Eine mutigere Außenpolitik ist möglich
Die Ampelkoalition deckt ein breites ideologisches Spektrum ab. Genau darin liegt eine Chance, insbesondere für die Kernaufgabe: eine neue China-Politik.
Seit mindestens einem Jahrzehnt hört man diesen Generalbass in der außenpolitischen Debatte: Deutschland stehe vor riesigen Herausforderungen in einer gefährlichen, unübersichtlichen Welt. Die Mittel aber seien defizitär, die Ambitionen zu klein, die Ergebnisse entsprechend enttäuschend. Es folgen Rezepte zur Korrektur der strategischen Haltungsschwäche. Ich bekenne, mich nach Kräften selbst an diesem Diskurs beteiligt zu haben. Am Beginn einer neuen Ära in der deutschen Außenpolitik scheint mir ein Tonwechsel angebracht. Die Übellaunigkeit der Debatte steht eigenartig quer zum Ziel, eine weniger risikoscheue, aktivere Außenpolitik zu befördern. So wird das nichts.
Dabei stimmt es ja: Herausforderungen lauern überall. Schon ein oberflächlicher Ausblick lässt einige für das kommende Jahr erkennen. Joe Biden hat noch elf Monate bis zu den Zwischenwahlen, die ihn in eine lahme Ente verwandeln könnten. Der Verlust der knappen Mehrheiten im Kongress und eine zweite Trump-Kandidatur wären ein Desaster für die transatlantischen Beziehungen – und die liberale Demokratie weltweit. Bei den französischen Präsidentschaftswahlen im Mai muss sich Emmanuel Macron gegen rechte und rechtsextreme Kandidaten durchsetzen, die auf antieuropäischen und antideutschen Tickets unterwegs sind. Schließlich: Lässt sich Polens schleichender Austritt aus der Rechtsgemeinschaft der EU noch aufhalten?
So ist die Lage: Drei zentrale Partner Deutschlands drohen auf antiliberale Abwege zu geraten. Drei gute Gründe für die nächste Regierung, aktiv zu werden. Die größte Herausforderung der Zukunft ist zweifellos der geopolitische Systemkonflikt zwischen Demokratie und Autoritarismus, vertreten durch (aber nicht beschränkt auf) die USA und China. Das schwierigste Problem der Gegenwart stellt sich in der Krise des europäischen Zusammenhalts, im Konflikt mit Polen und Ungarn um die Rechtsstaatlichkeit. Und über all dem hängt die unbewältigte Vergangenheit des Interventionismus, für die das Debakel in Afghanistan steht.
Niemand nennt die Sache beim Namen: Deutschland hat zusammen mit seinen Verbündeten einen Krieg verloren. Der Abzug aus Afghanistan, die Flucht vor den Taliban, war demütigend. Eine große Mehrheit des außenpolitischen Establishments hat diesen Einsatz lange noch verteidigt, als er bereits gescheitert war. Bei allen künftigen Diskussionen über internationale Einsätze wird das eine Rolle spielen müssen.
Keine Spur von Defätismus
Allerdings schlägt die Ernüchterung nach dem Rückzug aus Afghanistan in der breiten Öffentlichkeit interessanterweise eben nicht in Defätismus um. Offenbar hat sich das Bewusstsein durchgesetzt, dass die Bundesrepublik sich auch künftig nicht aus den Konflikten der Welt heraushalten kann. Breite Mehrheiten unterstützen weiterhin den Einsatz der Bundeswehr außerhalb der Bündnisverteidigung, wie eine IP-Umfrage ergab: bei Evakuierungsoperationen (75 Prozent), bei Blauhelmmissionen (63 Prozent), zur Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit (59 Prozent). 14 Prozent sind gegen Auslandseinsätze, wobei der Wert von Anhängern der SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU sogar bei nur 5 bis 8 Prozent liegt. Das ist angesichts des Fehlschlags in Afghanistan erstaunlich. Die oft zu hörende Behauptung, „die Deutschen“ wünschten sich ihr Land als eine „große Schweiz“, ist falsch.
Die in solchen Behauptungen zum Ausdruck kommende Haltung ist vielleicht selbst ein Teil des Problems. Wer die These von der Unlust der Deutschen an globaler Verantwortung verbreitet, suggeriert, man könne über „heikle Themen“, besonders wenn sie mit Militär und Machtpolitik zusammenhängen, leider nicht offen sprechen. Eine solche Haltung entzieht der Außenpolitik die demokratische Legitimation. Die jedoch wird in einer neuen, komplizierteren politischen Konstellation so dringend gebraucht wie noch nie.
