des amerikanischen strategischen Nukleararsenals. Zum Ende des Ost-West-Konflikts verfügten die beiden Supermächte mit mehr als 12000 strategischen Nuklearsprengköpfen auf jeder Seite über eine „overkill capacity“, d.h. die Fähigkeit, sich in mehreren Schüben vollständig auszulöschen. Der von George Bush senior mit Michail Gorbatschow geschlossene START-I-Vertrag von 1991 reduzierte dieses Arsenal bis Dezember 2001 auf beiden Seiten auf 6000, eine weitere Reduzierung auf 3000 bis 3500 wurde im Januar 1993 noch von der damaligen Bush-Regierung mit Russland vereinbart. Zu dieser Reduzierung ist es nicht gekommen, weil sich der Ratifikationsprozess des START-II-Vertrags sowie dessen formale Umsetzung als unendlich kompliziert und Zeit raubend erwiesen haben.

Die NPR schlägt unilaterale Reduzierungen auf 1700 bis 2200 nukleare Sprengköpfe vor, die auch ohne langwierige Abrüstungsverhandlungen mit Moskau vorzunehmen seien. Die dabei zu reduzierenden Sprengköpfe sollten dann in eine Art strategische Reserve genommen werden, die ihre Wiederbenutzung – allerdings erst nach einiger Zeit – erlauben würde. Dieser Vorschlag ist bezüglich der Anzahl der verfügbaren strategischen Sprengköpfe nicht nur in Regierungspolitik umgesetzt worden, er wurde auch Grundlage entsprechender Verhandlungen mit Moskau. Auf ihrem Gipfeltreffen am 24. Mai 2002 haben die USA und Russland einen neuen Abrüstungsvertrag unterzeichnet. Bei maximaler strategischer Flexibilität verpflichten sich beide Seiten, bis 2012 über nicht mehr als 2200 einsatzbereite strategische Gefechtsköpfe zu verfügen.9

In diesem Bereich liegen jedoch die größten Schwächen der NPR, und hier besteht der größte Bedarf für eine Änderung der dort niedergelegten Positionen. Präsident Bush hat während seines ersten Amtsjahrs mehrmals betont, das Zeitalter einer neuen russisch-amerikanischen strategischen Partnerschaft sei angebrochen. Russland, so der Präsident, sei kein Feind mehr. Dementsprechend könne die während des Kalten Krieges entwickelte Strategie der gegenseitig gesicherten Zerstörung (MAD) umgewandelt werden in eine Strategie der gegenseitig gesicherten Sicherheit (mutual assured security – MAS), bei der strategische Angriffsarsenale keine, strategische Verteidigungsmittel jedoch eine große Rolle spielen sollten.

Doch ein radikaler Wandel von MAD zu MAS ist mit den Zielsetzungen des NPR und der angekündigten Reduzierung auf 1700 bis 2200 strategische Gefechtsköpfe nicht verbunden. Was hier vorgeschlagen wird, ist MAD auf niedrigerer Ebene. Auch ist die Zahl von 1700 bis 2200 Systemen keinesfalls wirklich „historisch“, wie von Präsident Bush angekündigt. Tatsächlich bewegt sie sich in dem von Clinton und Jelzin 1997 ausgehandelten Rahmen von 2000 bis 2500 einsetzbaren Sprengköpfen. Die niedrigere Zahl wird in erster Linie durch eine Änderung der Zählweise erreicht. Frühere Regierungen, ob Demokraten oder Republikaner, zählten alle die strategischen Gefechtsköpfe, die als Arsenal dem operativen Bestand zugeordnet wurden, selbst wenn diese gerade überholt oder inspiziert wurden und damit nicht einsatzbereit waren. Die Regierung Bush zählt jedoch nur die tatsächlich einsatzbereiten Gefechtsköpfe (operationally deployed warheads). Da fortlaufend Waffensysteme überprüft werden, die mit rund 400 strategischen Gefechtsköpfen bestückt sind, ist das von Bush anvisierte Ziel von 1700 bis 2200 tatsächlich im Bereich der START-III-Planungen der Vorgängerregierung.10

