Essay

29. Juni 2018

Ein Multilateralismus, der schützt

Europa braucht ein Konzept für die Erneuerung der internationalen Ordnung

Kann Europa die liberale Weltordnung retten? Dazu bräuchten wir ein Konzept, mit dem das Spannungsverhältnis zwischen ­nationaler Souveränität und internationaler Ordnung neu ­austariert wird. Das dies möglich ist, zeigen konkrete Vorschläge, die auch der Sicherheit und dem Wohlstand der Europäer dienen.

Die Welt wird immer furchterregender. Am Horizont drohen Handelskriege, die Ära der Großmachtkonkurrenz kehrt zurück, Stellvertreterkonflikte häufen sich, und unter Präsident Donald Trump haben sich die USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran und dem Pariser Klimaabkommen zurückgezogen. Die Regeln und Allianzen, die einst die internationale Zusammenarbeit und Stabilität garantierten, verlieren offenbar ihre Gültigkeit. An ihre Stelle tritt ein System der internationalen Beziehungen, in dem das Recht des Stärkeren gilt, der Nationalismus wuchert und der Rechtsstaat missachtet wird. Die Hoffnung auf die Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten hat sich zerschlagen. Stattdessen sind autoritäre und illiberale Bewegungen auf dem Vormarsch. Bricht die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene liberale Weltordnung zusammen?

Mit der Idee einer regelgestützten internationalen Ordnung ist gerade die Europäische Union historisch eng verbunden. Sie verkörpert die Überzeugung, dass die Staaten durch internationale Zusammenarbeit, Offenheit, Rechtsstaatlichkeit und die Verpflichtung auf Demokratie und Menschenrechte am besten gedeihen. Doch nun braucht sie eine Strategie, um die Kernelemente einer regelbasierten Ordnung zu erhalten. Dieser Essay beschreibt ein Konzept für die Erneuerung der internationalen Ordnung, an dem sich die EU orientieren könnte. Außerdem enthält er Vorschläge, wie die EU dieses Konzept in die Praxis umsetzen könnte.

In der Praxis wollen die europäischen Staaten eine internationale Ordnung, die sie vor externen Bedrohungen schützt und es ihnen ermöglicht, ihren wirtschaftlichen Interessen durch weltweiten Handel und Investitionen nachzukommen. Dieses Ziel kann jedoch nicht durch eine Rückkehr zum alten Ordnungssystem erreicht werden, das auf einer globalen Machtverteilung basiert, die so nicht mehr existiert. Ohnehin war die liberale Weltordnung nie abgeschlossen und perfekt. Sie war ein sich entwickelndes, vielschichtiges System von Normen, Institutionen und Praktiken mit Schwachstellen und inneren Spannungen. Obwohl sie den beteiligten Staaten viele Vorteile bot, war sie weniger konsistent und integrativ, als ihre Befürworter wahrhaben wollten. Die EU sollte nicht zurückblicken, sondern ein neues Konzept für eine internationale Ordnung entwickeln, die zur heutigen Welt und den heutigen europäischen Interessen passt.

Das Ende der alten Ordnung

Die Sieger des Zweiten Weltkriegs errichteten ein System der kollektiven Sicherheit – mit den Vereinten Nationen im Mittelpunkt –, das auf den Grundsätzen des Gewaltverbots in den internationalen Beziehungen und der friedlichen Beilegung von Konflikten beruhte. Mit Beginn des Kalten Krieges bauten die USA ein Bündnissystem auf, das den demokratischen Kapitalismus in Europa stärken, den Kommunismus eindämmen, den Welthandel liberalisieren und die wirtschaftliche Stabilität durch internationale Institutionen fördern sollte. Dieses System könnte man als „liberale Ordnung 1.0“ bezeichnen. Obwohl sich amerikanische Politiker gern als Verteidiger der freien Welt darstellten, waren einige der von den USA unterstützten Staaten in Wahrheit hauptsächlich antikommunistisch und kapitalistisch und weniger demokratisch. Tatsächlich endete dieses Ordnungsmodell weitgehend an den Grenzen der Staaten und beschäftigte sich kaum damit, wie diese ihre Souveränität im Innern ausübten.

Nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelte sich das System weiter. In den neunziger Jahren und zu Beginn des neuen Millenniums trieben die USA die Entwicklung einer „liberalen Ordnung 2.0“ voran. Deren Grundgedanke war es, die im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte regelbasierte Ordnung schrittweise auf weitere Staaten auszuweiten. Gleichzeitig kam es vor allem auf Drängen der Europäer zu einer Vertiefung der Ordnung, um neben den Rechten der Staaten auch die Rechte der Menschen zu berücksichtigen. Damit verbunden waren Einschränkungen der Souveränität.

In dieser zweiten Phase der liberalen internationalen Ordnung wurden die internationalen Regeln und Institutionen erweitert. Dies betraf den Handel und die wirtschaftlichen Beziehungen, aber auch die Menschenrechte, indem Institutionen wie der Internationale Strafgerichtshof und das Konzept der „­Responsibility to Protect“ geschaffen wurden. Zugleich setzte man darauf, dass sich die Staaten der ehemaligen Sowjetunion und aufstrebende Mächte wie China ein Mindestmaß an liberalen Normen zu eigen machen würden. Die Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen hätte sich dann auf neue Ziele wie die Abwendung von Gräueltaten oder den Kampf gegen den internationalen Terrorismus konzentrieren können.

Dieses Kalkül ging nicht auf. Zwar rückte die Welt wirtschaftlich enger zusammen und nichtwestliche Mächte gewannen an Reichtum und globalem Einfluss. Doch die liberale Demokratie wurde nicht gestärkt, sondern verlor an Boden. Das lag auch daran, dass die Verfechter der liberalen Ordnung selbst manchmal egoistisch und widersprüchlich handelten. Deswegen verloren sie nicht nur die Unterstützung der aufstrebenden Demokratien, sondern auch Rückhalt in der eigenen Bevölkerung. Die liberale internationale Ordnung erwies sich als ein unfertiges Werk, bei dem es auch Rückschritte geben kann. Ihre Ziele werden auf drei Achsen infrage gestellt:

Viele Staaten, die dem System hätten beitreten sollen, betreiben stattdessen eine neue Form alter Großmachtpolitik. Dazu zählen China, Russland, Iran, Saudi-Arabien und die Türkei. Während sich die globale Machtverteilung verschiebt, hängen die aufstrebenden Demokratien noch immer einem postkolonialen Weltbild an. Diese Staaten sind nicht bereit, eine Weltordnung zu unterstützen, die untrennbar mit der Dominanz der USA und des Westens verknüpft scheint. Aus ihrer Sicht mutet die liberale internationale Ordnung wie „eine vom Imperialismus gemachte Welt“ an, wie der Schriftsteller Pankaj Mishra schreibt.

Im Westen meinen viele Menschen inzwischen, dass Offenheit und internationales Engagement ihren eigenen Interessen eher schadet. Diese Enttäuschung erklärt, warum die USA nicht mehr willens sind, ihre traditionelle Rolle als militärischer und wirtschaftlicher Anker des Systems zu spielen.

Über die Staatengrenzen hinweg haben sich neue Herausforderungen und Formen der Unordnung herausgebildet, die von den gegenwärtigen Strukturen nicht bewältigt werden können und die Entwicklung neuer Normen erfordern. Neue Konfliktformen drohen das Völkerrecht zu untergraben. Es fehlen Regeln für den Umgang mit Migration und Flüchtlingen, und die Regulierung des Cyberspace kann mit der Digitalisierung nicht Schritt halten.