Die behauptete Aversion des Publikums gegen alles, was mit Geopolitik, Strategie und Interessen zu tun hat, hat zum Debakel in Afghanistan mit beigetragen. Denn es reichte aus dieser Sicht ja nicht, die Beteiligung am Krieg mit dem deutschen Interesse am Kampf gegen den Al-Kaida-Terrorismus zu begründen. Die Intervention wurde darum auch von deutscher Seite mit vielen löblichen Zielen aufgeladen – Demokratie, Frauenrechte, Staatsaufbau, Ertüchtigung der Streitkräfte.
Das Nicht-Erreichen dieser Ziele, angesichts der aufgewandten Mittel eigentlich absehbar, führte schließlich zum Eindruck eines totalen Scheiterns der Afghanistan-Missionen. Das Ergebnis dieser Fehlsteuerung zeigt sich nun im Unwillen einer Mehrheit, das Militär noch einmal zur Ausbildung fremder Streitkräfte einzusetzen – nur 39 Prozent der im Auftrag der IP Befragten wären dafür.
Man kann die Zahlen der Umfrage aber auch so deuten: Wir wissen, dass es auch nach dem Ende des Interventionismus weiterhin militärisches Eingreifen geben wird, aber wir machen uns keine Illusionen über dessen Beitrag zur internationalen Ordnung. Wir hätten künftig gern klar definierte, erreichbare Ziele.
Der Interventionismus ist vorbei, die Interventionen werden weitergehen. Das ist eigentlich ein kluges Urteil. Und eine gute Gelegenheit, sich von der schwarzen Pädagogik im außenpolitischen Diskurs zu verabschieden, die das Publikum zugleich belehrt und bedroht. Chinas Aufstieg, Amerikas Schwäche, Russlands Irrlichtern, der Zerfall der EU – solche Gefahren werden gern aufgerufen, um ultimativ Maßnahme X, Y oder Z zu begründen, die nun ergriffen werden müsste. Das ist eine Art des Debattierens, die sicher nicht die allseits gewünschte neue strategische Kultur befördert, weil sie Alternativlosigkeit behauptet.
Der Amtsantritt einer neuen Regierung bietet eine Chance zum Stilwechsel. Statt bereitliegende außen- und sicherheitspolitische Forderungskataloge auf sie loszulassen, könnte man einmal versuchen, von den neuen Möglichkeiten her zu denken, die diese Konstellation vielleicht eröffnet.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich der Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik immer mehr ins Kanzleramt verlagert. Der Prozess hat zu Zeiten von Helmut Kohl begonnen, unter Gerhard Schröder Fahrt aufgenommen und in der beinahe schon präsidialen Endphase Angela Merkels einen Höhepunkt gefunden. Der schleichende Bedeutungsverlust der jeweiligen Außenminister von Joschka Fischer über Frank-Walter Steinmeier, Guido Westerwelle und Sigmar Gabriel bis zu Heiko Maas ist die Kehrseite dieser Entwicklung. Der Posten des Außenministers hat erkennbar an Attraktivität verloren. In den Koalitionsverhandlungen war nicht mehr das Außenamt die begehrte Trophäe des zweitstärksten Partners, sondern das Finanzministerium.
Man mag diese Entwicklung beklagen, aber sie lässt sich nicht einfach umkehren. Denn Deutschlands wachsende Bedeutung hat die Zentralisierung der Außenpolitik im Kanzleramt vorangetrieben. So paradox es klingt: Gerade die Aufwertung der deutschen Außenpolitik bewirkt die relative Abwertung des Auswärtigen Amtes im Regierungsgefüge.
Nun kommt aber eine andere Dynamik hinzu: In einer Dreierkoalition wird die Macht des Kanzlers relativ schwächer sein als in einer Koch-Kellner-Konstellation eines großen und eines kleineren Partners. Das könnte eine Chance bieten, die außenpolitische Unwucht der Kanzlerdemokratie auszugleichen und dem Parlament und dem Außenministerium Gestaltungsräume zurückzuerobern. Zumal mit der FDP und den Grünen zwei Partner mit von der Partie sind, die außenpolitische Ambitionen hegen und deutlich andere Akzente setzen als die Sozialdemokraten.
Mit der Bundestagswahl ist auf absehbare Zeit die Ära der Großen Koalitionen zu Ende. Gut so! Aber ironischerweise folgt auf diese für beide Partner ruinöse Partnerschaft nun eine noch größere Koalition. Die nächste Regierung wird „an even bigger tent“. Das wird Folgen auch für die deutsche Außenpolitik haben.
