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01. Nov. 2002

Die wahre Kluft im transatlantischen Verhältnis

In europäischen und amerikanischen Medien ist seit dem 11. September 2001 viel über das sich verschlechternde transatlantische Verhältnis geschrieben worden. Doch sieht die Öffentlichkeit dies nicht so. Eine Studie des German Marshall Fund of the United States und des Chicago Council on Foreign Relations über die Einstellungen der Bevölkerung zur Außenpolitik in den USA und in sechs europäischen Ländern gibt Aufschluss, wo die Unterschiede wirklich liegen.

Für diejenigen, die einen dauerhaften Bruch zwischen den Vereinigten Staaten und Europa befürchten, gibt es gute Nachrichten: Amerikaner und Europäer haben zu mehr Themen die gleichen Ansichten als man dies beim Lesen der New York Times oder von Le Monde erwarten würde. Gleichzeitig gibt es bedeutende Unterschiede zwischen der europäischen und der amerikanischen Bevölkerung. Bei den vier sensibelsten Themen: Bedrohungswahrnehmung, Führerschaft, Verteidigungsausgaben und dem Nahost-Konflikt fühlen sich Europäer wie Amerikaner gleichermaßen in der bitteren Schärfe ihrer jeweiligen Kommentatoren aus der Elite gut aufgehoben.

Sie waren sich in diesen Fragen noch nie einig. Dennoch hielt das transatlantische Bündnis in den Zeiten des Ost-West-Konflikts, weil diese Unterschiede in der Wahrnehmung und bei der Prioritätensetzung dem Kampf gegen einen gemeinsamen Feind untergeordnet waren. Jetzt sind diese Konfliktfragen aus dem Hintergrund in den Vordergrund gerückt und könnten möglicherweise die künftige Kooperation bei besonders wichtigen strategischen Herausforderungen in Asien, dem Nahen Osten und sonst wo gefährden.

Erstens, und vor allem: Amerikaner und Europäer scheinen sich zu mögen. Bei der Frage, auf einer 100-Punkte-Skala den Grad der Zuneigung gegenüber verschiedenen Ländern anzugeben, geben die Amerikaner den Deutschen 61 Punkte und den Briten 76. In beiden Fällen ist die Zuneigung der Amerikaner zu diesen beiden führenden Ländern Europas bedeutend größer als für alle anderen Länder, außer Kanada. Die Europäer bescheinigen den Vereinigten Staaten ebenfalls eine große Zuneigung, mit 68 Punkten am höchsten in Großbritannien und mit 59 am geringsten in den Niederlanden. Sogar die befragten Franzosen stufen die Amerikaner höher ein als die meisten ihrer europäischen Nachbarn (aber niedriger als die Europäischen Union insgesamt).

Darüber hinaus wollen Amerikaner und Europäer, dass ihre Regierungen so weit wie möglich zusammenarbeiten. Fast 80% der Amerikaner wünschen, dass die Europäer eine starke Führerschaft in der Welt ausüben. Bei der Frage, ob die USA mehr Entscheidungen mit Europa gemeinsam fällen sollten, selbst wenn dies bedeuten würde, dass die USA in einigen Fällen Kompromisse eingehen müssten, befürworten dies 70% der Amerikaner.  Auf der europäischen Seite sähe eine Mehrheit gern die EU als eine Supermacht wie die Vereinigten Staaten. Gefragt, ob die EU als Supermacht mit den Vereinigten Staaten eher konkurrieren oder kooperieren sollte, sprachen sich 84% für Kooperation aus. Bei ähnlichen Fragen wählten Amerikaner und Europäer fast immer die transatlantische Zusammenarbeit statt der Alternativen.

Europäische Kritiker der Vereinigten Staaten haben oft behauptet, die Vereinigten Staaten seien isolationistisch. Wir haben beide Seiten gefragt, ob ihr Land in der Welt eine aktive Rolle einnehmen oder sich aus der internationalen Politik heraushalten sollte. Eine große Mehrheit von Amerikanern (71%) und Europäern (78%) stimmten für eine aktive Rolle. Aber die Vereinigten Staaten haben auch ihre Isolationisten. Dieser Umfrage zufolge würden sich 25% aus der Weltpolitik heraushalten. Allerdings ist dieser Prozentsatz kaum höher als in Deutschland (23%) und den Niederlanden (24%).