Auch bleibt die Zielausrichtung der strategischen Nuklearstreitkräfte (targeting philosophy) in der NPR unverändert. Diese sind im so genannten Single Integrated Operation Plan (SIOP) festgelegt. Der SIOP erfasst gegenwärtig 2500 Ziele. Davon sind rund 2000 in Russland, 300 bis 400 in China und 100 bis 200 in weiteren Ländern. Das von Bush festgelegte Ziel, MAD in MAS umzuwandeln, ist mit einer solchen Strategie nicht zu erreichen.

Keine neuen Kernwaffen

Die NPR spricht sich explizit gegen die Einführung neuer Kernwaffen aus. Es wird lediglich die Empfehlung ausgesprochen, einen bestimmten Typus bunkerbrechender Waffen (für den es auch früher einzelne nukleare Sprengköpfe gab) zu modernisieren. Diese recht allgemein gehaltene Empfehlung zur Modifizierung taktischer Nuklearwaffen ist das Ergebnis der beunruhigenden Entwicklung, dass einige der Schurkenstaaten ihre Arsenale an MVW zunehmend in unterirdische Bunkeranlagen verlagern. Sie ist, wie der stellvertretende Verteidigungsminister, J.D. Crouch, bestätigte, noch nicht einmal eine Empfehlung, sondern lediglich eine Idee.11

Selbst wenn diese Idee Realität werden würde, wäre damit keinesfalls eine Senkung der nuklearen Hemmschwelle verbunden. Vielmehr ist die Idee einer Modernisierung bereits vorhandener taktischer „Bunkerknacker“ oder „mini-nukes“ die erforderliche Modifizierung des amerikanischen Abschreckungsarsenals in Vorausnahme möglicher neuer, existenzieller Risiken. Denn nukleare Abschreckung – im Sinne der „weapons of last resort“ – hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die USA über ein glaubwürdiges Nukleararsenal verfügen. Einen Schurkenstaat mit nuklearen Interkontinentalraketen abzuschrecken wäre auf Grund der Unverhältnismäßigkeit der Mittel und der weiterhin in Demokratien existierenden hohen Hemmschwellen gegen den Einsatz dieser Waffen keine glaubwürdige politische Handlungsoption für den amerikanischen Präsidenten. Von Kritikern verschwiegen bleibt auch die Tatsache, dass die NPR empfiehlt, die Entwicklung nichtnuklearer „Bunkerknacker“ in Form von konventionellen Präzisionswaffen voranzutreiben.12

Stabilere Sicherheit

Die NPR ist Ausdruck der Ungewissheit der amerikanischen Militärplaner über die Zukunft, auch wenn der in der NPR vor- und von Bush auch eingeschlagene Weg einer deutlichen Reduzierung der strategischen Kernwaffenarsenale ein wichtiger Schritt ist. Der seit Anfang der neunziger Jahre einsetzende Wandel in der amerikanischen Nuklearstrategie und -streitkräftestruktur wird durch die NPR nicht rückgängig gemacht.

Entscheidend bleibt, was Präsident Bush mit diesem Bericht macht, denn die Empfehlungen der NPR werden nicht automatisch in politische Entscheidungen umgesetzt. Bush hat vorgegeben, dass er einen strategischen Paradigmenwechsel will: weg von der gesicherten gegenseitigen nuklearen Zerstörung (dem nuklearen overkill) und hin zu einer neuen Form strategischer Stabilität, bei der nicht die gegenseitige Androhung der nuklearen Zerstörung den Frieden sichern soll, sondern wo aus einer Kombination einschneidender Reduzierungen von strategischen Kernwaffen, der Einführung strategischer Defensivsysteme und einer stärkeren Betonung moderner konventioneller Mittel der Kriegführung eine neue und stabilere Form der Sicherheit resultieren soll. Entscheidend ist also, wie Bush damit umgeht, dass die NPR ihm in genau diesem Punkt nicht folgt, sondern MAD auf niedrigerer Ebene herstellen will.

