Ein Tsunami und jede Menge heiße Luft
Zum Thema Kernkraft fällt Japans Medien nach wie vor nicht viel ein
Seine Redaktion müsse auch sparen, tröstete ein leitender Redakteur des Yomiuri Shinbun einige Kollegen aus Europa kurz vor der Tsunami- und Nuklearkatastrophe im März 2011. Sie habe drei ihrer fünf Hubschrauber verkaufen müssen. Yomiuri ist die größte Tageszeitung der Welt, sie erscheint zweimal täglich, am Morgen in einer Auflage von mehr als acht Millionen, am Nachmittag mit über drei Millionen. Vor einigen Jahren war die Auflage noch höher.
Asahi Shimbun ist der kleinere und liberalere Konkurrent von Yomi-uri. Auch er druckt in zwei Auflagen pro Tag noch mehr als zehn Millionen Zeitungen. Als sich ein westlicher Korrespondent im Gespräch mit dem Chef einer Asahi-Regionalausgabe über das vermeintliche Luxusproblem von Yomiuri lustig machte, reagierte dieser irritiert. Auch Asahi habe sich von Hubschraubern trennen müssen, das sei ein echtes Problem. Ohne Hubschrauber könne man keine Zeitung machen.
Japans Zeitungen setzen Hubschauber vor allem für Fotos ein. Nach jedem großen Feiertag bringen sie Luftaufnahmen von Autobahn-staus. Wenn ein Mord passiert, publizieren die Zeitungen ein Foto des Tatorts aus der Vogelschau. Ab und an zeigen sie zu politischen Themen das Parlament oder den Amtssitz des Premiers aus der Luft.
Als am 11. März 2011 ein Tsunami über mehr als 500 Kilometer Küste im Nordosten Japans hinwegfegte, waren die Bilder aus den Hubschraubern ausnahmsweise aussagekräftig. Dort, wo der Strom nicht ausgefallen war, konnte man live am Fernseher verfolgen, wie Leute, Autos und Häuser weggeschwemmt wurden. In den folgenden Wochen beobachteten Medienhubschrauber die havarierten Reaktoren von Fukushima I aus 30 Kilometer -Distanz – und konnten die vier Explosionen dokumentieren. Die Opfer des Tsunamis dagegen mussten Tage, manche sogar über Wochen in ungeheizten Schutzräumen ohne Strom ausharren und auf Lebensmittel warten. Die Medienverantwortlichen nutzten ihre Hubschrauer praktisch gar nicht für Versorgungsflüge; ähnlich verhielt es sich mit jenen der Armee.
Jede Krise ist auch eine Chance. Japans „größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“, wie der damalige Premier Naoto Kan die dreifache Katastrophe nannte, war auch seine größte Chance: zu einem Neuanfang nach zwei Jahrzehnten Stagnation. Den japanischen Zeitungen bot die Krise eine Gelegenheit, mehr Exemplare zu verkaufen und sich unverzichtbar zu machen.
Vierter Pfeiler der Staatsmacht
Doch Japan hat die große Krise ungenutzt verstreichen lassen. Seine Regierung hat es nicht einmal geschafft, den enormen Bedarf an Krediten für den Wiederaufbau der vom Tsunami verwüsteten Regionen zur Ankurbelung der Wirtschaft zu nutzen. Nur widerwillig und auf Druck von unten bequemte sie sich zu einem schwammigen Beschluss, aus der Kernkraft auszusteigen. Ein Beschluss, den die neue konservative Regierung nun rückgängig gemacht hat.
Kaum etwas gelernt haben auch die Leitmedien: Sie sind so gleichgeschaltet wie zuvor – und das freiwillig. Über die so genannten Presseclubs, die den Zugang zu offiziellen Informationen kontrollieren, sind sie in einem hochkomplizierten informellen Kartell organisiert. In den ersten Wochen und Monaten nach der Katastrophe wagten sie noch vereinzelt kritische Berichte, die Zeitungen versteckten diese allerdings oft verschämt irgendwo weit hinten im Blatt. Inzwischen sind sie längst wieder zu einer weitgehend „staatstragenden“ Berichterstattung zurückgekehrt.