Amerikaner und Europäer haben auch weitgehend übereinstimmende Ansichten über die globalen Gefahren und über die Länder, die für sie von besonderem Interesse sind (siehe Grafik auf S. 5). Wenig überraschend ist, dass Terrorismus und islamischer Fundamentalismus auf der Gefahrenskala für beide Seiten sehr weit oben angesiedelt sind. Andere Gefahren, wie beispielsweise der Klimawandel, rufen sehr ähnliche Reaktionen bei Amerikanern und Europäern hervor. Aber es gibt Ausnahmen von dieser generellen Übereinstimmung: 56% der Amerikaner glauben z.B., dass Chinas Aufstieg zur Weltmacht eine entscheidende oder sehr wichtige Bedrohung darstellt, während nur 18% der Europäer dieser Ansicht sind.

Wie sieht es mit der Unterstützung für multilaterale Institutionen aus? Wieder sind amerikanische und europäische Ansichten recht ähnlich. Bei der Frage, ob die Vereinten Nationen gestärkt werden sollten, sagen 77% der Amerikaner und 75% der Europäer „ja“. Bei anderen Fragen in Bezug auf die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds, die NATO und andere internationale Institutionen, ließen sich keine klaren transatlantischen Unterschiede festmachen.

Eines der interessantesten Ergebnisse dieser Studie betrifft die Einstellung zum Einsatz von militärischer Gewalt. Eine Reihe von hypothetischen Fragen hierzu beantworteten Amerikaner und Europäer auf sehr ähnliche Weise, was die Behauptung von Robert Kagan und anderen, Europa sei zu einem Paradies der Pazifisten geworden, widerlegt. Eine breite Mehrheit auf beiden Seiten befürwortet den Einsatz von Gewalt in vielen Situationen: 80% der Europäer und 76% der Amerikaner stimmen darin überein, dass zur Aufrechterhaltung des Völkerrechts militärische Gewalt eingesetzt werden sollte.

Einige Szenarien in Bezug auf den Einsatz von Gewalt brachten allerdings unterschiedliche Ergebnisse zutage: Amerikaner unterstützen eher eine Militäraktion zur Zerstörung von Terroristenlagern, während Europäer eher geneigt sind, zur Beendigung von Bürgerkriegen Gewalt anzuwenden.

Gilt diese generelle Übereinstimmung auch für den Einsatz von Gewalt bei einer Invasion Iraks? Ja. Sowohl Amerikaner als auch Europäer befürworten nachdrücklich eine von den Vereinten Nationen sanktionierte Invasion, die von Verbündeten mitgetragen wird. Die absolute Ablehnung einer amerikanischen Invasion ist zwar in Europa größer (26%) als in den Vereinigten Staaten (13%), aber dennoch eher gering.

Zum Einmarsch in Irak

GB

F

D

NL

I

PL

Europa

USA

USA sollten nicht einmarschieren

20

27

28

18

33

26

26

13

Nur zusammen mit UN- und Bündnisunterstützung

69

63

56

70

54

53

60

65

USA sollten allein einmarschieren

10

6

12

11

10

10

10

20

Andere Statistiken untermauern diese Ergebnisse. Für Europa experimentierten wir mit acht Szenarien für einen amerikanischen Einmarsch in Irak. Eine Variable in diesem Vergleich stellte sich als besonders robust heraus: Solange die Vereinten Nationen die amerikanischen Maßnahmen unterstützen, sind die Europäer bereit, sich zu beteiligen. In Großbritannien wächst die Unterstützung um 30%, wenn die Vereinten Nationen in die Formulierung der Frage einbezogen sind. Allerdings gibt es in keinem europäischen Land eine mehrheitliche Unterstützung für einen Einmarsch in Irak ohne UN-Mandat. Die Ablehnung einer rein amerikanischen Intervention in Irak durch den deutschen Bundeskanzler, Gerhard Schröder, wird verständlich, wenn man sich die geringe Unterstützung der Deutschen für einen Militäreinsatz gegen Saddam Hussein ansieht. In unserer Befragung stieg die deutsche Unterstützung für einen Militäreinsatz nie über 41%, während sich die Ablehnung zwischen 49% und 72% bewegte, je nach Szenario.

