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01. Dez. 2003

Ein neuer Global Player

Die Macht der öffentlichen Meinung

Zwei Klischees gibt es, wenn es um die Bedeutung von Umfragen für die Politik geht: Nach dem einen hängt der geschickte Politiker sein Mäntelchen jeweils nach dem Wind der letzten Meinungsumfrage, und nach dem anderen benutzt der gerissene Politiker Umfragen nur, um die Öffentlichkeit zu manipulieren. Die amerikanischen Wissenschaftler Kennedy und La Balme weisen anhand von Fallstudien nach, dass die Wirklichkeit komplizierter ist, als es diese Klischees vermuten lassen.

Meinungsumfragen sind zu einem wesentlichen Bestandteil des politischen Diskurses in den Vereinigten Staaten und Europa geworden. Beinahe täglich liest oder hört man von irgendeiner neuen Studie öffentlicher Einschätzungen über alle möglichen vordringlichen außen- und innenpolitischen Themen. Die Ergebnisse dieser Studien sind häufig provozierend, und wenn sie mit methodischer Exaktheit ausgeführt wurden, ermöglichen sie wirkliche Einsichten in die „öffentliche Stimmung“ zu einem gegebenen Zeitpunkt. Doch wie passt die Meinungsforschung in den politischen Prozess? Sind Umfragen schlicht interessante Schnappschüsse von aktuellen Einstellungen der Bevölkerung, oder gehören sie inzwischen als fester Bestandteil zur politischen Willensbildung?

Der Einfluss der öffentlichen Meinung auf die Politik wurde gelegentlich von Autoren wie Gabriel Almond 1 und Walter Lippmann 2 als gering beschrieben, vor allem auf außenpolitischem Gebiet. Heute wird sie dagegen als mächtige Kraft geschildert, deren Missachtung für Politiker ein großes Risiko bedeutet. Diese Faszination hat zu verschiedenen Sichtweisen geführt, wie Meinungsforschung mit dem politischen Prozess interagiert. Eine sieht die Politiker als Sklaven der jeweils jüngsten Meinungsumfragen, die jede ihrer Reden und Aktionen nach den scheinbaren Wünschen ihrer Hauptwählerschaft in diesem Moment ausrichten müssen. Andere sehen im Gegensatz dazu Politiker als zynische Manipulierer, die Umfragen dazu benützen, ihre Public-Relations-Strategien zu entwerfen und zu verfeinern, um so die Öffentlichkeit auf die Linie ihrer eigenen politischen Interessen zu bringen.

Die wahre Beziehung zwischen Meinungsforschung und der Welt der Politik ist offensichtlich komplexer und nuancierter, als diese zwei populären Klischees suggerieren. Politiker geben Umfragen für ihre eigenen Zwecke in Auftrag, aber sie analysieren auch sehr genau die Ergebnisse der von den Medien, politischen Instituten und der Wissenschaft veranstalteten Untersuchungen. Zum Beispiel wurde die Entscheidung von Präsident George W. Bush, im September 2002 vor den UN-Sicherheitsrat zu gehen, um Unterstützung für die Aktion gegen Irak zu bekommen, überwiegend dem öffentlichen „Druck“ zugeschrieben – was Umfrageergebnisse belegten, die zeigten, dass die Öffentlichkeit Gewalt gegen Irak billigte, falls es ein UN-Mandat gebe. Der Journalist Eric Altermann schrieb, es sei „wahrscheinlich, dass der einzige Grund, warum die (Bush)-Administration überhaupt in die Nähe des Sicherheitsrats ging, bevor sie entschied, in Irak einzumarschieren, war, dass die Umfragen besagten, ein UN-Auftrag sei notwendig für die Unterstützung der Mehrheit.“3

Andererseits wissen wir auch, dass andere Politiker anscheinend bereit sind, die öffentliche Meinung zu ignorieren, wenn sie eine bestimmte politische Position für korrekt halten, vor allem, wenn die Sache das Wählerverhalten bei den nächsten Wahlen nicht bestimmen wird. Gleichermaßen klar ist, dass die Kausalität nicht nur in eine Richtung wirkt; ebenso wie Meinungsforschungsergebnisse politische Aktivitäten formen, prägen auch die Rhetorik, die Entscheidungen und die politischen Erfolge unserer gewählten Vertreter die öffentliche Meinung. Die meisten Briten waren gegen Tony Blairs Position zum Irak-Krieg; doch seine starke und unbeugsame Verteidigung der Intervention hat das Ausmaß dieser Opposition zweifellos verringert. So mag die öffentliche Meinung George W. Bush zwar zu den Vereinten Nationen getrieben haben – doch es ist ebenso wahrscheinlich, dass Bushs Rhetorik vor den Wochen der tatsächlichen Invasion wesentlich dazu beigetragen hat, die amerikanische öffentliche Unterstützung für die Intervention aufzubauen.

