Eine Lanze für liberale Interventionen
Warum wir das Prinzip der humanitären Einmischung nicht ad acta legen sollten
Gerade an die Linke richtet dieser Befürworter des Irak-Kriegs sein Plädoyer, sich nicht auf die bequeme, aber veraltete Position der Nichteinmischung zurückzuziehen. Gegen Unrecht global einzuschreiten und wehrlose Menschen vor brutaler Gewalt zu schützen, muss heute das oberste Gebot moralischer Politik sein. Die Frage ist nur: Wie?
Traditionell sind es eher Progressive als Konservative, die Interventionen im Namen von Menschenrechten und Demokratie verlangen. Es war die Linke, die in den dreißiger Jahren nach Spanien ging, um die republikanische Sache gegen Franco zu unterstützen. Und es waren Roosevelt und die Demokraten, die sich im Zweiten Weltkrieg dafür aussprachen, gegen die Opposition isolationistischer Republikaner der Allianz gegen den Faschismus beizutreten.
Doch nach dem Irak-Krieg sind es nun Teile der Linken, die sich von humanitären Interventionen abwenden und das Thema ausschließlich den Neokonservativen überlassen. Ich argumentiere, dass es ein schrecklicher Fehler wäre, den Internationalismus aufzugeben, der ein zentrales Theorem aller Progressiven ist. Wir sollten uns nicht vor mehr amerikanischem Abenteurertum fürchten, sondern davor, dass die einzige Supermacht der Welt sich in Isolationismus zurückzieht, wie sie es nach Vietnam getan hat. In der modernen Politik der globalisierten Welt verläuft die Haupttrennungslinie zwischen „offen“ und „abgeschottet“: Freihandel versus Protektionismus, Toleranz versus nationale Engstirnigkeit und Immigration, Engagement und Intervention versus Isolationismus. Progressive sollten in jedem Fall auf Seiten der Offenheit sein.
Für liberalen Interventionismus trat erstmals Tony Blair in einer Rede in Chicago 1998 ein, gehalten im Schatten des Kosovo-Kriegs. Es lohnt sich, diese Rede noch einmal anzuschauen. Sein Argument war, dass das im Westfälischen Frieden von 1648 etablierte Prinzip der Nichteinmischung veraltet sei. Die Religionskriege, die dieser Frieden beendet hatte, hatten dem Kontinent Europa unvorstellbare Verwüstung gebracht, als die Armeen hin- und hermarschierten und ihren Nachbarstaaten die Reformation oder die Gegenreformation aufzwingen wollten, bis beide Seiten in einer Pattsituation festsaßen. Um die Wiederholung solcher Ereignisse zu vermeiden, einigten sich die Herrscher Europas, dass Erbfolge- oder Territorialkriege zwar künftig noch genehmigt seien; aber Kriege, um der anderen Seite die eigenen Werte aufzuzwingen, waren fortan untersagt.
Das Prinzip der Nichteinmischung überdauerte die Zeitläufte und wurde von der Sowjetunion und anderen Staaten des Warschauer Paktes regelmäßig angeführt, als ich mit ihnen in den achtziger Jahren im Rahmen der KSZE verhandelte. Und wir im Westen nutzten es als Ausrede, um während des Ungarischen Aufstands 1956 und des Prager Frühlings 1968 untätig zu bleiben.
Ob das Prinzip jemals moralisch gerechtfertigt war oder nicht: In der heutigen veränderten Welt ist es nicht länger praktikabel. Die Ausrede des Kalten Krieges gibt es nicht mehr, und humanitäre Interventionen bringen nicht länger die Gefahr mit sich, die zwei nuklearen Supermächte in Richtung Armageddon zu treiben. Globalisierung hat nicht nur die Ökonomien transformiert, sondern auch die Politik: Die Welt ist kleiner geworden. In London sehen wir Al-Arabiya und Al-Dschasira, in Waziristan schaut man CNN und BBC World. Wir können unsere Industrien nicht mehr schützen, indem wir Handelshemmnisse aufbauen, ebenso wenig wie wir unsere Bürger mit besseren Grenzkontrollen vor Terroranschlägen bewahren können. Wenn wir teilnahmslos danebenstehen, wenn Menschen in anderen Ländern von ihren Herrschern brutal unterdrückt werden oder wenn Nationen in die Anarchie zerfallener Staaten zurücksinken, dann wird das Konsequenzen für unsere eigene innere Sicherheit haben. In einer globalisierten Welt sind die Orte, wo wir unsere Werte schützen müssen, nicht die Grenzen; wir schützen sie, indem wir dort einschreiten, wo unschuldige Opfer ungerecht behandelt werden. In seiner Chicagoer Rede schlug Blair nicht vor, in anderen Ländern einfach einzumarschieren. Er legte fünf Bedingungen fest für die Entscheidung, wann eine Intervention nötig ist. Diese Bedingungen gelten noch heute.