Gefährliche Unterschiede

Andere, eher beunruhigende Zahlen wiegen diese positiven Ergebnisse allerdings auf und legen nahe, dass die transatlantische Kooperation sehr viel schwieriger werden könnte. Erstens mögen Amerikaner und Europäer die gleiche Vorstellung von den globalen Gefahren haben. Sie sind aber unterschiedlicher Meinung wie schwerwiegend sie sind. Zweitens müssen sich Amerikaner und Europäer noch auf eine Formel einigen, wie sie die globale Führerschaft untereinander aufteilen wollen. Drittens haben Amerikaner und Europäer unterschiedliche Ansichten über die angemessene Höhe der Verteidigungsausgaben. Viertens haben Amerikaner und Europäer weit auseinanderliegende Ansichten über den Nahost-Konflikt. Jeder dieser Bereiche ist für die Gestaltung, Durchführung und Ausrichtung eines effektiven transatlantischen Bündnisses von entscheidender Bedeutung. Uneinigkeit in allen vier Punkten gibt Anlass zu  ernsthaften Bedenken.

Amerikaner und Europäer stufen die Gefahren mehr oder weniger in gleicher Reihenfolge ein. Aber Amerikaner empfinden die Welt viel bedrohlicher als die Europäer (Schaubild auf S. 49). Insbesondere schätzen Amerikaner den Terrorismus und die damit zusammenhängenden Gefahren viel höher ein als Europäer. Erklärungen für diese auffälligen Unterschiede beginnen schon mit den Auswirkungen des 11. September auf das Sicherheitsgefühl der Amerikaner. Dennoch haben diese gegensätzlichen Ansichten, unabhängig von ihren Ursachen, direkte Konsequenzen für die Politikgestaltung. Zumindest was das letzte Jahr betrifft, war die amerikanische Politik von dem Glauben getrieben, dass ernsthafte Bedrohungen unmittelbare Maßnahmen erfordern. Im Gegensatz waren europäische Politiker der Ansicht, dass die USA überstürzt handelten und möglicherweise die Risiken durch Terrorismus oder andere Gefahren überbewerteten. Europäer denken vielleicht, dass Saddam Hussein eine Gefahr darstellt, weil er Massenvernichtungswaffen produziert, aber sie sehen in einem Sturz seines Regimes nicht dieselbe Dringlichkeit wie Amerikaner.

Europäer fühlen sich nicht nur sicherer und weniger bedroht als Amerikaner, sie glauben auch, dass die Vereinigten Staaten an ihrer derzeitigen Verwundbarkeit zum Teil selbst Schuld sind. Eines der beunruhigendsten Ergebnisse unserer Umfrage ist, dass eine knappe Mehrheit (55%) der Europäer der Ansicht ist, dass die Politik der USA zu den terroristischen Anschlägen in New York und Washington beigetragen hat.

Das Bündnis des Kalten Krieges hielt über 40 Jahre lang, weil seine Mitglieder sich über das Ausmaß und die Unmittelbarkeit der Bedrohung durch die Sowjetunion einig waren. Angesichts der derzeitigen Unterschiede in der öffentlichen Wahrnehmung der Welt könnte es weitaus schwieriger werden, eine langfristige Koalition gegen eine Reihe von Risiken aufrechtzuerhalten – insbesondere solche außerhalb Europas und des Mittelmeer-Raums –, solange Europäer sich nicht in demselben Maße bedroht fühlen wie Amerikaner.