Wie diese Beispiele zeigen, ist die Beziehung zwischen öffentlicher Meinung und dem politischen Prozess ein komplizierter Vorgang, bei dem unsere gewählten Repräsentanten in einer Art komplexem Tanz auf die öffentliche Meinung gleichzeitig reagieren und sie zu formen versuchen. Zur Dynamik dieses Prozesses gibt es sehr wenig Grundlagenforschung. Zwar haben einige wenige Studien versucht, die verschiedenen Elemente dieser Beziehung zu entflechten, aber es gibt keine definitive Untersuchung, die die kausalen Verbindungen zwischen öffentlicher Meinung und der Produktion von Politik adäquat beschreibt.

Wenn also die Details dieser Beziehung im Moment noch unbekannt sind, können wir doch einige Arten und Weisen ausmachen, wie dieser interaktive Prozess funktioniert. Basierend auf unserer eigenen Erfahrung mit zwei groß angelegten Untersuchungen der amerikanischen und europäischen öffentlichen Meinung zu Fragen der Außenpolitik betrachten wir drei Aspekte dieser Beziehung und untersuchen, wie die öffentliche Meinung die Handlungen von Politikern und Regierungsvertretern formt und von ihnen wiederum geformt wird. In dem Versuch, diese drei Stränge zusammenzubringen, beenden wir unsere Betrachtung mit einer Fallstudie zu der Rolle, die Meinungsforschung kürzlich in einem politischen Drama gespielt haben könnte.

Politiker und Meinungsforschung

Seit mindestens vier Jahrzehnten haben Politiker und ihre Berater die öffentliche Meinung durch Umfragen, Zielgruppenanalysen und andere Methoden kennen zu lernen versucht, um die Reaktion der Wähler zu politischen Persönlichkeiten und Aktionen einzuschätzen. Umfragen von Kandidaten, den Medien und anderen werden am intensivsten im Verlauf von Wahlkämpfen veranstaltet. Andererseits greifen fast alle wichtigen politischen Führungsfiguren in den Vereinigten Staaten und viele ihrer Pendants in Europa kontinuierlich auf Meinungsumfragen zurück, die ihnen Navigationshilfen für die komplexen Schwierigkeiten des Regierens bieten. Selbst auf dem Gebiet der Außenpolitik, wo das Herausfinden der öffentlichen Meinung traditionell weniger dringlich war als in der Innenpolitik, sind die Umfragen immer häufiger geworden, vor allem in Zeiten des Krieges.

Aber während wir wissen, dass unser derzeitiges und zukünftiges Regierungspersonal regelmäßig Umfragematerial benutzt, wissen wir weit weniger, wie es dieses Instrument einsetzt, um den Puls der Öffentlichkeit zu fühlen. Bestärkt die öffentliche Meinung nur ihre Entscheidungsfindung, oder hat sie direktere Auswirkungen auf politische Weichenstellungen? Nutzen Politiker Umfragen, um ihrer Hauptwählerschaft zu folgen, oder zeigen diese Ergebnisse Bereiche auf, in denen sie Führung und Visionen zeigen müssen, um die Öffentlichkeit von ihrer Politik zu überzeugen?

Die Überfülle von Meinungsumfragen hat die weit verbreitete Vorstellung geschaffen, dass Politiker ihre Vorschläge und Positionen entwerfen, um sie der herrschenden öffentlichen Meinung anzupassen. Lawrence Jacobs und Robert Shapiro jedoch argumentieren in einem provokativen Buch4 im Gegenteil, dass Politiker, stehen sie nicht vor Wahlen, die politischen Wunschvorstellungen ihrer Wähler ignorieren. Nach dieser Analyse verfolgen Politiker lieber ihre eigenen politischen Philosophien und ideologischen Fixierungen, als ihre Ideen der öffentlichen Gefühlswelt anzupassen. Obwohl sie beträchtliche Summen für die Erkundung der öffentlichen Meinung ausgeben, machen sie das nicht zum Zweck der Politikberatung, sondern eher, um die öffentliche Meinung zu ändern oder um herauszufinden, wie sie ihre öffentlichen Äußerungen formulieren sollen, um Unterstützung für die von ihnen favorisierte Politik zu bekommen.

