Der Populist und sein Nachbar
Trotz Wirtschaftskrise, anhaltender Gewalt und Korruption wird Mexikos Staatspräsident AMLO von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt. Liegt es daran, dass er sagt, was die Mehrheit hören will? Vieles hat ihn mit Donald Trump verbunden – nun gestaltet sich das Verhältnis zu den USA unter Joe Biden eher schwierig.
Für Mexikos Präsidenten Andrés Manuel López Obrador stand die Amtseinführung seines US-Kollegen Joe Biden unter einem schlechten Stern. Wenige Tage, bevor der Demokrat ins Weiße Haus einzog, entschied die mexikanische Generalstaatsanwaltschaft am 14. Januar, keine Anklage gegen den ehemaligen Verteidigungsminister General Salvador Cienfuegos Zepeda zu erheben.
Das stieß in Mexiko und beim Nachbarn auf große Empörung. US-Behörden hatten den hochrangigen Militär im Oktober 2020 auf dem Flughafen von Los Angeles verhaftet, weil er mit einem Drogenkartell kooperiert haben soll. Einen Monat später lieferten sie ihn nach Mexiko aus, samt Ermittlungsakten der Antidrogenbehörde DEA. Die Mexikaner verzichteten jedoch darauf, den General vor Gericht zu stellen. Die Drogenfahnder hätten eine Straftat „konstruiert“, warf López Obrador den US-Amerikanern am 15. Januar auf seiner täglichen Pressekonferenz vor.
Die Reaktion ließ nicht auf sich warten. Noch am selben Morgen interviewte die Journalistin Carmen Aristegui in ihrem Magazin „Aristegui en vivo“ den ehemaligen DEA-Beamten Mike Vigil, der die Ermittlungen leitete. Die Vorwürfe von López Obrador, der nach seinen Insignien schlicht AMLO genannt wird, seien „lächerlich“, sagte Vigil. AMLO schütze einen korrupten Politiker, kritisierte er und beschwerte sich: „Wenn sie ihm nicht den Prozess machen wollen, warum haben sie den General Cienfuegos nicht hier in den Vereinigten Staaten gelassen?“
Für weiteren Unmut sorgte, dass AMLO die US-Ermittlungsergebnisse ins Netz stellen ließ. „Wer solch heikle Akten veröffentlicht, die neben Cienfuegos auch weitere Personen betreffen, bringt jahrelange Geheimdienstarbeit in Gefahr“, kritisiert Manuel Mejido in der Tageszeitung El Sol de México.
Der Affront in Sachen Cienfuegos fand zwar noch in Trumps letzten Amtstagen statt, war aber nach Meinung vieler Beobachter an den neuen Präsidenten gerichtet. Mejido erinnert daran, dass sich AMLO sechs Wochen Zeit gelassen hatte, um den Sieg Bidens anzuerkennen, obwohl Trumps Behauptungen vom Wahlbetrug viel früher widerlegt gewesen seien.
Die Verhaftung des Generals hatte aber auch schon zuvor für diplomatische Missstimmung gesorgt, weil das mexikanische Parlament beschlossen hatte, die Bewegungsfreiheit von US-Geheimdienstlern im Land einzuschränken. „Das ist ein beachtlicher Rückschritt in der intensiven sicherheitspolitischen Beziehung“, erklärt der Washington-Korrespondent der konservativen Tageszeitung Reforma, José Díaz-Briseño. Die Entlastung von Cienfuegos lasse „eine weitere Intensivierung der Spannung zwischen Biden und Mexiko“ befürchten.
Mit dem Wechsel im Weißen Haus müsse AMLO seine Beziehung zu den USA neu definieren. „Flankiert von einer Pandemie und der schlimmsten Wirtschaftskrise seit fast einem Jahrhundert muss López Obrador das personalisierte Verhältnis hinter sich lassen, das er über den Republikaner Donald Trump zu den USA entwickelt hat“, so Díaz-Briseño.