Der Widerstand der Amerikaner, die Führungsrolle mit Europa zu teilen, und Europas ambivalente Haltung gegenüber einer untergeordneten Rolle dürften ein tragfähiges Bündnis gegen den Terrorismus zusätzlich erschweren. Die Frage der gemeinsamen Entscheidungsfindung in den transatlantischen Beziehungen war immer von Belang. Besonders jedoch seit dem 11. September haben europäische Politiker und Kommentatoren Amerikas „Unilateralismus“ und einen als solchen empfundenen amerikanischen Unwillen, sich vor größeren Entscheidungen mit den Verbündeten zu beraten, kritisiert. Die europäischen Eliten haben das untrügliche Gefühl, dass sie nur Juniorpartner sind, von denen pure Gefolgschaft ohne viele Fragen erwartet wird. Amerikanische Regierungsvertreter streiten diese Position nicht völlig ab. Sie haben das Gefühl, dass die Zeit drängt und bringen daher weniger Geduld auf für längere Beratungen und Gespräche, wie sich dies die  Europäer wünschen. Schon vor dem 11. September waren amerikanische Regierungsvertreter der europäischen Kritik am Kyoto-Protokoll, dem Internationalen Strafgerichtshof und anderer Fragen überdrüssig.

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Die Europäer würden gern etwas gegen den Mangel an Einfluss tun. Bei der Frage, ob die Vereinigten Staaten die einzige Supermacht bleiben oder ob die EU auch eine Supermacht sein sollte, sagen 65% der Europäer, dass sie gern die EU als gleichrangig mit den USA sehen würden. Die große Mehrheit dieser Gruppe glaubt, dass ein EU-Supermachtstatus es Europa ermöglichen würde, effektiver mit den Vereinigten Staaten zu kooperieren, statt mit ihnen zu konkurrieren. Die Unterschiede unter den Europäern sind beachtlich: Mehr als 90% der befragten Franzosen unterstützen einen EU-Supermachtstatus (obwohl sogar in diesem Fall eine überwältigende Mehrheit diesen Status als eine Möglichkeit sieht, enger mit den USA zusammenzuarbeiten). Im Gegensatz dazu wollen nur 48% der Deutschen eine europäische Supermacht und 25% wollen, dass überhaupt kein Land – auch nicht die USA – eine dominante Rolle in der Welt spielt. Amerikaner wiederum sind nicht daran interessiert, ihre einzigartige Position in der Welt mit der EU zu teilen. Als Antwort auf dieselbe Frage wollen 52% die USA die einzige Großmacht in der Welt; nur 33% sind für einen Supermachtstatus für die EU.

Europäer mögen zwar theoretisch den Einsatz von militärischer Gewalt gutheißen, aber sie sind weniger daran interessiert, für militärische Zwecke wirklich Geld auszugeben. Bei der Frage, ob die Verteidigungsausgaben erhöht werden oder so bleiben sollen, wollen 19% der Europäer die Ausgaben erhöhen, 33% wollen sie kürzen und 42% wollen die gegenwärtig niedrigen Verteidigungshaushalte beibehalten. Im Gegensatz dazu sind 44% der Amerikaner dafür, mehr für die Verteidigung auszugeben; 38% befürworten den derzeitigen Stand der Ausgaben, der bereits bedeutend über dem der europäischen Ausgaben liegt.

Der Nahe Osten

Europäische Eliten kritisieren an den Amerikanern deren Überbewertung der Sicherheitsbedrohung Israels, während sie andererseits dem Leiden der Palästinenser den Rücken kehrten. Amerikaner kritisieren an europäischen Politikern, dass sie die terroristische Bedrohung Israels ignorierten und nicht bereit seien, für die Vergabe von Millionen von Euros an die Palästinensische AutonomiebehördeRechenschaft zu verlangen. Die europäische Elite fühlt sich mit der amerikanischen Führerschaft unwohl, und die  Amerikaner wundern sich, warum Europa bei konkreten Friedensvorschlägen nicht mehr Unterstützung anbietet.