Eine Untersuchung, die 2001 von der Henry J. Kaiser Family Foundation in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Public Perspective durchgeführt wurde, scheint diese Schlussfolgerung zu bestätigen. Darin wurde untersucht, wie verschiedene Politiker Meinungsumfragen auffassen, um herauszufinden, ob diese als ein effektives Instrument betrachtet wurden, mit dem die Bevölkerung der politischen Führung ihren Willen mitteilte. Die Studie ergab, dass zwar 76 Prozent der Politiker Meinungsumfragen als sehr nützlich oder etwas nützlich betrachteten, um die Gefühle der Öffentlichkeit zu wichtigen Themen zu erfahren, aber nur 16 Prozent fanden, dass Umfragen in PR-Kampagnen bei der Gestaltung einer neuen Politik eine sehr große Rolle spielten. Im Vergleich dazu meinten 41 Prozent, dass Umfragen eine sehr große Rolle spielen, wenn es darum geht, in PR-Kampagnen eine neue Politik zu erklären. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Meinungsforschung zwar helfen kann, die „Sprache“ einer politischen Botschaft zu formen, nicht aber den Inhalt.

Wenn man politische Präferenzen beobachtet, kann man Worte, Argumente und Symbole in spezifischen Politikbereichen ausmachen, die äußerst effektiv sein können, wenn es darum geht, zur Unterstützung politischer Ziele die öffentliche Meinung zu ändern. Michael Deaver, ein wichtiger Berater Ronald Reagans, notierte: „Bei Reagan wurden Umfragen nicht dazu benutzt, die Politik den vorherrschenden Stimmungen anzupassen. Stattdessen waren es Instrumente, um herauszufinden, wie man Leute von einer Idee überzeugen kann.“5 Ähnlich formulierte es Dick Morris, Meinungsforscher von Präsident Bill Clinton, der sagte: „(Meinungsforscher und das Weiße Haus unter Clinton) benutzten eine Meinungsumfrage nicht, um ein Programm umzubauen, sondern um die Argumentation für das Programm so umzubauen, dass die Öffentlichkeit es unterstützte.“6

Also können Politiker Umfrageergebnisse dazu benutzen, die Präsentation ihrer Politik so zu gestalten, dass sie öffentliche Unterstützung für das bekommen, was sie selbst wünschen. Aber Meinungsumfragen können für Politiker in dreifacher Hinsicht nützlich sein:

1.sie können öffentliche Unterstützung für eine Idee generieren,

2.sie können verschiedene politische Optionen erproben,

3.sie können die politische Brisanz einer Entscheidung herausfinden.

Tatsächlich können Umfrageergebnisse, noch bevor man sie benutzt, um eine Botschaft zu formulieren, ein nützlicher Indikator dafür sein, ob eine politische Option dem Publikum „verkauft“ werden muss oder ob es diese Option de facto unterstützen wird. Umfrageergebnisse können zudem enthüllen, welche politischen Optionen – wenn die Regierung zwischen mehreren entscheiden muss – der Öffentlichkeit am besten gefallen. Schließlich wird die politische Verdaubarkeit einer außenpolitischen Option – außer in Fragen von Krieg und Frieden – häufig als marginal empfunden, oder jedenfalls als geringer als in der Innenpolitik. Umfrageergebnisse können ein nützlicher Indikator dafür sein, welchen Spielraum ein Politiker in der Formulierung seiner Außenpolitik hat.

Es wäre jedoch nicht unvernünftig, diese vermeintliche Unabhängigkeit in Frage zu stellen. Wie Jacobs und Shapiro gezeigt haben, nehmen Umfragen andere Formen an, wenn ein Politiker vor der Wiederwahl steht. Das wirft die interessante Frage auf, wann der Wahlkampf tatsächlich beginnt. In den USA fangen Präsidentenwahlkampagnen Monate vor den tatsächlichen Wahlen an, und Kandidaten für das Repräsentantenhaus müssen oft einen permanenten Wahlkampf führen, bis sie eine stabile Wählerschaft für sich geschaffen haben. Sogar in Europa, wo der eigentliche Wahlkampf viel kürzer ist als in den USA, spürt man, dass die politische Saison für manchen hoffnungsvollen und derzeitigen Amtsinhaber Monate vor dem „offiziellen“ Start beginnt.

