Internationale Presse

26. Febr. 2024

Frauen-Power im Macho-Land

Wie auch immer die Wahlen Anfang Juni ausgehen: Nach Jahrzehnten der männlichen Dominanz wird Mexiko künftig von einer Frau regiert. Ob nun die Favoritin Claudia Sheinbaum oder ihre Rivalin Xóchitl Gálvez die Nachfolge von Andrés Manuel López Obrador antritt – leicht wird die Aufgabe nicht. Und das hat nicht nur mit dem eigenwilligen Regierungsstil des Amtsinhabers zu tun. Eine Medienschau.

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Bereits Monate, bevor Mexikos Wählerinnen und Wähler am 2. Juni 2024 über ein neues Staatsoberhaupt entscheiden, steht eines so gut wie fest: Das Land wird künftig erstmals von einer Frau angeführt. Sowohl die linke Morena-Partei des Präsidenten Andrés Manuel López ­Obrador als auch das oppositionelle ­Mitte-rechts-Bündnis schicken eine Kandidatin ins Rennen. 

Allen Umfragen zufolge hat Claudia Sheinbaum von der Regierungspartei weitaus größere Chancen, die Wahl zu gewinnen. Meinungsforschungsinstitute versprechen ihr 20 Prozentpunkte mehr als ihrer Gegnerin Xóchitl Gálvez vom Bündnis „­Fuerza y Corazón por México“ (Kraft und Herz für Mexiko). Selbst regierungskritische Kommentatoren lassen keinen Zweifel daran, dass Sheinbaum vom „Movimiento Regeneración Nacional“ (Bewegung zur Regenerierung der Nation), kurz „Morena“, die Favoritin ist. Abgeschlagen auf Platz drei liegt ein Kandidat des „Movimiento Ciudadano“ (Bürgerbewegung).

 

Ausgerechnet Mexiko

Diese Entwicklung ist bemerkenswert. Ausgerechnet Mexiko, das durch extremen Machismus geprägt ist, wird künftig von einer Frau regiert. Dass die 61-jährige Sheinbaum, bis vor Kurzem noch Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, so starke Umfragewerte erzielen kann, ist der Beliebtheit des amtierenden Staatschefs geschuldet. Mehr als fünf Jahre nach der Übernahme seines Amtes stehen immer noch rund 60 Prozent der Bevölkerung hinter López Obrador, der gemäß der Verfassung kein zweites Mal antreten darf. Bei den Wahlen 2018 konnte er sich mit 53 Prozent der Stimmen gegen seine Rivalen von der Partei der Nationalen Aktion (PAN) und der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) durchsetzen. Während seine Vorgänger von der PAN und der PRI wirtschaftsliberal agierten, versprach der Linkspolitiker mehr soziale Gerechtigkeit. In einer „4. Transformation“ wollte er nach der Unabhängigkeit Mexikos, den bürgerlichen Reformen und der Revolution die vierte historische Wende in Gang setzen. 

Dank seines väterlichen, populistischen Auftretens sowie einiger Sozialprogramme wird López Obrador von der armen Bevölkerung als Retter einer Nation wahrgenommen, die von marktradikalen Politikern zugrunde gerichtet worden sei. „Seine Karriere baut auf einen polarisierenden Diskurs für die marginalisierten und ­besitzlosen Massen, die die Mehrheit der mexikanischen Gesellschaft darstellen, gegen die politischen und wirtschaftlichen Eliten“, beschreibt der Historiker Humberto Beck den Erfolg López Obradors, der nach seinen Initialen AMLO genannt wird. Seine Politik basiere auf der Schaffung eines Diskurses des „Wir gegen sie“ und des gepeinigten „Volkes“, dessen Medium er selbst sei, so Beck.
 