Bei der Frage nach dem Grad der Zuneigung gegenüber Israel auf einer 100-Punkte-Skala gaben Amerikaner 55 Punkte an; der Mittelwert der europäischen Antworten lag bei 38. Die öffentliche Unterstützung für den palästinensischen Staat legt eine weitere Kluft in diesem Politikbereich offen: Eine breite Mehrheit von 72% der Europäer befürwortet einen solchen Staat, während dies nur 40% der Amerikaner tun. Die Amerikaner sind  bei weitem die stärksten Gegner eines palästinensischen Staates; nur die Deutschen kommen dieser Position in etwa nahe.

Amerikaner haben nicht nur recht unterschiedliche Ansichten über Israel und einen palästinensischen Staat, sie denken auch ganz anders über die Bedeutung dieses Konflikts für ihre eigene Sicherheit. Bei der Frage nach  Bedrohungen sehen 67% der amerikanischen Befragten einen militärischen Konflikt zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn als eine schwere Bedrohung an, während nur 42% der Europäer diese Einschätzung teilen. Diese Ergebnisse unterstützen den allgemeinen Vorwurf in den USA, dass bei diesem Konflikt für die Europäer nicht so viel auf dem Spiel stehe wie für die Vereinigten Staaten, sie es sich daher leisten könnten, Strategien vorzuschlagen, die Israel einem Risiko aussetzen könnten.

Dieser konkreten Fall lässt die grundsätzliche Probleme erkennen, die das transatlantische Bündnis in vielen anderen Bereichen belasten: Amerikaner haben bei diesen Fragen starke Loyalitäten, eine klare Vorstellung von den Gefahren und die Bereitschaft, den Einsatz von Gewalt zu unterstützen, wenn andere Wege sich als unwirksam erwiesen haben. Die Europäer nähern sich diesen Fragen mit einer geringeren Dringlichkeit, einer Verpflichtung zur Ausgewogenheit und einer Verpflichtung, erst alle nichtmilitärischen Mittel auszuschöpfen, um das Problem zu lösen. Angesichts dieser Unterschiede ist der amerikanische Widerstand gegen die Idee einer gemeinsamen Führerschaft mit den Europäern in dieser politischen Frage nur logisch. Wie kann ein Land eng mit einem Verbündeten zusammenarbeiten, wenn solche bedeutenden Unterschiede hinsichtlich der Analyse eines derart fundamentalen Problems  zutage treten?

Schadensbegrenzung

Diese vier Probleme – Bedrohungswahrnehmung, Führerschaft, Verteidigungsausgaben, Nahost-Konflikt – zusammengenommen sind potenziell in der Lage, das transatlantische Bündnis zu schwächen und es weniger schlagkräftig zu machen. Im Gegensatz zu vielen anderen Problembereichen stellen sie jedoch Bereiche dar, bei denen die politische Elite und die Bürger weitgehend einer Meinung sind. Wir können weder behaupten, dass die Eliten sich von ihren Bürgern entfernt hätten, noch können wir hoffen, dass diejenigen an der Macht uns vor populistischen Ansichten schützen können.

Die Anschläge vom 11. September und die Veränderungen, die durch sie in den USA hervorgerufen wurden, haben die Bedeutung dieser transatlantischen Wahrnehmungsunterschiede verstärkt. Amerikaner fühlen sich heute stärker bedroht; sie sind nun eher bereit, militärische Maßnahmen und höhere Verteidigungsausgaben zu unterstützen. Auch dürften Amerikaner eine größere Wertschätzung für Israel und seine Bedrohung durch den Terrorismus und den islamischen Fundamentalismus haben. Die Europäer haben aus verständlichen Gründen nicht auf dieselbe Art reagiert. Dennoch haben sich die Erwartungen der Amerikaner an ihre engsten Verbündeten geändert.

Auch die Europäer haben ihre Erwartungen geändert. Viele erwarten von den Vereinigten Staaten, dass sie von ihren Verbündeten mehr fordern,  aber auch größere Bereitschaft zeigen würden, sich mit ihnen zu beraten und wirklich gemeinsame Planungen durchzuführen. Als klar wurde, dass die USA sich auf einer Mission befanden, die wenig Raum für Konsultationen über strategische Ziele und Mittel zuließ, verstärkten die Europäer ihre Kritik am Unilateralismus und Hegemonialstreben der Amerikaner.