Wahrscheinlicher ist es, dass einige Politiker Umfrageergebnisse benutzen, um ihre Wählerschaft während ihrer gesamten Amtszeit zu beeinflussen, weil sie sich für politisch verwundbar halten und sich den Luxus, die öffentliche Meinung zu ignorieren, nicht leisten können. Im Gegensatz dazu verändert sich für andere Politiker die Funktion der Meinungsumfragen im Verlauf einer politischen Periode, wenn Wahlen näher kommen.

Wer führt wen?

Wenn Umfrageergebnisse Politikern nützen, um ihre öffentlichen Äußerungen zu gestalten und Unterstützung für ihre Politik zu gewinnen, dann kann die Rhetorik gewählter Politiker ebenso die öffentliche Meinung formen. Die öffentliche Unterstützung für den Irak-Krieg war am höchsten in den USA und Großbritannien, also in den beiden Ländern, deren politische Führer sich am beredtsten für die Intervention eingesetzt hatten. Eine Analyse der Bush-Reden während dieser Krise zeigt tatsächlich eine Korrelation zwischen der öffentlichen Unterstützung für eine Politik und der Häufigkeit der Reden. Während der Krise entwickelte Bush so etwas wie eine „Kohäsionsrhetorik“.

Umfrageergebnisse zeigen, wie Bush es schaffte, innerhalb weniger Wochen von Ende Januar bis Anfang Februar die nationale Aufmerksamkeit wieder auf die Krise mit Irak zu lenken und die öffentliche Unterstützung für eine Militäraktion zu erneuern. Die Unterstützung für den Krieg nahm zwischen Mitte Januar und Mitte Februar zu, ein Zuwachs, der mit Bushs „State-of-the-Union“-Rede begann und aufrechterhalten wurde durch die Ansprache von Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat. Eine Umfrage von CNN und USA-Today zwischen dem 7. und 9. Februar zeigte, dass 63 Prozent der Amerikaner für eine Invasion in Irak waren, 5 Prozent mehr als am 31. Januar/2. Februar, also vor dem UN-Auftritt Powells – vor Bushs „State-of-the-Union“-Rede waren es sogar nur 52 Prozent gewesen. Eine Umfrage der Los Angeles Times vor Powells Rede und danach brachte dieselben Ergebnisse; die Zustimmung zu Bushs Umgang mit dem Saddam-Hussein-Problem in Irak kletterte von 54 Prozent auf 60 Prozent nach seiner Rede.

Mehr als ein Jahrzehnt früher hatte Staatspräsident François Mitterrand diese Technik eingesetzt, um während der ersten Golf-Krise die französische Öffentlichkeit für den Krieg zu mobilisieren. Im Herbst 1990, als die Alliierten sich auf die Operation „Desert Storm“ vorbereiteten, war die Mehrheit der französischen Öffentlichkeit schon für Frankreichs Beteiligung an der multilateralen Militäroperation. Trotzdem fühlte Mitterrand sich veranlasst, die Öffentlichkeit noch stärker zu mobilisieren. Das erklärt seine beispiellose Kommunikationsanstrengung. Zwischen August und Dezember hielt er in entscheidenden Momenten der Krise (etwa während der Geiselkrise und der Attacke auf die Residenz des französischen Botschafters in Kuwait) sechs Pressekonferenzen ab. Er wollte damit „erziehen“, und wie es der frühere Außenminister Hubert Védrine sah, „die Öffentlichkeit auf die unausweichlichen Konsequenzen der von Saddam Hussein ausgelösten Kriegslogik vorbereiten“.7 Weil er unsicher war, wie das Publikum reagieren würde, und um eine mögliche Revolte zu vermeiden, übernahm Mitterrand die Führung.

Diese beiden Beispiele scheinen nicht nahe zu legen, dass Politiker ständig auf die Reaktion der Öffentlichkeit schielen müssen, im Gegenteil: sie können ebenso die Führung übernehmen und öffentliche Haltungen verändern. Die Äußerungen und Taten politischer Eliten – und die mediale Darstellung und Interpretation – tragen dazu bei, individuelle Präferenzen und Interessen zu steuern und zu ändern. Dieser Einfluss der Politik auf die öffentliche Meinung ist nicht nur auf kurzzeitige Führungsanstrengungen beschränkt: Die generelle Organisation politischer Institutionen und Prozesse beeinflusst auch die öffentliche Meinung und strukturiert individuelle Vorlieben.