Ende der Männerfreundschaft
Tatsächlich hatte sich der mexikanische Linkspolitiker wesentlich besser mit seinem rechten Amtskollegen verstanden, als die politischen Vorzeichen vermuten lassen. „Mit Trump rauchte er die Friedenspfeife, gegen Biden schlägt er die Kriegstrommel“, kritisiert die Kommentatorin Denise Dresser in der Reforma. Sie wirft AMLO vor, dass er bei allen Forderungen Trumps in der Migrationspolitik klein beigegeben habe. Er habe die Nationalgarde gegen Migranten mobilisiert, die restriktive Asylpolitik der USA unterstützt und den Mauerbau an der Grenze nicht kritisiert.
AMLO und Trump verband viel: ihr Desinteresse an einer nachhaltigen Energie- und Umweltpolitik, ihr selbstgerechtes Auftreten und ihre nationalistische Politik. „Er hat seinen Freund Trump verloren“, schreibt Guillermo Valdés Castellanos in der Tageszeitung Milenio und befürchtet, dass eine für die Wirtschaft Mexikos so nötige Annäherung mit Biden schwieriger werde.
Eduardo Ruiz-Healy erinnert in der Zeitung El Economista daran, dass in Washington künftig der Klimawandel außenpolitisch im Zentrum stehe: „Biden denkt ganz anders als López Obrador, der die Zukunft Mexikos im Erdöl sieht und weiterhin in seine Raffinerie Dos Bocas investieren will.“ Wie solle da eine Kooperation mit den USA möglich sein, fragt sich Ruiz-Healy. Die aktuelle Entwicklung gibt ihm Recht. Anfang Februar hat AMLO eine Reform eingebracht, die die staatliche Erdöl- und Gasförderung stärkt und private Produzenten alternativer Energien erheblich schwächt.
80 Prozent aller mexikanischen Exporte gehen in das Nachbarland und die Zahlungen der Millionen Mexikaner, die in den USA leben, sichern unzähligen Familien das Überleben. Deshalb spielt das Verhältnis zu Washington in Mexiko immer eine große Rolle. Darüber hinaus kommt Außenpolitik bei López Obrador eigentlich nicht vor. Doch die Cienfuegos-Affäre hat auch im eigenen Land Wellen geschlagen. „Die Entlastung des Generals Cienfuegos ist der schwerste Schlag gegen das Gerede des Präsidenten vom Kampf gegen die Korruption“, schreibt Julio Hernández López in der linken Tageszeitung La Jornada.
Nicht wenige bezweifeln, dass die DEA einen ehemaligen Verteidigungsminister ohne stichhaltige Beweise festnimmt. Zumal in dessen Amtszeit (2012–2018) mehrere Regierungsmitglieder in Korruptionsaffären verwickelt waren. Warum sollte Cienfuegos nicht dafür gesorgt haben, dass das Beltrán-Leyva-Kartell Drogen in die USA einführen konnte? Dass der General nicht vor Gericht gestellt wird, sei „ein schwerer Schlag gegen die Demokratie in unserem Land“, schreibt der Menschenrechtsexperte Mario Patrón in der Jornada. Es sei ein Ausdruck der Unterordnung der zivilen Institutionen unter das Militär. Francisco Rivas erinnert in der Tageszeitung El Universal daran, dass die Armee mittlerweile in vielen zivilen Bereichen agiert: „Ist es nicht zwingend, dafür zu sorgen, dass eine Einrichtung, die Flughäfen baut, Medikamente und Bücher verteilt und den größten Teil des öffentlichen Haushalts schluckt, nicht zersetzt wird?“
Bevor López Obrador im Dezember 2018 sein Amt antrat, versprach er einen Wandel in der Sicherheitspolitik. Nachdem der Krieg gegen die Mafia seiner Vorgänger zu schweren Menschenrechtsverletzungen und Hunderttausenden von Toten geführt hatte, wollte er das Militär in die Kasernen zurückschicken. Doch das Gegenteil ist passiert. Mittlerweile verteilt die Armee Impfstoffe und ist für den Bau touristischer Großprojekte zuständig. Dennoch widerspricht der Kommentator Carlos Mota dem Menschenrechtler Patrón. „Die organisatorischen Kapazitäten des mexikanischen Staates sind mickrig, deshalb hat der Präsident festgestellt, dass nur die Armee umfassende Projekte koordinieren kann“, schreibt er im Heraldo de México. Es sei nicht im Interesse des Staatschefs, dass ein militärischer Staat die Freiheiten einschränkt.