Eine mögliche Interpretation dieser Entwicklung ist, dass die Hüter der Weltordnung nach 1989 einfach zu ehrgeizig waren. Der Aufstieg von Mächten wie Russland und China, die die traditionelle Souveränität hochhalten, und kontraproduktive Handlungen der demokratischen Staaten selbst brachten das utopische Projekt der „liberalen Ordnung 2.0“ zum Stillstand. Nach dem Desaster der US-geführten Invasion im Irak 2003, der Finanzkrise in den Jahren 2007/08 und den Wirren der Eurokrise fehlt es an öffentlicher Unterstützung für die liberale Ordnung 2.0. Stattdessen könnte es eine Rückkehr zu einer „schlankeren“ internationalen Ordnung geben – eher vergleichbar mit der liberalen Ordnung 1.0, die sich nicht länger an Menschenrechten und demokratischen Werten orientiert, sondern auf gegenseitiger Nichteinmischung und Mindestregeln für die Koexistenz von Großmächte mit unterschiedlichen politischen Visionen beruht. In dieser Hinsicht stellt Trump nicht einmal einen großen Bruch im Vergleich zu früheren US-Regierungen dar. Nur sehr wenige Vorgängerregierungen waren der Meinung, dass sich die USA verbindlichen Regeln unterwerfen sollten; sie waren nur eher als Trump bereit, diese anderen Ländern aufzuzwingen.

Man kann unsere Situation auch noch sehr viel düsterer sehen. In dieser Interpretation würde nicht einmal mehr die liberale Ordnung 1.0 erhalten bleiben, weil wir nicht nur mit revisionistischen Mächten von außen, sondern auch mit einer politischen Gegenrevolution innerhalb des Westens zu kämpfen haben. In dieser Interpretation bedeutet Globalisierung, die Technologien der Zukunft mit den Kämpfen der Vergangenheit zu verbinden. Militärische Interventionen würden weiterhin stattfinden, aber nicht als humanitäre Missionen wie im Kosovo oder in Sierra Leone. Die technologische Entwicklung würde zu vernetzten Kriegen führen, in denen die Staaten den Handel, das Internet und sogar die Migration als Waffen benutzen. In einer solchen Welt werden die multilateralen Institutionen selbst zu Schauplätzen von Konflikten, anstatt diese zu verhindern. Nationale Politiken, die immer mehr von Identitätspolitik, Misstrauen gegenüber Institutionen und Nationalismus geprägt sind, vergrößern die internationale Konfliktbereitschaft.

Europas Aufgabe ist es, eine Alternative zu diesen beiden bedrückenden Szenarien zu finden. Diese Alternative sollte den wachsenden Einfluss der illiberalen Mächte und der globalen Vernetzung berücksichtigen; gleichzeitig muss sie so beschaffen sein, dass sie die Unterstützung der europäischen Bürger gewinnen kann. So wie der französische Präsident Emmanuel Macron ein „Europa, das schützt“ gefordert hat, sollte sich die EU für einen „Multilateralismus, der schützt“ einsetzen. Sie sollte zeigen, wie die von ihr priorisierten Elemente der internationalen Ordnung der Sicherheit und dem Wohlstand der Europäer dienen.

Innerhalb Europas muss die EU deswegen in die Verteidigung der liberalen Ordnung 2.0 investieren. Sie muss ihre Handlungsfähigkeit stärken und sich um einen neuen Ausgleich zwischen wirtschaftlichen Gewinnern und Verlierern bemühen. Zugleich kann und will sich Europa nicht von der Welt abschotten. Deswegen sollte die EU auch jenseits ihrer Grenzen auf eine neue Ordnung hinwirken, die der langfristigen Stabilität und Entwicklung in Europa und darüber hinaus dient. Das wird allerdings nur gehen, wenn sie ein breites Spektrum von Ländern als potenzielle Partner einstuft und bereit ist, einige Prämissen der liberalen Ordnung 2.0 zu überdenken.

Auf globaler Ebene gibt es Bereiche, in denen es für die EU wichtiger ist, ein Mindestmaß an Regeln aufrechtzuerhalten, als ehrgeizigere liberale Ziele zu verfolgen. Angesichts immer selbstbewussterer und mächtigerer illiberaler Staaten kann selbst ein erneuerter Bund von gleichgesinnten Staaten seine Ziele nicht erreichen. Dies wird es in einigen Fällen erforderlich machen, Kompromisse bei den europäischen Idealen einzugehen und sich auf eine stärker durch einen traditionellen Souveränitätsbegriff geprägte Agenda zurückzuziehen. Welche Prioritäten Europa dabei setzen sollte, lässt sich herausfinden, indem wir die Herausforderungen betrachten. Zwei davon – Sicherheit und Handel – betreffen zentrale Elemente der bestehenden Ordnung, die unter Druck geraten und europäisches Handeln erfordern.