Kein Wunder, verstehen sich doch die Medien in Japan nicht als die vierte und kontrollierende Macht im Staat, sondern als vierten Pfeiler, auf den sich die Macht stützt. Dabei ist „staatstragend“ nicht unbedingt ein Synonym für „regierungstreu“. Nachdem die Wähler im Sommer 2009 die Liberaldemokraten (LDP), die Japan seit 1955 regiert hatten, mit einer bösen Klatsche in die Opposition geschickt hatten und die Demokratische Partei die Macht übernahm, schrieben die Zeitungen über Monate von der neuen Regierung als der „Opposition, die nun regiert“. Dass die LDP nun Opposition war, brachten sie lange nicht aufs Papier.
Im Wahlkampf des vergangenen Dezembers trat die LDP auf, als wolle sie sich zurückholen, was sie für ihr gottgegebenes Recht hielt: die Macht. Dabei hat die verknöcherte einstige Monopolpartei die Wahlen, wie sie selbst zugibt, nur gewonnen, weil die Mehrheit der Wähler der Regierung von Yoshihiko Noda überdrüssig waren. Viele Medien schienen aufzuatmen: Endlich ist „alles wieder normal“. Yomiuri schrieb, die Wähler wollten „eine stabile Regierung, von der sie eine realistische Politik erwarten können“ (17.12.2012). Die Regierung ist wieder Regierung, die einstige Opposition nicht einmal mehr das, sondern nur noch eine trotzige Splitterpartei – so schwer war Nodas Niederlage.
Japans Leitmedien sind aufs Engste mit der liberaldemokratischen Partei und der Wirtschaft verfilzt: einerseits über die Besitzstrukturen und über Dentsu, die mächtige, alles dominierende Werbeagentur, die einer Zeitung förmlich den Geldhahn zudrehen kann (und seinerseits etwa mit der Atomwirtschaft verbandelt ist); andererseits über persönliche Beziehungen der leitenden Redakteure, die sich selbst zum politischen Machtgefüge zählen und gerne mit Politikern Golf spielen; außerdem laden viele Firmen, insbesondere die aus der Stromindustrie, leitende Journalisten zu Bildungsreisen und Vorträgen ein, die sie überaus großzügig honorieren.
Von den vier Kommissionen, die die Kernschmelzen von Fukushima I untersuchten, war jene, die das Parlament einberufen hatte, die pflichtbewussteste und unvoreingenommenste, und die einzige, die ihre Sitzungen öffentlich abhielt. Doch gerade die großen Medien, die sonst auf jede Pressekonferenz fünf Leute schicken, nahmen die atemberaubenden Versäumnisse und Vertuschungsmanöver, die in diesen Sitzungen ans Licht kamen, lange kaum zur Kenntnis.
Natürlich gibt es auch in Japan Journalisten, die Missstände aufdecken und engagiert schreiben, auch in den großen Zeitungen: Aber ihre Artikel werden oft nicht oder entschärft gedruckt. Daneben gibt es auch in Japan kleine Zeitschriften, die etwas wagen, Facta zum Beispiel, ein Wirtschaftsblatt, das den Skandal um Olympus ans Licht zerrte. Die Bosse des Kameraherstellers hatten 13 Jahre lang Bilanzen gefälscht und damit 1,3 Milliarden Euro Verluste vertuscht. Gestützt auf einen Informanten enthüllte Facta dies im Sommer 2011.
Aber kein anderes Blatt nahm die Geschichte auf. Hätte Olympus mit Michael Woodford damals keinen Ausländer als Konzernchef gehabt, und hätte ihm nicht ein Bekannter den Artikel zugespielt, der Skandal wäre nie aufgeflogen, die Staatsanwaltschaft hätte nicht ermittelt und die Olympus-Bosse säßen statt in Untersuchungshaft noch in ihrer Chef-etage. Woodford ließ prüfen, ob die Facta-Geschichte stimmte, und stellte den Verwaltungsrat zur Rede. Dessen Antwort bestand darin, den Briten kurzerhand zu feuern. Erst jetzt wandte sich Woodword an die Financial Times, die den Skandal weltweit zur Titelgeschichte machte.
Die New York Times, die deutschen Zeitungen, alle nahmen das Thema auf. Nur die japanische Presse schwieg. Es dauerte zwei Wochen, bis man zögerlich über Olympus zu berichten begann. Nach Veröffentlichung einer ersten Untersuchung kommentierte Asahi: „Wir fragen uns, wie viele japanische Firmen mit Sicherheit sagen können, sie seien völlig frei von Problemen.“ Das Justizministerium erwäge eine Verschärfung der Gesetze, aber „Firmen werden von Menschen geführt“. Manager sollten den Skandal als Aufruf verstehen, „über ihr eigenes Verhalten nachzudenken“ (8.12.2011). Eine Strafverfolgung der Verantwortlichen zu verlangen fiel dem Asahi nicht ein – ganz so, als wäre die Unterschlagung von 1,3 Milliarden Euro ein Kavaliersdelikt.