Demagogie à la Trump

Damit hat AMLO die Herzen vieler Menschen erobert. Sie glauben ihm, wenn er in seinen täglichen Pressekonferenzen von erfolgreicher Korruptionsbekämpfung, Verbesserungen im Bildungssystem oder Erfolgen gegen die Kriminalität spricht – ganz unabhängig davon, ob diese Aussagen wahr sind. In den „Mañaneras“ (Morgenrunden), die viele im Radio, Fernsehen oder Internet verfolgen, setzt er politische Akzente, kritisiert seine „neoliberalen Vorgänger“ und greift Journalisten an. Wer seine Projekte, etwa den Touristenzug Tren Maya auf der Halbinsel Yucatán, infrage stellt, den denunziert er als Agenten der alten und korrupten Mächte. In den Mañaneras, so schreibt Raymundo Riva Palacio in der Zeitung El Financiero, „vereinfacht er komplexe Probleme und erklärt sie mit Wahrheiten, Halbwahrheiten sowie Lügen, und zwar immer so, dass die Lösung seinen Interessen entspricht“.

Angesichts dieser und anderer „alternativen Fakten“ vergleichen Beobachter AMLOs Diskurs mit dem des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Fareed Zakaria bezeichnet ihn in der Washington Post als „populistischen Demagogen“, der Journalist Raúl Cortés hat dem polarisierenden Auftreten das Buch „El choque inevitable“ (Die unvermeidliche Konfrontation) gewidmet. Untersuchungen der Organisation für Pressefreiheit Artículo 19 zufolge sind viele Aussagen López Obradors nicht durch nachprüfbare Fakten bestätigt. Während die mehrheitlich kritischen Medien den Präsidenten unter anderem deshalb ständig angreifen, hebt die regierungsnahe linke Tageszeitung La Jornada immerzu die Erfolge des Staatspräsidenten hervor.

Die große Beliebtheit AMLOs ist aber nur zum Teil auf sein Auftreten zurückzuführen – mindestens ebenso wichtig sind hier seine Sozialprogramme. Der Mindestlohn stieg in AMLOs Amtszeit um das Zweieinhalbfache, Menschen über 65 Jahre erhalten alle zwei Monate etwa 250 Euro Rente, alleinerziehende Mütter 80 Euro und Personen mit Behinderungen 150 Euro. Wer in kleinbäuerlicher Produktion brachliegendes Land bestellt, kann über das Programm „Sembrando Vida“ (Leben säen) im gleichen Zeitraum 300 Euro beantragen. Diese Sozialtransfers sind beachtlich, sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Mexikos arme Bevölkerung schon immer auch von Hilfs­zahlungen lebte.

Im Zuge des Wahlkampfs verspricht AMLO weitere Leistungen: Rentenzahlungen von 100 Prozent des Lohnes, kostenlose Krankenversorgung für Nichtversicherte, ein stets der Inflation angepasster Mindestlohn. Für seine potenzielle Nachfolgerin wäre das kaum bezahlbar. Bislang wurden die Programme durch Einsparungen in der Verwaltung, Steuereintreibungen bei großen Unternehmen und Korruptionsbekämpfung finanziert. Das wird jedoch langfristig nicht genügen, um die Zahlungen fortzuführen und, wie ebenfalls versprochen, ein besseres Gesundheits- und Bildungssystem zu schaffen. Dafür braucht es zumindest eine Steuerreform. Doch die schließt AMLO kategorisch aus, wie La Jornada im Dezember 2023 berichtete. Die Regierung müsse nur den Gürtel enger schnallen, den Kampf gegen die Korruption weiterführen und die Privilegien im öffentlichen Sektor beenden, zitiert die Zeitung den Präsidenten.

Diese Sparpolitik stößt auf unterschiedliche Reaktionen. Die „republikanische Austerität“ habe zu greifbaren Verbesserungen der wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren geführt, schreibt die Plattform Kiosco Informativo, während die oppositionelle Organisation „Mexicanos contra la corrupción y la impu­nidad“ von einer „Demontage des Staates“ spricht.