Krieg, Krisen und Menschenrechte

Sowohl Russland als auch China stellen die politische Ordnung in ihrer Nachbarschaft infrage, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Russlands Einmischung in der Ukraine, einschließlich der Annexion der Krim, war ein Angriff auf die europäische Nachkriegsordnung und den Grundsatz, Grenzen nicht gewaltsam zu verändern. In anderen Bereichen versucht Russland, Macht durch hybride Interventionen oder die Unterstützung von zweifelhaften Verbündeten wie dem syrischen Regime zu entfalten. Russland will die Ausbreitung westlicher Institutionen und Normen in seiner Nachbarschaft einschränken und eine internationale Ordnung entwickeln, die auf Realpolitik statt auf ­liberalen Prinzipien beruht.

Auch China handelt energisch, um das, was es als zentrale Interessen betrachtet, durchzusetzen – unter anderem durch die umfangreiche Landgewinnung im Südchinesischen Meer. China lehnt ein Urteil des Ständigen Schiedshofs in Den Haag gegen seine Ansprüche in den angrenzenden Gewässern ab und verfolgt eine Strategie der rechtlichen Ambiguität hinsichtlich seiner Gebietsforderungen. Zudem hat China sein Militär in den vergangenen Jahren drastisch verstärkt – mit dem offensichtlichen Ziel, in Ostasien mit den USA mindestens gleichzuziehen, wenn nicht gar eine Dominanz zu erreichen.

Die neue Großmachtkonkurrenz entstand zu einem Zeitpunkt, als die westliche Begeisterung für militärische Interventionen nach den teuren und erfolglosen Kriegen im Irak und in Afghanistan nachließ. US-Präsident Barack Obama verlagerte den Schwerpunkt der militärischen Aktivitäten auf wenig sichtbare, wenn auch umfangreiche Anti-Terror-Operationen; Trump verfolgt den gleichen Ansatz, lässt dabei aber verstärkt Gewalt anwenden. Die amerikanischen Kriege im Nahen und Mittleren Osten waren nicht nur erfolglos, sie haben die USA auch unglaubwürdig gemacht. Selbst im Westen glauben viele Menschen nicht, dass die Invasion des Irak der Aufrechterhaltung einer regelbasierten internationalen Ordnung diente, sondern dass sie ein Akt der Aggression war. Viele aufstrebende Demokratien sind auch überzeugt, dass die westliche Militärintervention 2011 in Libyen das Mandat des UN-Sicherheitsrats zum Schutz der Zivilbevölkerung überschritt und zu einem illegitimen Einsatz zum Zwecke des Regimewechsels wurde. Das war ein Grund, warum sie sich im März 2014 bei einer Abstimmung über die Ukraine in der UN-Generalversammlung enthielten. Die Staaten wollten sich von dem distanzieren, was sie für westliche Doppelmoral halten.

Auch innerhalb des Westens gibt es seit Ende des Kalten Krieges Unterschiede in den militärischen Prioritäten. Die USA sehen keine Notwendigkeit, weiterhin so viel in die Verteidigung Europas zu investieren. Zudem sind sie sehr viel weniger als die EU an der Stabilität der südlichen und östlichen Nachbarschaft Europas interessiert. Dennoch haben sich die anfänglichen Zweifel an Trumps Verpflichtung gegenüber der NATO vorerst gelegt; die Nationale Sicherheitsstrategie seiner Regierung befasst sich vor allem mit der neuen Konkurrenz der Großmächte. Unter Trump hat sich der militärische Teil des westlichen Bündnisses besser entwickelt als viele in den ersten Monaten seiner Präsidentschaft befürchtet hatten. Dennoch wird Europa mehr Verantwortung für seine eigene Verteidigung übernehmen müssen – als Voraussetzung für das weitere Engagement der USA ebenso wie in seinem eigenen Interesse.