Die Regierung Bush hat sich somit selbst eine hohe Messlatte gelegt; auf diese sollte sich die deutsche Debatte konzentrieren.

Anmerkungen

1  Vgl. „Den Knüppel herausgeholt“ in: Der Spiegel, Nr. 12, 18.3.2002, S. 134–140, das Editorial „Der Weltgendarm“ von Rudolf Augstein, ebd., S. 136 sowie „Die USA wollen die Weltherrschaft,“ Spiegel-Gespräch mit dem britischen Historiker Eric Hobsbawm, ebd., S. 142–149.

2  Vgl. Klaus-Dieter Schwarz, Die imperiale Abschreckung, SWP-Aktuell, 16.5.2002 (Stiftung Wissenschaft und Politik – Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit), S. 6.; Presseerklärung der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) vom 21.3.2002 zur Nuclear Posture Review der Bush-Regierung vom Januar 2002. Eine gegenteilige Position vertritt Karl-Heinz Kamp, Ein „Geheimer Atomplan“ der USA? Hintergrundinformationen zum „Nuclear Posture Review“, Arbeitspapier Nr. 62/2002, herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sankt Augustin, März 2002, S. 4.

3 Auf die umfangreiche Literatur zur US-Nuklearstrategie während des Kalten Krieges kann hier nur allgemein hingewiesen werden, zur Einführung sei empfohlen Lawrence Freedman, The Evolution of Nuclear Strategy, New York: St. Martin’s Press 1989; Friedrich Korkisch, Die Nuklearstrategie der USA, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, 21. Jg. Heft 3 und 4/1983, S. 217–222 und 312–320; Klaus-Dieter Schwarz, Amerikanische Militärstrategie 1945–1978, in: ders. (Hrsg.), Sicherheitspolitik, Bad Honnef 1978, S. 345–373.

4 Vgl. Kamp, a.a.O. (Anm. 2), S. 4.

5 Vgl. hierzu u.a. Lawrence Freedman, Nuclear Weapons – From Marginalisation to Elimination?, in: Survival, Jg. 39, Heft 1/1997, S. 184–189.

6  Vgl. Paul Richter, U.S. Works Up Plan for Using Nuclear Arms; Military: Administration, in a secret report, calls for a strategy against at least seven nations: China, Russia, Iraq, Iran, North Korea, Libya and Syria, in: The Los Angeles Times, 9.3.2002; William Arkin, Nuclear Warfare; Secret Plan Outlines the Unthinkable, in: The Los Angeles Times, 10.3.2002.

7  Vgl. Joachim Krause, Strukturwandel der Nichtverbreitungspolitik. München 1998, S. 287–291.

8  Vgl. <http://www.armscontrol.org/factsheets/negsec.asp&gt;.

9  Siehe den Text des amerikanisch-russischen Vertrags über Atomwaffen unter: <http://usinfo.state.gov/topical/pol/arms/02052441.htm&gt;.

10 Vgl. Ivo H. Daalder, James M. Lindsay, A New Agenda on Nuclear Weapons, Brookings Policy Brief, Nr. 94, Februar 2002, in: <http://www.brook.edu/comm/policybriefs/pb94.htm&gt;.

11 Vgl. Walter Pincus, U.S. Aims for 3,800 Nuclear Warheads. Cold War Strategy Is Being Replaced, in: Washington Post, 10.1.2002.

12 Vgl. Andrew F. Krepinevich, The Real Problems With Our Nuclear Posture, in: New York Times, 14.3.2002 (online version), <http://www.nytimes.com/2002/03/14/opinion/14KREP.html&gt;.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2002, S. 35 - 42.

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