Um Geld zu sparen und der Korruption entgegenzuwirken, ließ AMLO viele autonome Einrichtungen schließen, die vermittelnd zwischen Regierung und Bevölkerung tätig waren. Nicht selten hatten diese Maßnahmen zugleich einen politischen Charakter: Die dem Präsidenten überflüssig erscheinenden Institutionen sind oft jene, von denen er Gegenwind bekommt. So agiert er beispielsweise gegen die nationale Wahlbehörde – eine Einrichtung, die symbolisch für die Demokratisierung des Landes steht, da sie 1990 nach der über 60-jährigen Alleinherrschaft der damaligen Staatspartei PRI gegründet wurde. Besonders in seiner Kritik stehen auch Einrichtungen der Justiz. Durch umstrittene Personalentscheidungen versucht AMLO, mehr Einfluss auf den Obersten Gerichtshof zu nehmen, da die Behörde immer wieder seine Projekte ausbremst.
 

Ein schweres Erbe

Ob die Austeritätspolitik so vorteilhaft für die Staatskasse war, wie die Regierung vorgibt, ist umstritten. Doch de facto ist es um die Wirtschaft nicht so schlecht bestellt, wie Kritiker prophezeit hatten. Die Transferleistungen beleben den Konsum, der Peso ist ungewöhnlich stark und die ausländischen Investitionen sind in AMLOs Amtszeit gestiegen. 

Die große Investitionsbereit­schaft ist aber im Wesentlichen internationalen Faktoren geschuldet. Mexiko profitiert durch „Nearshoring“, also das Ansiedeln von Unternehmen nahe dem Zielmarkt, das durch den Wirtschaftsstreit zwischen den USA und China einen Aufschwung erlebt. Die Investitionen schlagen sich jedoch nur mit 0,3 bis 0,4 Prozent auf das Bruttoinlands­produkt (BIP) nieder. Für 2024 rechnet die Weltbank mit einem BIP-Wachstum von 2,5 Prozent und moniert, dass Mexiko durch politische ­Unsicherheit, infrastrukturelle Probleme und schlecht ausgebildete Arbeitskräfte zu wenig Nutzen aus dem Near­shoring ziehe. „Mit einem Wachstum von 2 Prozent oder weniger ist keine Transforma­tion zu machen“, kommentiert der Analyst Jorge Zepeda Patterson.

Sheinbaum würde also kein leichtes Erbe antreten. Erschwerend kommt das Verhältnis zu den USA hinzu. López Obradors Energiepolitik ist vor allem darauf ausgerichtet, den parastaatlichen Ölkonzern PEMEX zu stärken. Privatinvestoren, die vom Wirtschaftsliberalismus der Vorgänger AMLOs angezogen wurden, geraten ins Hintertreffen. Die US-Regierung droht deshalb, wegen eines Verstoßes gegen das gemeinsame Freihandelsabkommen zu klagen. Schon jetzt steht Mexiko unter Druck: Washington fordert, dass die mexikanischen Behörden massiver gegen die vielen Migranten vorgehen, die über das Land in die Vereinigten Staaten einreisen wollen – eine Forderung, bei der López Obrador wegen der ökonomischen Ab­hängigkeit immer wieder nachgeben muss.

Auch sein Versprechen, die organisierte Kriminalität einzudämmen, konnte er nicht erfüllen. In einigen Bundesstaaten herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände, ganze Regionen werden von bewaffneten Banden kontrolliert. Meist stecken die Kriminellen mit korrupten Politikern, Polizisten und Juristen unter einer Decke. 

Bis Dezember 2023 seien in López Obradors Amtszeit 173 000 Menschen ermordet worden, schreibt das Portal ­Infobae mit Bezug auf das Institut ­TResearch. Auch Angaben des staatlichen Statistischen Amtes (INEGI) zufolge sind in seiner Amtszeit mehr Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben als in den Legis­laturperioden seiner Vorgänger. Aktuell zeigt sich zwar tendenziell ein Rückgang der Morde, doch zugleich wurden um 40 Prozent mehr Menschen verschleppt; viele von ihnen dürften ermordet worden sein. Nichts habe sich verbessert, resümiert Menschenrechtsexperte Jacobo Dayan. Fast kein Täter sei zur Verantwortung gezogen worden. „Die Straflosigkeit ist absolut“, sagte er der Tageszeitung Reforma.
 