Die Ampel vereinigt politische Kräfte von linksradikal bis neoliberal. Hinzu kommt: Eine neue, ideologisch diverse Kohorte bevölkert nun den Bundestag: von klassisch links bei den zahlreichen neuen Jusos über „woke“ in der jungen Grünen-Kohorte bis hin zu Jungliberalen. Die meisten der Neuen sind zwar kaum außen- und sicherheitspolitisch vorgeprägt. Doch es könnte eine Chance darin liegen, dass die Mehrzahl eine erhöhte Aufmerksamkeit für Menschen- und Bürgerrechte mitbringt und diese Generation sich durch die Bank für globale Herausforderungen wie die Klimakrise interessiert. Die überkommenen Lager deutscher Debatten werden demgegenüber an Bedeutung verlieren. Das ist zu verschmerzen: Atlantiker gegen Anhänger europäischer Souveränität; Entspannungspolitiker gegen Interventionisten; Wertepolitik gegen Interessen – diese Unterscheidungen sind lange schon nicht mehr hilfreich.
Die neue Regierung wird ein breites ideologisches Spektrum repräsentieren. Dies hat zu erstaunlichen Neidbekundungen bei unseren Nachbarn geführt. Der Außenpolitikchef von Le Monde, Alain Salles, schrieb während der Koalitionsverhandlungen nur halb ironisch über das „demokratische Schlaraffenland“ Bundesrepublik: Politischer Streit ohne Beleidigungen, kein fremdenfeindlicher Überbietungswettbewerb, Verhandlungsfähigkeit zwischen ideologischen Gegnern – danach könne man sich in Frankreich nur noch sehnen.
Allerdings werden die beteiligten Parteien auf die verdeckten Widersprüche in der Außen- und Sicherheitspolitik gestoßen. Die SPD muss nun die Beschaffung bewaffneter Drohnen organisieren und die Fortsetzung der nuklearen Teilhabe durch Beschaffung des Tornado-Nachfolgesystems ermöglichen. Die sich proeuropäisch verstehende FDP erlebt, dass ihre strikten fiskalpolitischen Vorstellungen in weiten Teilen der EU als europafeindlich angesehen sind und reagiert darauf mit einer „Investitionsoffensive“ im Koalitionsvertrag. Die Grünen wollten Nord Stream 2 verhindern, nun werden sie die Röhre womöglich in Betrieb nehmen müssen, schon weil die SPD so viel politisches Kapital für dieses Projekt in der Ostsee versenkt hat – es sei denn, die Zertifizierung scheitert gesichtswahrend am EU-Recht.
Beim wichtigsten außenpolitischen Thema – der künftigen deutschen China-Politik – gibt es durch die neue Konstellation eine überraschende Chance. Hier eröffnet sich nach 16 Jahren Merkel die Möglichkeit zu einer überfälligen Korrektur. Dabei war Angela Merkel selbst einmal die Avantgarde in der europäischen China-Politik: Nur sechs Monate nach Amtsübernahme reiste sie nach Peking, zum ersten von einem Dutzend Besuchen. Sie kombinierte die Förderung deutscher Exportinteressen mit dem Engagement für Menschenrechte, empfing den Dalai Lama im Kanzleramt und setzte sich für den kranken Nobelpreisträger Liu Xiaobo ein. Dann kam die autoritäre Wende der chinesischen Führung, die ab 2012 unter Xi Jinping die totalitäre Kontrolle von Gesellschaft und Wirtschaft vorantrieb. Merkel aber passte ihre China-Politik nicht an. Die Unterdrückung in Hongkong und Xinjiang, die aggressive Politik gegenüber Taiwan, die Sanktionierung europäischer Parlamentarier und deutscher Thinktanks – nichts davon führte zur Revision der Formel „Wandel durch Handel“.
Am Ende markierte der vergebliche Versuch, das Investitionsabkommen CAI zwei Tage vor dem Ende des deutschen EU-Ratsvorsitzes (und kurz vor der Amtseinführung Joe Bidens) durchzupeitschen, das Scheitern der Merkel’schen China-Politik, die die neue Realität der Systemkonkurrenz schlicht ignoriert hatte.
Was nun? Vor der Bundestagswahl sind in den drei Ampelparteien erstaunliche Dokumente entstanden, von denen eine neue China-Politik zehren könnte. Erstmals hat China überhaupt in allen Wahlprogrammen eine prominente Rolle gespielt. Der Schwerpunkt der Debatte hat sich dabei deutlich weg von den Chancen und hin zu den Risiken verlagert. Es geht um eine Frage, die über die chinesische Herausforderung hinausgeht: wie umgehen mit autoritären Regimen? Und was darf es die Exportnation Deutschland kosten?