Obwohl es also ein komplexer Tanz ist, spielt die öffentliche Meinung für die Gestaltung von Außenpolitik durchaus eine Rolle. Politiker reagieren auf die Bevölkerung, und Meinungsumfragen sind für sie ein nützliches Werkzeug. Aber ebenso können politische Eliten die Öffentlichkeit auch auf eine Politik einstimmen, die anfangs keine bedeutende öffentliche Unterstützung hatte.

Eine weitere Dimension der Beziehung zwischen Politik und öffentlicher Meinung ist der Einsatz von Umfrageergebnissen, um eine Debatte auszulösen, einen politischen Standpunkt zu demonstrieren oder sogar politische Partner zu beeinflussen. Der Fall von „Worldviews 2002“ und „Transatlantic Trends 2003“ ist in dieser Hinsicht bemerkenswert. Die bloße Fülle der Medienberichterstattung über diese beiden Studien ist bezeichnend. Sowohl europäische als auch amerikanische Journalisten benutzten die Ergebnisse dieser Umfragen, um den Stand der transatlantischen Beziehungen in einer Periode extremer Spannungen zu debattieren. Die Daten weckten das Interesse der Medien, die sich an der anhaltenden Diskussion beteiligten, wie Amerikaner und Europäer einander, die Welt und ihre jeweilige Rolle in ihr sehen. Sie beflügelten auch eine Debatte über die zentralen Werte und Themen, die Amerikaner und Europäer verbinden oder trennen.

Umfragedaten können also als ein politisches Instrument eingesetzt werden, wenn man mit nationalen und ausländischen Partnern verhandelt. Wenn die öffentliche Meinung zum Beispiel sehr stark in eine Richtung drängt, können Diplomaten und Unterhändler dies als Argument benutzen, warum sie in einem Punkt, auf dem ihr Gegenüber insistiert, nachgeben oder nicht nachgeben können. Haben die Studien „Worldviews 2002“ und „Transatlantic Trends 2003“ also tatsächlich einen Einfluss auf politische Entscheidungen gehabt – sei es in den USA oder in Europa? Sicher bestätigen können wir das nicht. Aber sie haben auf jeden Fall eine beträchtliche Debatte in den Medien und transatlantischen Politikzirkeln ausgelöst.

Die drei Dimensionen des Zusammenhangs von Politik und öffentlicher Meinung, die hier beschrieben wurden, zeigen, wie die öffentliche Meinung die Aktivitäten politischer Führer formt und von ihnen geformt wird. Eine Analyse der folgenden Fallstudie – Bundeskanzler Gerhard Schröder während des Irak-Kriegs – wird es uns gestatten, die verschiedenen Stränge dieser Beziehung zusammenzuführen.

Schröder und der Irak-Krieg

Die Irak-Frage hätte auch überhaupt keinen Einfluss auf die Wahlen in Deutschland im September 2002 haben können. Deutschland ist kein ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, es hatte zur Zeit der Wahlen dort keinen Sitz, und die Stimmen der deutschen Bürger hatten kaum Einfluss auf die UN-Resolutionen und die Entscheidungen des amerikanischen Präsidenten.

Die Irak-Frage wurde aus dem einzigen Grund zum zentralen Thema des Wahlkampfs: weil Schröder entschieden hatte, sie sich zu eigen zu machen. Das stellte sich dann als einer der Wendepunkte des deutschen Wahlkampfs heraus. Von Anfang an hatte Schröder erklärt, dass er einen Präventivkrieg in Irak ablehne und glaube, dass die Zerstörung der Massenvernichtungswaffen auf anderem Wege als mit Gewalt erreicht werden könne; er betonte, dass Deutschland sich an keiner Militäraktion in Irak beteiligen werde.