Staatliche Hilfsprogramme
Außer Frage steht jedoch, dass der Einsatz der Streitkräfte und der neu geschaffenen Nationalgarde die Sicherheitslage nicht verbessert hat. Trotz der Pandemie sei die Zahl der Morde konstant hoch, schreibt das Online-Portal Animal Político. 35 484 Menschen seien laut Regierungsangaben 2020 getötet worden, etwa genauso viele wie im Vorjahr. 2017, bevor AMLO sein Amt übernahm, waren es knapp 30 000. Auch die Angriffe gegen Journalisten halten an. Der Plattform „Pie de Página“ zufolge wurden vergangenes Jahr 13 Medienschaffende ermordet.
El Universal berichtet über die hohe Zahl von Verschwundenen – Verbrechen, die das Land in Atem halten. Seit 2006 seien 80 888 Menschen verschleppt worden und nicht wieder lebend aufgetaucht, zitiert die Zeitung den Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung Alejandro Encinas. Menschenrechtsverteidiger werfen der aktuellen Linksregierung vor, nicht genug gegen diese Verbrechen zu unternehmen. Der Staat übe sich in Simulation, egal, welche politische Farbe die Regierung gerade trage, kommentiert Jacobo Dayán in „Aristegui Noticias“. „Wie groß muss der Horror sein, damit das Thema nicht mehr von der Agenda verschwindet?“, fragt Dayán.
Um die Gewalt einzudämmen, setzt López Obrador auf Sozialprogramme. Sein Motto: „Zuerst die Armen“. Er hat den Mindestlohn erhöht und eine Grundrente sowie eine Preisgarantie für Kleinbauern geschaffen. Ob umfangreiche Programme wie „Sembrando Vida“ (Leben säen), das die ländliche Struktur stärken soll, wirken, ist umstritten. José Luis Preciado erklärt in der Jornada, mit „Sembrando Vida“ würden Millionen von Pesos auf den Müll geworfen. „Ich finde kein Beispiel, keine wirkliche Bestätigung dafür, dass diese Mittel für die Rettung des ländlichen Mexikos von Nutzen sind; im Gegenteil, ich sehe nur, dass überall Bauern in die Städte ziehen“, schreibt er. Das Geld verschwinde in klientelistischen oder korrupten Kanälen.
Unbestrittene Fortschritte kann die Regierung aber im Kampf gegen die Korruption verbuchen. Mexiko habe seine Position im Internationalen Korruptionsindex 2020 um sechs Plätze verbessert, meldet das Nachrichtenportal infobae am 28. Januar. Ex-Gouverneure, die mit dem organisierten Verbrechen kooperiert haben, werden verfolgt. Beamte, die große Mengen Geld hinterzogen haben, müssen sich vor Gericht verantworten. So beispielsweise Emilio Lozoya, der ehemalige Direktor des staatlichen Erdölunternehmens Pemex. Er soll 3,5 Millionen Dollar dafür kassiert haben, dass Pemex ein heruntergewirtschaftetes Unternehmen aufgekauft hat.
