Eingezäunte Freiheit
Ein Schlagbaum. Davor bewaffnete Sicherheitsleute, die den Fahrer auffordern, den Ausweis und eine Bescheinigung über eine gültige Kfz-Versicherung vorzuzeigen. Ein Wachmann macht Fotos, ein anderer öffnet den Kofferraum. Erst als er die Klappe schließt und nickt, öffnet sich der rot-weiße Schlagbaum. Der Weg in das eingezäunte Privatviertel ist frei. Solche Viertel werden in Argentinien „Countries“ genannt, als wären sie eigene Länder. In denen alle in Einfamilienhäusern wohnen, die Kinder auf der Straße Rollschuh fahren, die Fenster nicht vergittert sind. Auf den ersten Blick ähneln die Straßen in diesen Vierteln den besseren Vororten in München oder Hamburg.
Country Clubs gibt es in Argenti-nien schon lange – doch seit den neunziger Jahren, seit die Regierung von Carlos Saúl Menem privatisierte, wo es nur ging, sind sie groß in Mode gekommen, besonders im Speckgürtel von Buenos Aires. Der Staat erfüllt einige seiner Grundfunktionen nicht mehr oder hat sie gar an private Firmen abgetreten. Wer kann, erkauft sich Gesundheit, Bildung, ein ruhiges Leben. Versucht, den Bildern der Armut aus dem Weg zu gehen, die auf den Straßen der Innenstadt allgegenwärtig geworden sind. Man zäunt sich ein, um sich frei zu fühlen. Der Erlanger Geografie-Professor Georg Glasze nennt solche Privatviertel „Enklaven des Wohlbefindens“.
Mein jüngster Besuch in einem „Country“ galt der Schriftstellerin Claudia Piñeiro, die in einem der Privatviertel wohnt und deren Bücher Bestseller sind – besonders jene, die in abgeschotteten Vierteln spielen. „Die Argentinier haben darauf gewartet, dass jemand den Vorhang zur Seite zieht“, sagt Piñeiro. Es mag eine Mischung aus Neugier und Schadenfreude sein, mit der die Argentinier ihre Kriminalromane lesen. Denn wenn in einem Country jemand ausgeraubt wird, hat das Mitleid Grenzen. Dabei sind die Privatviertel längst keine Sache der Superreichen mehr, es gibt auch welche für die Mittelklasse. Allein in der Provinz Buenos Aires gibt es etwa 600 „Countries“. Und der Bauboom hält an.
Hinter dem Schlagbaum eröffnet sich eine neue Welt. Friedlich sieht sie aus, Kinder spielen auf der Straße, das Auto muss warten. Doch die eingezäunte Welt hat ihre eigenen Gesetze: Die Wäsche darf nicht draußen aufgehängt werden. Zäune zwischen den Häusern sind nicht erlaubt. Tempo 30 gilt auf allen Straßen, wer von einer der Radarfallen geblitzt wird, muss Strafe zahlen – nicht an die -Verkehrsbehörden, sondern an die Country-Verwaltung. Hausangestellte, Gärtner und Handwerker müssen polizeiliche Führungszeugnisse vorzeigen, um im Viertel arbeiten zu dürfen. Sie stehen Schlange, an einem Extra-Eingang. Ihre Taschen werden gefilzt – morgens beim Eintritt in die Privatwelt, abends, wenn sie sie verlassen. Und diejenigen, die die Taschen filzen, sind vermutlich genauso unterbezahlt wie jene, die den Inhalt vorzeigen müssen.
Die „Countries“ sind ein Sinnbild für die Spaltung der Gesellschaft. Wer hier wohnt, dessen Kinder gehen auf eine Privatschule, der lässt sich im Notfall in ein privates Krankenhaus einliefern. In manchen „Countries“ gibt es deshalb Schulen, Ärzte, Einkaufsmöglichkeiten oder Kinos gleich innerhalb der Mauern und Zäune.
Schere statt Integration
Es ist ein abgeschottetes Leben, mit dem sich die Bewohner die Illusion des sozialen Friedens erkaufen. Aber kann man es ihnen wirklich verübeln? Suchen sie nicht einfach eine Um-gebung, in der die Kinder alleine draußen spielen können? In der sie auch nachts mal um den Block laufen können, ohne Angst zu haben?
Auch wenn diese Bedürfnisse nachvollziehbar sind, ist klar: Für eine Gesellschaft sind solche individuellen Modelle eine Gefahr. Zäune sind die Illusion einer schnellen Lösung – Schere statt Integration. Buenos Aires ist eine Megacity mit bald 14 Millionen Einwohnern. Mit immer mehr Autos, Geschäftshäusern und wachsenden Armenvierteln.
Inzwischen beschäftigen sich Soziologen damit, wie Kinder, die in einem „Country“ aufgewachsen sind, später in der Gesellschaft klarkommen. Ihre These: Einige Kinder fühlen sich nur „drinnen“ wohl, die Welt „draußen“ ist eine Bedrohung. Sie haben nicht einmal gelernt, mit der U-Bahn zu fahren.
Ironie des Schicksals: Der Nimbus der Sicherheit in den „Countries“ ist inzwischen angekratzt. Es gab in den vergangenen Jahren vermehrt Einbrüche und Geiselnahmen in den Privatvierteln. Und immer wieder finden dort Schwerverbrecher Unterschlupf. Denn der Schlagbaum gilt auch für die Polizei, es sei denn, die Beamten haben einen Durchsuchungsbefehl. Zuletzt wurde der kolumbianische Drogenboss „Mi Sangre“ in einem eingezäunten Viertel verhaftet. „Vielleicht sollten sie auch von denen, die in den Vierteln wohnen, Führungszeugnisse verlangen und nicht nur von den Angestellten“, scherzte Frau Piñeiro im Interview bitter.
Am Ende des Besuchs bin ich froh, den Schlagbaum hinter mir zu lassen.
Karen Naundorf berichtet als Korrespondentin des weltreporter-Netzwerks aus Südamerika.
Internationale Politik 2, März/April 2013, S. 128-129