Diese tief greifenden Unstimmigkeiten sind nicht einfach zu lösen. Die Bedrohungswahrnehmung in Europa wird sich erst dann ändern, wenn ein katastrophaler terroristischer Anschlag Berlin, Paris oder London trifft. Ohne ein stärkeres Bewusstsein für die Risiken werden sich die Europäer kaum verpflichtet fühlen, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Aber ohne größere europäische Verteidigungsfähigkeiten werden die Amerikaner Europa kaum als gleichwertig behandeln. Auch was die Einstellung in Bezug auf den Nahost-Konflikt angeht, sehen wir wenig Hoffnung auf eine baldige Änderung.

Die Ergebnisse unserer Umfrage legen nahe, dass auch bedeutende Unterschiede innerhalb der Europäer die transatlantische Kooperation gefährden könnten. Das Streben der Franzosen nach einer Europäischen Union mit Supermachtstatus wird mit einiger Sicherheit mit Deutschlands begrenzterer Vision von Europa kollidieren. Die Bereitschaft der Briten, den Amerikanern bei ihrem Einsatz von militärischer Gewalt zu folgen, wird sowohl auf den Widerstand Frankreichs stoßen, das sich nicht mit amerikanischer Führerschaft anfreunden kann, als auch auf den der Niederländer und der Deutschen, die einen geringeren Wunsch nach bewaffneten Konflikten verspüren.

Diese Spannungen müssen jedoch nicht zu einer allmählichen Auflösung des transatlantischen Bündnisses führen. Wie wir mehrfach betont haben, wollen Amerikaner und Europäer zusammenarbeiten. Die Amerikaner sehen Europa als verhältnismäßig wichtiger als Asien und als potenziellen Verbündeten bei der Bewältigung einer Vielzahl von Herausforderungen. Europäer wiederum zeigen wenig Anzeichen von Antiamerikanismus. Sie stellen in zunehmenden Maße amerikanische Strategien in Frage, wie beispielsweise Bundeskanzler Schröder im Bundestagswahlkampf 2002. Aber unseren Umfrageergebnissen zufolge beruht dieses Infragestellen eher auf dem Wunsch nach einer gleichberechtigteren Beziehung als auf dem Wunsch nach einer Beendigung jeglicher Zusammenarbeit.

Die weitaus engeren wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen verstärken auf beiden Seiten diese Bereitschaft zur Kooperation. Handelsstreitigkeiten treten häufig auf, sind aber von geringem Ausmaß im Vergleich zum Gesamtumfang der Handelsbeziehungen diesseits und jenseits des Atlantiks. In vielen sozialen und kulturellen Fragen nähern sich Amerikaner und Europäer aneinander an. Unsere Studie förderte ein bemerkenswertes Maß an Übereinstimmung zutage, sogar bei kontroversen Themen wie Klimawandel und Biotechnologie.

Diese gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen und Werte könnten ausreichen, um starke transatlantische Beziehungen trotz der Differenzen zu bewahren. Ihre Weltsicht unterscheidet Amerikaner und Europäer zwar auf wichtigen Feldern, aber in vielen anderen Bereichen sind ihre Ansichten ähnlich. Die Herausforderung für die politischen Politiker in den Vereinigten Staaten und in Europa liegt darin, Bereiche zu finden, in denen ihre gemeinsamen Ansichten groß genug sind, um ihre wenigen – aber sehr großen – Unterschiede auszugleichen.

Dieser Beitrag beruht auf einer im Juni/Juli 2002 vom German Marshall Fund of the United States gemeinsam mit dem Chicago Council on Foreign Relations durchgeführten Studie über Einstellungen der amerikanischen und europäischen Öffentlichkeit (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden und Polen) zur Außenpolitik . Die Ergebnisse der gesamten Studie auf Englisch können über die folgende Homepage abgerufen werden: http://www.worldviews.org.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2002, S. 45 - 53.

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