Wie weit die korrupten Strukturen reichen, ist noch lange nicht aufgeklärt. So war Lozoya ein enger Vertrauter von AMLOs Vorgänger Enrique Peña Nieto, und es herrschen Zweifel darüber, dass er ohne Wissen seines Chefs gehandelt hat. Der Journalist Carlos Loret de Mola betrachtet die Bemühungen des Staatschefs kritisch. López Obrador rede nur noch von der ominösen korrupten Vergangenheit, kommentiert er im El Universal. „So vermeidet er, sich mit den lästigen 300 000 Toten zu beschäftigen, die die Pandemie verursacht hat.“
Anhänger und Gegner
Auch in Mexiko wird der Umgang mit dem Virus politisch ausgeschlachtet. Wie viele Menschen wegen Covid-19 ihr Leben lassen mussten, ist unklar. Allein die offiziell gezählten 163 000 Opfer (Stand 5. Februar) beschert dem Land den Platz drei der meisten Toten weltweit, und selbst die Regierung geht davon aus, dass es wesentlich mehr sind.
AMLO ging lange Zeit lax mit dem Virus um, reiste durchs Land und genoss das Bad in der Menge. Bis heute sind die Grenzen uneingeschränkt offen, einen Zwang zur Quarantäne gibt es nicht. Das hat viele Kritiker auf den Plan gerufen. „Zweifellos hat es ein individuelles und kollektives unverantwortliches Handeln gegeben“, schreibt Denise Dresser in der Wochenzeitung proceso und verweist auf die vielen Feste und andere Treffen, die trotz der Pandemie stattfanden. „Aber die größte Unverantwortlichkeit geht von denen an der Macht aus, die gelogen, verfälscht, minimiert und verwirrt haben.“
Wie in vielen Fragen ist das Land in der Corona-Krise unversöhnlich in Gegner und Anhänger des Präsidenten gespalten. AMLO selbst bezeichnet jeden seiner Kritiker als „Konservativen“, der ihn stürzen will, und ebenso unerbittlich verteidigen ihn seine Anhänger. Doch auch unter seinen Gegnern finden sich nur wenige, die wie Eduardo Ruiz-Healy auch Fehler einräumen. Er hatte López Obrador kritisiert, weil dieser auf den russischen Impfstoff Sputnik V gesetzt hatte. Nachdem Anfang Februar bekannt wurde, dass das Mittel doch einen hohen Wirkungsgrad haben soll, kommentierte Ruiz-Healy in El Economista: „So wie ich mich gegen den Kauf und die Anwendung von Sputnik V gewehrt hatte, bevor man von der jetzt bestätigten Effektivität wusste, so unterstütze ich jetzt dessen Beschaffung und Nutzung in Mexiko.“
Viele haben jedoch nicht vergessen, dass der Präsident seit Mai 2020 immer wieder erklärt hat, Mexiko habe das Virus gebändigt. Dass er trotz der katastrophalen Bilanz über 60 Prozent der Bevölkerung hinter sich weiß, erklärt der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Mario Luis Fuentes mit seinem Diskurs. AMLO bediene Vorurteile, argumentiere religiös statt wissenschaftlich und setze auf Hoffnung und Optimismus. Das wolle die Mehrheit hören, schreibt er auf der Plattform „México Social“.
Ende Januar erkrankte López Obrador selbst an Covid-19. Zwei Wochen später ließ er wissen, es gehe ihm wieder besser. „Ich habe heute Morgen einen Antigentest gemacht, und der fiel negativ aus“, verkündete er. Dann sprach er vom Kampf gegen die Korruption, von den Sozialprogrammen und davon, dass das Land trotz Pandemie und Wirtschaftskrise voranschreite. Kurz zuvor meldete das staatliche Statistikamt, das Bruttosozialprodukt sei 2020 um 8,5 Prozent gesunken. Das sei der größte Einbruch seit fast 90 Jahren, erklärt Manuel Sánchez González in der Tageszeitung El Financiero: „Nur die große Depression von 1932 hat diese Zahl noch übertroffen.“
Wolf-Dieter Vogel lebt in Oaxaca und schreibt seit zwei Jahrzehnten über Mexiko und die Staaten Mittelamerikas.
Internationale Politik 2, März/April 2021, S. 116-119
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