- Wir müssen uns unserer Sache sicher sein. Krieg ist ein sehr unvollkommenes Instrument, um Unrecht geradezurücken. Aber manchmal ist Gewalt die einzige Methode, um Diktaturen zu stürzen.
- Wir müssen alle diplomatischen Optionen ausschöpfen. Wir sollten immer dem Frieden jede Chance geben.
- Die militärischen Optionen, die wir haben, müssen praktisch und vernünftig sein. Kanonenboote nach Simbabwe zu schicken, macht keinen Sinn.
- Wir müssen uns auf langfristige Einsätze einstellen. Wir können über Ausstiegsszenarien reden, aber wir können nicht einfach weggehen, wenn der Kampf vorbei ist – ebenso wenig wie die Alliierten das in Deutschland nach dem Krieg getan haben.
- Nationale Interessen müssen berücksichtigt werden. Wir müssen unsere eigene Sicherheit voranbringen, indem wir die Rechte anderer in einer speziellen Situation beschützen.
In der Blair-Regierung haben wir diese Prinzipien bei vier verschiedenen Konflikten angewandt: im Kosovo 1998, um MiloäeviŤs brutale Unterdrückung der albanischen Minderheit zu stoppen. Die Clinton-Administration zögerte – nach der bitteren Erfahrung in Somalia – anfangs, Bodentruppen zu schicken; aber wir machten ihnen erfolgreich klar, dass es unmöglich sein würde, den Krieg aus der Luft zu gewinnen. Es gelang uns nicht, eine Resolution des UN-Sicherheitsrats zu bekommen, weil Russland mit einem Veto drohte. Aber niemand bezweifelte unseren Ansatz ernsthaft, da wir relativ schnell militärisch erfolgreich waren und weil uns viele europäische Staaten unterstützten.
In Sierra Leone, wo sich vor unseren Augen nach einem endlosen Bürgerkrieg eine humanitäre Katastrophe abspielte, intervenierten wir allein. Erneut widersprach niemand der theoretischen Begründung unseres Einsatzes, weil der so klein und von geringer strategischer Bedeutung war. Aber heute haben sowohl Sierra Leone als auch das benachbarte Liberia demokratische Regierungen – und die Menschen in diesem Teil Westafrikas können auf eine bessere Zukunft hoffen. In Afghanistan konnten wir nach der Tragödie von 9/11 eine Resolution des UN-Sicherheitsrats bekommen und eine große Koalition für die Militäraktion gegen die Taliban zusammenbringen. Dort ist die Frage heute, ob die internationale Gemeinschaft die Geduld für einen Langzeiteinsatz aufbringt; denn es wird ohne den Einsatz von Zeit und Geld und der Bereitschaft zu blutigen Opfern nicht zu erreichen sein, dass Afghanistan auf eigenen Beinen steht.
Und schließlich gab es den schwierigen Fall Irak. Wie im Kosovo konnten wir wegen eines drohenden Vetos kein UN-Mandat für eine Militäraktion bekommen. Wie in Sierra Leone war die militärische Koalition eher klein. Und wie in Afghanistan ist das Problem, dass es lange dauern wird. Aber es ist der Irak eher als das Kosovo, Sierra Leone oder Afghanistan, der die Zustimmung zu Interventionen generell untergraben hat.
Kein Mensch mit gesundem Verstand wünscht sich die Blutbäder und das Chaos, das wir in den Straßen des Irak zu sehen bekommen. Kein Mensch würde behaupten, dass das alles ein wunderbarer Erfolg war. Aber andererseits wollen auch nicht viele Irakis Saddam und die Baathisten zurückhaben. Und ich lehne es ab, mich für unseren Wunsch, ihn loszuwerden, zu entschuldigen.
Anstatt immer wieder die Motive der Invasionsbefürworter in Frage zu stellen, wäre es nützlicher, wenn wir eine ernsthafte Debatte darüber führen könnten, was im Irak schief ging. Wenn die meisten Leute genug hatten von einem blutrünstigen Diktator, der seine eigenen Bürger ermordete und die Nachbarn bedrohte – warum haben wir dann jetzt nicht das freie, demokratische, friedliche Land, das wir haben wollten?