Content statt Charisma

Daran hat auch die massive Militarisierung des Landes nichts geändert. López Obrador hat der Armee immer mehr die Kontrolle ziviler Einrichtungen übertragen. So kontrolliert das Verteidigungsministerium mehrere Flughäfen sowie Infrastrukturprojekte wie den Touristenzug „Tren Maya“ oder den „Transístmico“, eine Container­verbindung zwischen dem Atlantik und dem Pazifik. Auch die Nationalgarde wird entgegen anderer Versprechungen immer weiter militarisiert. Sheinbaum verteidigt diese Stärkung des Militärs ebenso wie die auf fossile Brennstoffe orientierte Energiepolitik ihres Mentors, obwohl sich die Umwelttechnikerin in ihrer Amtszeit als Hauptstadtbürgermeisterin sehr für eine nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen einsetzte.

Im Gegensatz zu López Obrador hat die 61-Jährige aber nicht das Charisma, um dessen populistischen Diskurs fortzuführen. Die dadurch entstehende Leere sei groß, aber nicht unüberwindbar, meint der Historiker ­Lorenzo Meyer in der Tageszeitung ­Universal

Ein Klima der Polarisierung so zu nutzen, wie López Obrador es tat, um das Volk fühlen zu lassen, in seinem Namen zu sprechen, ist der Politikerin nicht gegeben, das sieht auch Analyst Patterson so. „Sheinbaum muss ihre Legitimation im Volk über die Ergebnisse erreichen“, folgert er. Das kann von Vorteil sein, denn AMLOs aggressive Polemik hat viele von ihm abrücken lassen: Akademiker, Feministinnen, Menschenrechtsverteidiger, indigene Gemeinden. Die gemäßigt auftretende Sheinbaum könnte einer weiteren Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken.

Politisch kann sie auf große Rückendeckung setzen: Mit ihren Koalitionspartnern, der Grünen Partei (PVEM) und der Arbeiterpartei (PT), stellt Morena die Mehrheit im Parlament und im Senat, 20 von 32 Bundesstaaten werden von der Partei regiert. Sie alle unterstützen Sheinbaums Kandidatur. Ihre Rivalin Xóchitl Gálvez ist dagegen sogar innerhalb des oppositionellen Bündnisses aus der sozialdemokratischen PRD, der Ex-Staatspartei PRI und der konservativ-wirtschaftsliberalen PAN umstritten. Die 60-Jährige wurde aufgestellt, weil sie AMLO publikumswirksam Kontra gegeben hatte. 

Doch die Entscheidung erscheint wie ein verzweifelter Akt einer inhaltlich schwachen und zerstrittenen Opposition, die sich im Wesentlichen an López Obrador abarbeitet. „Mexiko ist heute schlimmer als jedes Land im Kriegszustand“, zitiert die linke Plattform Pie de ­Página aus einer von Gálvez’ Wahlkampfreden, die eine „Botschaft der Flüche“ gewesen sei. Alberto Rubio schrieb auf dem Portal ­sdpnoticias über dieselbe Rede, die „Hoffnungsträgerin“ habe eine „deutliche Vision für Mexiko“ gezeichnet.

Trotz der Kontroversen verweist Gálvez’ Kandidatur auf politische Verschiebungen, und das nicht nur, weil sie auch eine Frau ist. Sie stellt nicht, wie zu erwarten wäre, den rechten Gegenpol zu Sheinbaum dar. Die Politikerin entstammt armen, indigenen Verhältnissen und verortet sich „mitte-links“. Das könnte ihre Rivalin Stimmen kosten. Dennoch hat Sheinbaum wohl nichts zu befürchten. Nach Angaben des US-Portals Forbes hat die Morena-Kandidatin in jüngsten Umfragen noch um einige Punkte zugelegt. Dem Meinungsforschungsinstitut Mitofsky zufolge könnte sie sogar über 60 Prozent der Stimmen für sich verbuchen, während ihre Kontrahentin auf 30 Prozent käme.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2024, S. 120-123

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Wolf-Dieter Vogel lebt in Oaxaca und schreibt seit zwei Jahrzehnten über Mexiko und die Staaten Mittelamerikas.

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