Es ist wahrscheinlich, dass er diese Position vertrat, weil er die deutsche öffentliche Haltung dazu kannte. Meinungsumfragen zu jener Zeit zeigten, dass die Öffentlichkeit seine Position stark unterstützte. Schröders Zustimmungsrate stieg zwischen dem 12. August und dem 4. September 2002 von 67 Prozent auf 71 Prozent. 8 Sein Widersacher Edmund Stoiber vertrat die Gegenposition, bis Meinungsumfragen zeigten, dass mehr als zwei Drittel der Deutschen fanden, Schröders Regierung sollte ihre Position trotz wachsender Spannungen mit den USA nicht aufgeben. Mitte September meinten 58 Prozent des deutschen Publikums, dass Schröder ihre Haltung zur deutschen Beteiligung an einem Irak-Krieg besser vertrat als Stoiber (27 Prozent). Gewann also Schröder die Wahlen auf der Basis seiner Haltung zu Irak? Nein, aber sie trug sicherlich zu seinem Erfolg bei. Zu dieser Zeit meinte fast ein Viertel der Deutschen, dass die Position des Kandidaten zu Irak ihr Wahlverhalten beeinflusse (15 Prozent fanden sogar, dass ein eventueller Krieg in Irak für ihr Wahlverhalten wichtiger sei als die Arbeitslosigkeit, acht Prozent sahen beide Themen als gleich wichtig an).

Also war ein außenpolitisches Thema, das zwei Monate vor den Wahlen noch auf keinem Radarschirm aufgetaucht war und zur Zeit der Wahl immer noch eine eher hypothetische Frage war, für ein Viertel der deutschen Wähler entscheidend. Selbst wenn es dabei um rein innenpolitische Erwägungen ging, schien die Haltung der deutschen Öffentlichkeit zu Irak eindeutig einen Einfluss auf Schröders Position nicht nur zur Zeit der Wahlen zu haben, sondern auch danach, als die Krise da war. Meinungsumfragen ermutigten Schröder nicht nur, diese Frage anzusprechen, seine klare Position hat wahrscheinlich ebenso dazu beigetragen, die deutsche öffentliche Meinung zum Irak-Krieg zu festigen.

Diese Beispiele erhellen die Komplexität der Beziehung zwischen öffentlicher Meinung und Politik ein wenig. Die Empfänglichkeit von Politikern für die öffentliche Meinung spricht gegen die Klassifizierung in die Extrempositionen von entweder völliger Abhängigkeit oder hartnäckiger Unempfindlichkeit. Der Zusammenhang zwischen Meinung und Politik ist eher interaktiv und gegenseitig als eindimensional. Die Herausforderung besteht darin, die zeitlichen Veränderungen der Empfänglichkeit von Politikern für öffentliche Vorlieben zu erklären.

Wenn also der Stand des Wahlprozesses eine klare Determinante des öffentlichen Einflusses ist – der ist nämlich kurz vor oder während der Wahlen größer als zu Beginn eines Wahlkampfs, wenn noch Zeit besteht, eine unpopuläre Entscheidung wieder vergessen zu machen –, dann können auch noch andere wesentliche Variablen identifiziert werden, dies es ganz generell möglich machen zu verstehen, was diese komplexe Beziehung bestimmt.

Eine solche Variable ist die Vorstellung, die die Politiker von der öffentlichen Meinung haben, und ihre Sensibilität gegenüber bestimmten Themen. In dieser Hinsicht spielen die Medien eine entscheidende Rolle, indem sie als Resonanzboden fungieren. Je mehr mediale Aufmerksamkeit ein Thema bekommt, desto wahrscheinlicher sind Politiker geneigt, dem Publikum zuzuhören, und die Themen Krieg und Frieden sind natürlich brisant. Politiker behalten die Macht, politische Entscheidungen zu treffen und zu führen. Wenn die öffentliche Meinung die Außenpolitik beeinflusst, dann hängt das zum großen Teil von der Bereitschaft der Regierung selbst ab, auf sie zu hören.

Anmerkungen

1 Vgl. Gabriel Almond, The American People and Foreign Policy, New York 1950.

2  Vgl. Walter Lippmann, Public Opinion, New York 1922.

3  Eric Alterman, Observer – Red, white & blues, in: Australian Financial Review, 22.2.2003.

4  Lawrence Jacobs/Robert Shapiro, Politicians Don’t Pander, Chicago 2000.

5  Zitiert bei Jacobs/Shapiro, a.a.O. (Vorbemerkung, unpaginiert).

6  Ebenda (Vorbemerkung, unpaginiert).

7  Hubert Védrine, Les Mondes de François Mitterrand, Paris 1996, S. 540.

8  Diese Angaben beruhen auf den Ergebnissen von Umfragen, die von Emnid im August und September 2002 durchgeführt worden sind.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2003, S. 12 - 20

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