Es gibt eine Reihe von immer wieder vorgebrachten Erklärungen, aber ich finde keine davon überzeugend. Wir hätten Saddams Armee nicht auflösen sollen, wird gesagt. Aber wir haben sie nicht aufgelöst: Sie lief auseinander, und wenn wir die Befehlsgewalt von Saddams Sunni-Offizieren wiederhergestellt hätten, wäre eine Revolte die Antwort gewesen. Wir hätten die De-Baathifizierung nicht so weit treiben sollen; es stimmt, dass die Politik geändert werden musste (so wie die Entnazifizierung im Nachkriegsdeutschland gestoppt werden musste, als die Amerikaner realisierten, dass sie keine kompetenten Bürgermeisterkandidaten mehr finden konnten). Uns wurde natürlich damals vorgeworfen, nicht schnell und energisch genug zu handeln. Senator McCains Erklärung für das Scheitern ist, dass wir zu wenig amerikanische Truppen schickten. Es stimmt wahrscheinlich, dass mehr Truppen besser gewesen wären. Aber es ist kaum vorstellbar, dass die Amerikaner genügend Truppen hätten schicken können, um alle ausbrechenden Gewalttaten zu verhindern. Und schließlich wird argumentiert, dass wir statt der Militäraktion eher die Sanktionen hätten fortsetzen sollen. Aber die Sanktionen waren ineffektiv, und sie trafen die Falschen! Saddam und seine Unterlinge profitierten sogar davon, indem sie sie unterliefen. Sanktionen hätten weder das Regime noch das Leiden der Bevölkerung im Irak beendet.
Seit dem Ende unserer Amtszeit habe ich viel darüber nachgedacht. Und ich glaube, die Erklärung für unsere Schwierigkeiten liegt in der vierten Bedingung der Chicago-Rede – Bereitschaft zum Langzeiteinsatz. Die beste Analogie für den Irak ist der Balkan. Tito starb vor fast 30 Jahren, aber die gewaltsame Übergangsphase aus der Diktatur hält immer noch an. Wir haben versucht, in Bosnien nicht zu intervenieren: Das Ergebnis war desaströs und brachte hunderttausende Tote. Unser Einsatz im Kosovo war erfolgreicher, aber das Problem ist nicht gelöst; immer noch sterben Menschen. Das heißt: Wenn ein Diktator gestürzt wird und die generationenlang unterdrückten Frustrationen hervorbrechen, dann wird es wahrscheinlich eine blutige Phase geben, durch die man hindurch muss. Im Irak hatten wir es zusätzlich mit einem brutalen Diktator zu tun, der alle potenziellen Rivalen umgebracht und die Zivilgesellschaft zerstört hatte – und Bestrebungen, die Herrschaft der Minderheit (Sunniten) über die Mehrheit (Schiiten) umzukehren, existierten schon seit Jahrhunderten. Also wenn es Wandel im Irak geben sollte – und die einzige Alternative war die Machtübergabe Saddams an seine Söhne -– dann würde das zwangsläufig ein langer und blutiger Prozess sein.
Die Lehre, die ich für die Progressiven aus dem Irak-Krieg ziehe, ist diese: Wir sollten Interventionen nicht aufgeben, aber wir sollten auf einen langen Kampf vorbereitet sein, der auf breite Unterstützung im eigenen Land und international angewiesen ist. Wir brauchen nicht unbedingt eine UN-Resolution – schließlich hatten wir im Kosovo auch keine – aber wir brauchen größere und engagiertere Koalitionen als im Irak.
In der Chicago-Rede beerdigte Tony Blair das Prinzip der Nichteinmischung, aber er forderte auch eine radikale UN-Reform, um die Vereinten Nationen in eine Aktionsallianz (statt einer Ausrede für Inaktivität) zu verwandeln. Leider hat es diese Reform nicht gegeben, und die fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats haben versucht, die UN absichtlich schwach zu halten. Mir scheint es außerordentlich kurzsichtig zu sein, dass die USA, deren langsamer Abstieg schon begonnen hat, die Notwendigkeit eines rechtsbasierten internationalen Systems nicht einsehen, bevor der Aufstieg von Staaten, die ihre Werte nicht unbedingt teilen, zu einer anderen Machtverteilung in der Welt führen wird. Tatsache ist, dass Indien und China ebenso viel Wert auf Nichteinmischung legen wie früher die Sowjetunion. Amerikanische Ellbogenfreiheit aufrechtzuerhalten, mag heute Sinn machen, aber in ein paar Jahren nicht mehr. Mein Vorschlag wäre, dem Generalsekretär die Initiative zu übergeben, die Mitgliedschaft des UN-Sicherheitsrats so auszuweiten, dass er auch die neuen Mächte der Welt repräsentiert – und nicht nur die, die 1950 noch dastanden. Außerdem sollte er das Veto abschaffen, damit Interventionen, um einen Diktator zu entfernen, von keinem Land gestoppt werden können. Wenn die Mehrheit des Sicherheitsrats dahinterstünde, könnten große Koalitionen für militärische Interventionen aufgebaut werden und sie bei Aktionen unterstützt werden, die lange Zeit brauchen, um erfolgreich zu sein.