Ausstieg aus dem Ausstieg
Mit dem Wahlsieg, den die Japaner den Liberaldemokraten bescherten, haben sie den nie wirklich ernst gemeinten Ausstiegsbeschluss der Regierung Noda de facto aufgehoben. Das hat die Mehrheit zwar nicht gewollt, aber in Kauf genommen. Zumal viele ohnehin nicht glauben mochten, dass Noda je wirklich aus der Kernenergie aussteigen wollte. Noch im Sommer hatte er erklärt, er sei nicht für die Kernkraft, aber „für die japanische Wirtschaft“. Mainichi Shimbun, die drittgrößte Tageszeitung, meinte dazu: „Die Noda-Regierung behauptet, sie wolle eine Gesellschaft ohne Kernkraft“, halte aber an der Wiederaufbereitung von Brennelementen fest. Und treffe auf Druck der Stromwirtschaft, der Geschäftswelt und der USA Maßnahmen, die Japan auch künftig von „Kernkraft abhängig machen“. Diese Widersprüche müsse Noda „erklären … und seine Entschlossenheit zum Ausstieg demonstrieren“ (20.9.2012). Doch das hat Noda nie getan.
Mit Premier Shinzo Abe ist die Partei, die Japan zum Atomstaat gemacht hat, an die Macht zurückgekehrt. Abe will die 48 noch intakten, stillgelegten AKWs möglichst bald wieder anfahren lassen. Gleichwohl hat Japan sich verändert, vor allem, was die Atomaufsicht angeht. Die alte Aufsichtsbehörde, die einst einen Informanten an Tepco verriet, nachdem er ihr gravierende Sicherheitsmängel gemeldet hatte, und die sich während der Katastrophe in erster Linie um Vertuschung bemühte, wurde aufgelöst. Die neue Behörde wirkt deutlich engagierter. Voriges Jahr ließ sie die Kraftwerke auf ihre Erdbebensicherheit untersuchen – und fand unter mehreren Meilern aktive Bruchlinien.
Die Zeitungen meldeten diese Funde brav. Aber Yomiuri kommentierte: „Selbst Experten sind sich oft nicht einig über Bruchlinien … Wir finden deshalb, die neue Behörde sollte nicht die Kompetenz haben, aufgrund ihrer vagen Erkenntnisse die Stilllegung eines AKWs anzuordnen“ (19.10.2012). Elektrizität sei das Lebenselixier der Wirtschaft, diese würde „geschädigt, wenn sich die Regierung von ihren Emotionen davontragen lässt und die Kernkraft abschafft“ (25.11.2012).
Japanische Leitartikler verlieren sich normalerweise in einem Sowohl-als-auch-Geplänkel. Wenn es um die Stromwirtschaft geht, vergisst Yomiuri allerdings diese Zurückhaltung. Gegen die erneuerbaren Energien wetterte er: „Es ist wenig wahrscheinlich, dass erneuerbare Energie je eine wichtige Energiequelle wird. Strom von erneuerbaren Quellen ist instabil und hängt vom Wetter ab, außerdem ist er teuer.“
Gegen das im Juli eingeführte Einspeisegesetz für Strom aus erneuerbaren Energieträgern argumentierte er: „Das System belastet die Verbraucher zusätzlich, weil die Stromfirmen die Kosten für die Energie, die sie kaufen müssen, auf die Kunden abwälzen.“ In Deutschland hätten „sich die Stromkosten für die Verbraucher verdoppelt“ (8.1.2013). Dass ihre Fakten nicht stimmen, interessiert die Polemiker des Yomiuri nicht. Und dass vor ihrer Haustür in Tokio das „Digital Grid Consortium“ ein „Internet des Stromnetzes“ entwickelt, das Spannungs- und Stromschwankungen auffängt, mithin den größten Nachteil der erneuerbaren Energien bedeutungslos macht, darüber berichtet die japanische Presse nicht. Schon gar nicht Yomiuri.
Christoph Neidhart ist Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Tokio.
Internationale Politik 2, März/April 2013, S. 130-133