In 80 Phrasen um die Welt

26. Febr. 2024

Eingefrorener Konflikt

Über einen Begriff, der die aggressive Strategie einer imperialen Macht beschönigt, die ihre Einflusszone durch Einschüchterung ausdehnt.

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Bild: Illustration eines Spruckbandes das die Erde umkreist
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Je schwieriger die militärische Lage der Ukraine wird, um so häufiger trifft man auf die Vorstellung, der Konflikt ließe sich, wenn nicht lösen, so doch vielleicht einfrieren. 

Als „eingefrorene Konflikte“ wurden Zustände des Nichtfriedens bezeichnet, die sich an den Rändern des russischen Imperiums nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gebildet hatten – etwa in Berg-Karabach, Südossetien, Abchasien und Transnistrien. Konflikte um nationale Selbstbestimmung – zwischen prorussischen Minderheiten und sich von Moskau lösenden Nationalstaaten – waren dort nicht mit endgültigen Kompromissen und Friedensverträgen beendet, sondern stillgestellt worden. 

Russland verfolgte eine Doppelstrategie, um solche „frozen conflicts“ zu produzieren. Man unterstützte Separatisten mit Waffenlieferungen, Militärberatern und irregulären Kämpfern, um anschließend mit „Friedenstruppen“ Waffenstillstände im eigenen Interesse durchzusetzen. Das gewünschte Ergebnis waren schwache Staaten mit fragilen Grenzen an den Rändern der beanspruchten russischen Gebiete. 

Auch in der Ostukraine ging Russland nach diesem bewährten Rezept vor. Als Reaktion auf die demokratische Revolution des Euromaidan Ende 2013 stachelte man im Donbass Separatisten auf, sogenannte „Volksrepubliken“ in Donezk und Luhansk zu proklamieren. Russland schickte Geld, Waffen, Agenten und irreguläre Truppen (später auch reguläre Soldaten). Inszenierte Volksabstimmungen sollten den entstandenen Gebilden eine Anmutung von Legitimität verleihen. 

In den Minsker Abkommen von 2014 und 2015 versuchten Deutschland und Frankreich, den Konflikt entlang der Waffenstillstandslinie einzufrieren. Angela Merkel und François Hollande akzeptierten Russland – obwohl eindeutig Konfliktpartei – als „Vermittler“ zwischen ukrainischer Regierung und Separatisten. Ein Zugeständnis, in dem das Scheitern von „Minsk“ schon angelegt war. Der Waffenstillstand wurde denn auch nie eingehalten, und geschätzt 14 000 Menschen fielen zwischen 2015 und 2022 Russlands unerklärtem Krieg zum Opfer. Im Februar 2022 zeigte sich, dass Putin aus dem Entgegenkommen von Minsk geschlossen hatte, bei einer erneuten Invasion mit keinem nennenswerten Widerstand rechnen zu müssen. 

Zwei Jahre später befindet sich die Ukraine im Stellungskrieg mit den russischen Invasoren. Ungeachtet der Minsker Erfahrungen greift im Westen erneut die Vorstellung um sich, den Konflikt lieber stillzustellen als auszufechten. Die Rufe nach Waffenstillstand, Verhandlungen, „diplomatischen Lösungen“ und „territorialen Zugeständnissen“ laufen auf eine Wiederholung des gescheiterten Paradigmas hinaus. 

Dabei ist die Lehre des vergangenen Jahrzehnts eindeutig: Der Vorteil des Einfrierens von Konflikten liegt immer bei der Seite, die langfristig an Instabilität interessiert ist, unklare Grenzen bevorzugt und im Zweifel bereit steht, die provisorische Ordnung gewaltsam über den Haufen zu werfen. Der Begriff des „eingefrorenen Konflikts“ beschönigt die aggressive Strategie einer imperialen Macht, die ihre Einflusszone durch Einschüchterung ausdehnt. Er passt nicht zu einer Außenpolitik, die sich dem Recht verpflichtet weiß.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2024, S. 15

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Jörg Lau

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Jörg Lau ist außenpolitischer Korrespondent für die ZEIT 
in Berlin und Kolumnist der „80 Phrasen“.

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