Es wäre eine Untertreibung zu sagen, dass eine Revolution nötig wäre, um einen Konsens über eine solche Radikalreform der UN herbeizuführen. Aber ohne sie kann ich nicht erkennen, wie wir uns darauf einigen könnten, wann Interventionen stattfinden sollten. Und es gibt viele Fälle in der heutigen Welt, die nach humanitären Interventionen geradezu schreien. Wie können wir uns zurücklehnen und gleichgültig zuschauen, was in Simbabwe passiert? Wenn sich unser schlechtes Gewissen nicht regt, dann sollte wenigstens unser Eigeninteresse reagieren, wenn wir sehen, wie die Gewalt nach Südafrika überschwappt. Und können wir tatenlos zusehen, wenn Myanmars Junta hunderttausende seiner Bürger nach der großen Flutkatastrophe sterben lässt? Ist es uns egal, dass sie ihrer Bevölkerung Freiheit und Demokratie vorenthält? Glauben wir, dass diese Art von brutaler Diktatur für uns keine Auswirkungen hat?
Da die Macht Chinas und Indiens wächst, ist die einzige Möglichkeit für Länder wie meines, als Teil Europas eine effektive Rolle beim Sturz von Diktatoren wie in Myanmar und Simbabwe zu spielen. Wir brauchen eine europäische Armee, die dazu beitragen kann, dieses Unrecht zu korrigieren. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um sie aus der Taufe zu heben. Frankreich hat seine Bereitschaft erklärt, wieder in die Kommandostrukturen der NATO zurückzukehren, und niemand kann das Entstehen einer EU-Verteidigungsfähigkeit ernsthaft als Bedrohung der NATO ansehen. Europäische Truppen kämpfen in Afghanistan, und es ist falsch, dass in diesem gemeinsamen Kampf einzelne Länder unterschiedliche Risiken tragen. Europäische Länder geben einzeln riesige Summen für Verteidigung aus, und doch haben nur Großbritannien, Frankreich und einige mittel- und osteuropäische Länder effektive militärische Kapazitäten. Wenn wir dasselbe Geld zusammenlegen und nach kollektiven Konsultationen ausgeben würden, könnten wir neben den USA tatsächlich in aller Welt effizient für unsere Werte eintreten.
Der neue amerikanische Präsident, der 2009 sein Amt antritt, wird eine große Chance haben. Denn der Antiamerikanismus in Europa, Asien und dem Nahen Osten wird abflauen. Wenn er auf diesen Willkommensgruß reagiert und sich um den Rest der Welt kümmert, anstatt sich nach innen zu wenden, dann gibt es eine echte Möglichkeit, dass es zu einer neuen Periode von internationalem Optimismus kommt. Europa muss bereit sein, seine Unterstützung dafür anzubieten. Und ich meine damit nicht gute Ratschläge, also den Versuch, die „Griechen“ der „Römer“ zu spielen, sondern ich meine praktische Unterstützung, um humanitäre Interventionen in aller Welt von Afghanistan und Simbabwe bis nach Myanmar möglich zu machen. Wenn wir die militärischen Kapazitäten und den Willen zur Intervention haben, dann können wir in dieser neuen internationalen Koalition für unsere Werte eine Rolle spielen.
Vor allem brauchen wir europäische Führung. Und da haben wir jetzt eine Chance. Vor mehr als drei Jahrzehnten fragte Henry Kissinger nach Europas Telefonnummer. Seither ist es uns nicht gelungen, eine Führungspersönlichkeit zu finden, die für ganz Europa spricht. Falls der Lissabonner Vertrag wie ursprünglich geplant in Kraft tritt, werden wir neue Ämter schaffen, den Präsidenten des Europäischen Rates und einen neuen Hohen Repräsentanten, die die außenpolitischen Befugnisse der Kommission und des Rates zusammenführen werden. Diese neuen Figuren könnten eine mächtige Stimme für Europa werden, in Partnerschaft mit dem amerikanischen Präsidenten, engagiert in der Welt und bereit, für unsere Werte zu intervenieren. Diese Möglichkeit gibt es nicht sehr oft. Wenn wir sie verstreichen ließen, wäre das eine Tragödie.
JONATHAN POWELL, geb. 1956, war von 1995 bis 2007 Tony Blairs Chief of Staff. Jüngste Buchveröffentlichung:„Great Hatred Little Room. Making Peace in Northern Ireland“ (2008).
Internationale Politik 7-8, Juli/August 2008, S. 56 - 61