Internationale Presse

01. Nov. 2018

Ein steiniger Weg

Mexikos neuer Präsident steht vor großen Aufgaben

Seinen ersten diplomatischen Erfolg konnte Andrés Manuel López Obrador bereits feiern, bevor er im Dezember in Mexiko die Präsidentschaft übernimmt. Denn am 30. September einigten sich die Regierungen der USA, Kanadas und seines Landes auf den Freihandelsvertrag United States-Mexico-­Canada Agreement (USMCA). Mehr als ein Jahr stritten die Delegierten über Zölle, Handelsbeschränkungen und Stundenlöhne. Begleitet waren die Gespräche von Beleidigungen des US-Präsidenten Donald Trump gegen die mexikanische Bevölkerung. Carlos Tello Díaz erinnert in der Tageszeitung Milenio (4.10.) daran, „dass er uns Drogenhändler und Vergewaltiger genannt und versprochen hat, eine Mauer zu bauen, um die Südgrenze der USA dicht zu machen“.

Der noch amtierende Staatschef Enrique Peña Nieto wird das Abkommen zwar unterzeichnen, doch an der Einigung war López Obradors Team bereits maßgeblich beteiligt. Kein Pressebericht, in dem nicht die bedeutende Rolle von Jesús Seade, dem Unterhändler des künftigen Staatschefs, und dessen gute Zusammenarbeit mit Peña Nietos Delegation betont wird. „Zweifellos sind die Verhandlungen über den trilateralen Handelsvertrag so erfolgreich verlaufen, weil die scheidende und die künftige Regierung Mexikos als gemeinsame Front auftreten konnten“, resümiert Marco A. Mares in der Wirtschafts-Tageszeitung Economista (2.10.).

Dabei verdankt López Obrador seinen hohen Wahlsieg am 1. Juli gerade seiner scharfen Kritik an Peña Nieto von der ehemaligen Staatspartei PRI. Der Politiker der sozialdemokratischen Morena-Partei will das Land von Grund auf umkrempeln. Er spricht von einer „transición“, einer Wende, die das korrupte System der PRI, „der Mafia an der Macht“, überwinden soll. Dabei kann er auf starken Rückhalt in der Bevölkerung zählen. 53 Prozent aller wählenden Mexikaner gaben ihm ihre Stimme, auch im Parlament und im Senat dominieren die Morena-Abgeordneten. Viele Menschen hoffen, dass der 64-Jährige die Korruption, die alltägliche Kriminalität und die wachsende Armut eindämmt. López Obrador, der nach seinen Initialen schlicht AMLO genannt wird, will die Gewalt der ­Sicherheitskräfte sowie der Verbrecherbanden bekämpfen, Arbeitsplätze schaffen und ländliche Regionen stärken. Zugleich verspricht er wirtschaftliche Stabilität und einen soliden Haushalt.

Sicherheit für die Wirtschaft

Deshalb kam die USMCA-Einigung für den neuen Präsidenten zum besten Zeitpunkt. „Das schafft Garantien für Investoren, verhindert Risiken sowie Misstrauen und fördert das makroökonomische Gleichgewicht, das höhere Investitionen und neue Arbeitsplätze in unserem Land ermöglicht“, zitiert El Universal López Obrador (2.10.). Zudem lässt die Tageszeitung, die traditionell der PRI nahe steht, AMLOs künftige Wirtschaftsministerin Graciela Márquez Colín ausführlich die Vorteile des Abkommens schildern: „Der neue Freihandelsvertrag sorgt für Sicherheit in der Wirtschaft“ (2.10.).

Selbst die linke, AMLO unterstützende Tageszeitung La Jornada findet in erster Linie positive Worte für das Abkommen, obwohl deren Kommentatoren traditionell gerne den freien Handel kritisieren. Die ungewöhnliche Einigkeit verweist zum einen auf die große Hoffnung, die viele aus der mexikanischen Medienwelt in den neuen Präsidenten legen. Zum anderen sind sich selbst Linke bewusst, dass ein Ende des bislang NAFTA (North American Free Trade Agreement) genannten Freihandelsvertrags große Gefahren mit sich gebracht hätte.