Im Sommer 2020 veröffentlichte die SPD-Bundestagsfraktion ein Positionspapier („Souverän, regelbasiert und transparent“), in dem ausführlich eine neue sozialdemokratische China-Politik formuliert wird. „Wo möglich öffnen, wo nötig schützen“, ist das Motto. Deutschland müsse in der EU darauf dringen, eine einheitliche Position zur Verletzung der Menschenrechte, zur Repression in Hongkong, zur Bedrohung Taiwans, zur Handels-, Umwelt- und Klimapolitik zu formulieren. Den Unterschied zur bisherigen Außenwirtschaftspolitik markiert ein Satz zur Frage, ob Huawei das 5G-Netz in Deutschland mitbauen soll: „Die Entscheidung, wer am Aufbau kritischer Infrastruktur beteiligt werden darf, ist für uns Sozialdemokrat*innen eine politische Frage, die von politisch legitimierten Entscheidungsträger*innen zu treffen ist.“ Übersetzt: Selbst wenn die 5G-Technik von Huawei technisch unbedenklich sein sollte, ist die entscheidende Frage, ob man einem derart staatsnahen Unternehmen – letztlich dem Pekinger Regime – politisch vertrauen kann.
Ampelpositionen in großer Detailtiefe
Die FDP-Fraktion forderte wenige Wochen später in einem Antrag im Bundestag, „die China-Politik neu zu justieren“. Der Ton ist ebenfalls äußerst kritisch, alle Streitpunkte werden ohne Umschweife benannt: Repression der Uiguren, das Sicherheitsgesetz in Hongkong, Expansion im Südchinesischen Meer, unfairer Handel, IT-Sicherheit. Die FDP verlangt, Europa müsse „für seine eigenen Werte einstehen, die EU sollte gegenüber China mit einer Stimme sprechen“. In der Taiwan-Frage wollen die Liberalen im Rahmen der Ein-China-Politik für die „stärkere Einbindung von Organisationen aus Taiwan auf transnationaler Ebene“ eintreten.
Vergangenen Sommer erschien dann ein weiteres bemerkenswertes Dokument: Neun Thesen von Grünen und FDP zum Umgang mit China, verfasst vom grünen EU-Parlamentarier Reinhard Bütikofer und dem liberalen Bundestagsabgeordneten Olaf in der Beek. Eine massive Kritik des „Wegduckens“ und der „geopolitischen Resignation“ aus Berlin, die „Peking kraftlos das Feld“ überlasse. Überraschend an diesen Positionierungen ist die Detailtiefe. Die China-Politik wird in allen Dimensionen durchdacht, als gleichzeitige Herausforderung auf dem Gebiet der Wirtschaft, des Militärs, der Technologie, der Menschenrechte und der internationalen Ordnung im Ganzen. Die China-Konzepte der Ampelparteien sind illusionslos und ambitioniert zugleich. Alle Parteien betonen, dass die notwendige Kurskorrektur nicht kostenfrei sein wird. Auch die Wirtschaftspartei FDP nimmt erstaunlich kühl Abschied von der Illusion der Win-win-Logik im geopolitischen Wettbewerb.
Der Koalitionsvertrag ließ die Vorarbeit der Fraktionen erkennen. Er fordert eine „umfassende China-Strategie“, eine „gemeinsame EU-China-Politik“, eine „enge transatlantische Abstimmung in der China-Politik“. In Peking wird es keine Freude auslösen, dass „die sachbezogene Teilnahme des demokratischen Taiwan in internationalen Organisationen“ nun deutsche Regierungslinie ist, ebenso wie die klare Thematisierung von „Chinas Menschenrechtsverletzungen, besonders in Xinjiang“. Solch deutliche Sprache hat es noch nie zuvor in einem Koalitionsvertrag gegeben. Taiwan kommt überhaupt zum ersten Mal in einem solchen Dokument vor.
Fasst man die China-Konzepte zusammen, ergibt sich etwa folgender Rahmen: Sich für die Menschenrechte einzusetzen, ist genauso eine Frage der Moral wie des Interesses. Der kurzfristige Profit deutscher Unternehmen wiegt nicht die langfristige Abhängigkeit auf, die durch Engagement in China entsteht. Dass China bei der Bekämpfung des Klimawandels gebraucht wird, ist kein Grund, Konflikte zu meiden. Die Schwäche der USA zwingt die Europäer zu größerer Eigenständigkeit. Zugleich böte eine aktivere China-Politik aber große Chancen zur transatlantischen Verständigung, als das letzte Thema, das sich in Washington der Polarisierung entzieht. Es gilt Abhängigkeiten zu reduzieren, Resilienz aufzubauen, Deutschlands Partner unterzuhaken – darin sind sich alle Ampelparteien einig.
Die neue Regierung wird an diesem Bekenntnis gemessen werden: Eine mutigere deutsche Außenpolitik ist möglich.
Jörg Lau ist Außenpolitischer Koordinator im Ressort Politik der ZEIT.
Internationale Politik Special, Ausgabe 02, Januar 2022, S. 13-18