Seit NAFTA 1994 in Kraft getreten ist und viele Zölle gesenkt oder abgeschafft wurden, hat sich die mexikanische Ökonomie immer mehr am Export orientiert. Rund 80 Prozent der Ausfuhren – Automobile, Maschinen, landwirtschaftliche Produkte – gehen in die USA. Internationale Unternehmen haben sich angesiedelt, um für den nördlichen Nachbarn zu produzieren, so beispielsweise die deutschen Fahrzeugbauer VW, Audi, Mercedes und BMW. Wären die Verhandlungen geplatzt, hätte das auch für López Obradors Pläne gravierende Konsequenzen gehabt, wie die renommierte Journalistin Denise Dresser im Nachrichtenportal Aristegui Noticias (1.10) hervorhebt. Es wäre sehr schwierig für AMLO geworden, erklärt sie, wenn Trump „Mexiko als irgendeinen Markt betrachtet hätte und nicht als Teil eines nordamerikanischen Bündnisses mit einer Reihe von Regeln, auf die nun die Wirtschaftspolitik der neuen Regierung bauen kann“.

Etwas kritischer blickt Victor Piz in der Tageszeitung El Financiero (3.10) auf das Abkommen. „Die Änderungen der ursprünglichen Regeln werden für die mexikanische Autoindustrie eine große Herausforderung sein“, schreibt er. Künftig müssen 75 Prozent aller Komponenten im jeweiligen Land selbst hergestellt und 40 Prozent des geschaffenen Wertes müssen zu einem Stundenlohn von mindestens 16 US-Dollar erarbeitet werden – ein Mehrfaches dessen, was Unternehmer bislang in mexikanischen Fabriken bezahlen. Das führe de facto nicht zu höheren Löhnen in Mexiko, betont Piz, sondern dazu, dass diese 40 Prozent eben in den USA und Kanada erwirtschaftet werden.

López Obrador will den Mindestlohn erhöhen, doch zugleich setzt er auf internationale Investoren, die von Mexikos günstigen Arbeitskräften profitieren. Um die Armut zu bekämpfen, will er entlang der US-­Grenze einen 30 Kilometer breiten Streifen schaffen, in dem Umsatz- und Mehrwertsteuern gesenkt werden. Zudem sollen im Isthmus von Tehuantepec im Bundesstaat Oaxaca Freihandelszonen entstehen.

Das stößt in der Region auf große Missgunst. In einem Artikel für das Wochenmagazin Proceso lässt der Reporter Pedro Matías Menschen zu Wort kommen, die AMLOs Pläne kritisieren (19.9.). „Dann kommen die Unternehmen und besetzen unser Land, während wir zu billigen Arbeitskräften werden“, erklärt die Indigene Bettina Cruz. Sie befürchtet, dass die Weltmarktfabriken ihre Kultur zerstören. Auch Luis Hernández warnt in La Jornada (31.7.) vor unruhigen Zeiten: „Das Vorhaben, Mexiko in ein Paradies für Investoren zu verwandeln, wird absehbar zu einer Konfrontation der indigenen Bevölkerung mit diesen Projekten führen.“

Der Konflikt in Oaxaca beschreibt exemplarisch den Widerspruch, mit dem der neue Präsident zu kämpfen haben wird. AMLO hat versprochen, die Rechte der Arbeiter zu stärken und die der indigenen Gemeinden zu respektieren. Zugleich will er nach kapitalistischen Prinzipien Arbeitsplätze schaffen, damit die Armutsbevölkerung nicht gezwungen ist, zu migrieren oder sich den Banden des organisierten Verbrechens anzuschließen. Nicht zuletzt dem Versprechen, mit der ungebremsten Gewalt Schluss zu machen, verdankt López Obrador seinen fulminanten Wahlsieg. Schließlich sind 300 000 Menschen gewaltsam gestorben und mindestens 37 000 verschwunden, seit der damalige Präsident Felipe Calderón 2007 den Mafiaorganisationen den Krieg erklärt hat. Dafür sind Kriminelle und staatliche Sicherheitskräfte verantwortlich.

Eine Armee des Friedens

„Nie wieder wird das Militär repressiv gegen das Volk vorgehen“, titelt La Jornada (30.9.) mit einem Zitat des angehenden Präsidenten kurz vor dem 2. Oktober 2018, dem 50. Jahrestag eines Massakers an Studenten durch mexikanische Soldaten. López Obradors Pläne, die Streitkräfte in eine „Armee des Friedens“ zu verwandeln, findet auch in anderen Medien ein großes, aber widersprüchliches Echo. Eduardo Guerrero Gutierrez spricht im Financiero (10.9.) von einem „notwendigen Übel“: „Sie sind die einzigen, die die Bevölkerung schützen können, zugleich sind sie in alle Arten von Verbrechen involviert.“ Eine Friedensarmee könne nur entstehen, wenn die Korruption beendet werde. Der Universal veröffentlicht just am 2. Oktober einen Artikel der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, der eine bittere Bilanz der Amtszeit Peña Nietos zieht und eine „Militarisierung der öffentlichen Sicherheit“ anprangert.

Paradigmatisch für die korrupten Strukturen steht ein Angriff am 26. September 2014. Lokale Polizisten und Kriminelle gingen damals gemeinsam in der Stadt Iguala bewaffnet gegen Studenten des Lehrerseminars Ayotzinapa vor. Sechs Menschen starben, 43 der Männer wurden verschleppt. Bis heute ist unklar, was mit ihnen passiert ist. Ebenso wenig weiß man darüber, welche Rolle in der Tatnacht anwesende Soldaten und Bundespolizisten gespielt haben.

Kaum eine Woche vergeht seither, in der nicht über den Angriff und seine fehlende Aufklärung berichtet wird. Vor dem vierten Jahrestag des Verbrechens widmet der Proceso dem Massaker gleich vier Artikel (23.9.). Der Titel des Blattes – „Ayotzinapa, die Herausforderung AMLOs“ – macht die Brisanz des Falles deutlich. Zugleich demonstriert ein Zitat des Vaters eines Verschwundenen die Hoffnung und die Skepsis, mit der Mexikos neuer Präsident konfrontiert sein wird. Einen Blankoscheck werde man ihm nicht ausstellen, zitiert das Wochenmagazin den Mann, „für uns ist das Entscheidende, dass wir echten politischen Willen erkennen, die Jungs zu finden“.

Während sein Vorgänger den Fall am liebsten in die Vergessenheit verbannt hätte, will López Obrador an seinem politischen Willen zur Aufklärung keinen Zweifel lassen. Er verspricht den Angehörigen die Einrichtung einer Wahrheitskommission, die den Verlauf der Tatnacht und den Verbleib der 43 Studenten ermitteln soll. Der Vorschlag stößt bei vielen Kommentatoren auf ein positives Echo, denn der Fall Ayotzinapa hat in der mexikanischen Gesellschaft wie kein anderer eine schmerzhafte offene Wunde hinterlassen.

Raymundo Riva Palacio blickt im Financiero (19.9.) auf den Bundesstaat Guerrero, in dem das Verbrechen verübt wurde. Dort kämen die sozialen Konflikte des Landes am deutlichsten zum Ausdruck, weil sich alle Varianten des Autoritarismus und die Abwesenheit staatlicher Kontrolle miteinander verbänden. „Eine systematische Überprüfung kann uns nicht nur helfen zu verstehen, was in dieser Region geschehen ist, sondern auch, was das politische System insgesamt angerichtet hat“, schreibt er.

Seit Anfang August führt die angehende Regierung in Brennpunkt­regionen „Foren zur Befriedung und Versöhnung“ durch. Angehörige von Opfern und Menschenrechtsverteidiger sprechen mit künftigen Regierungspolitikern über neue Wege gegen die Gewalt. Doch das Misstrauen ist groß, wie die Reporterin Marcela Turati im Proceso (12.8.) beschreibt. Sie berichtet von einem Forum, auf dem AMLO über die Notwendigkeit zur Versöhnung spricht, um Frieden zu schaffen. Für die Mütter, Väter oder Geschwister, deren Liebste verschleppt, vergewaltigt und ermordet wurden, sei das ein schwerer Schock gewesen. Jahrelang hätten sie erleben müssen, dass die Täter straflos blieben. Und nun spreche man über Vergeben anstatt über Gerechtigkeit. „Wie sollte ich Personen verzeihen, die mir meine beiden einzigen Kinder entrissen haben“, zitiert Turati eine Angehörige. Andere Beteiligte stellen klar: „Kein Vergeben, kein Vergessen.“

Der Weg zu friedlichen und gerechten Verhältnissen, so viel steht fest, wird für den neuen Präsidenten ein sehr steiniger werden.

Wolf-Dieter Vogel lebt in Oaxaca und schreibt seit zwei Jahrzehnten über Mexiko und die Staaten Mittelamerikas.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November-Dezember 2018, S. 124-127

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