Insgesamt deuten diese Trends auf eine enger begrenzte internationale Ordnung hin, als viele Europäer nach Ende des Kalten Krieges erhofft hatten. In den neunziger Jahren sahen sie im Konzept der völkerrechtlichen Souveränität eine bisweilen bedauerliche Beschränkung der Möglichkeit zur Intervention, um Gräueltaten zu stoppen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Heute erscheint es den Europäern angesichts aggressiver rivalisierender Mächte und wachsender Unordnung wichtiger, die völkerrechtswidrige Gewaltanwendung über Staatsgrenzen hinweg zu reduzieren. Der gewachsene Einfluss Russlands und Chinas bedeutet, dass der UN-Sicherheitsrat dem Westen heute vermutlich kein Mandat mehr erteilen würde für eine Militärintervention gegen einen Staat, der sein eigenes Volk unterdrückt. Wenn der Westen dann trotzdem versuchen würde, internationale Normen durchzusetzen, würde er gleichzeitig das internationale Recht untergraben. Außerdem dürfte es in Zukunft schwieriger werden, den Internationalen Strafgerichtshof per Resolution des Sicherheitsrats mit Ermittlungen zu Kriegsverbrechen zu betrauen.

In einer Welt, in der die Großmächte sehr unterschiedliche Wertesysteme vertreten, kann die EU eher zum Erhalt der internationalen Ordnung beitragen, wenn sie den Wert der staatlichen Souveränität betont. In der Definition des dänischen Politikwissenschaftlers Georg Sørensen heißt das, einen „zurückhaltenden Liberalismus“ („Liberalism of Restraint“) über einen „intervenierenden Liberalismus“ („Liberalism of Imposition“) zu stellen. Ersterer Ansatz ist besser geeignet, um die Unterstützung der nichtwestlichen Demokratien zu gewinnen und könnte die Bildung breiter Koalitionen gegen die Anwendung von Gewalt durch andere Mächte erleichtern. Er würde auch der Realität Rechnung tragen, dass der Westen in einem stärker umkämpften geopolitischen Umfeld immer seltener in der Lage sein wird, die Bedingungen für die Beilegung von Konflikten zu diktieren. Stattdessen wird er einen unvollkommenen und illiberalen Frieden als Preis für das Ende der Gewalt akzeptieren müssen. Das Beispiel Syriens belegt diese These. Es ist derzeit kein Friedensabkommen vorstellbar, das die rasche Ablösung von Präsident Baschar al-Assad oder eine Anklage gegen ranghohe Vertreter des Regimes wegen Kriegsverbrechen vorsieht.

Vor diesem Hintergrund müssen die Europäer ihre humanitäre Auslegung des Multilateralismus auf andere Weise am Leben erhalten. Der Kurswechsel in der US-Außenpolitik hat zu einem weltweiten diplomatischen Defizit geführt – die EU sollte versuchen, diese Lücke zu schließen. Sie muss versuchen, das Atomabkommen mit dem Iran zu retten, indem sie Teheran bei der Stange hält und die Auswirkungen neuer US-Sanktionen auf europäische Unternehmen so weit wie möglich begrenzt. Darüber hinaus muss die EU kreativ darüber nachdenken, wie sie das globale Nichtverbreitungsregime stärken und größere Anstrengungen unternehmen kann, um internationale Spannungen abzubauen und friedliche Lösungen für die Konflikte vom Jemen bis zur Ukraine zu finden.

Die EU sollte sich auch für eine Stärkung der Menschenrechte und der Grundsätze des Völkerrechts im System der Vereinten Nationen einsetzen – gerade zu einem Zeitpunkt, an dem diese immer mehr infrage gestellt werden. Selbst in Konflikten, an denen die Großmächte nicht direkt oder indirekt beteiligt sind, fällt es dem Sicherheitsrat schwer, sich auf friedenserhaltende Maßnahmen zu einigen. Inzwischen ist China bei den Vereinten Nationen sehr aktiv, um seine staatszentrierte Sicht der Menschenrechte anzupreisen und die Menschenrechtsaktivitäten der UNO durch Budgetkürzungen einzuschränken. Angesichts einer US-Administration, die dem Multilateralismus weniger verpflichtet ist als ihre Vorgängerin, muss Europa versuchen, durch die Bildung breiter Koalitionen diesem Trend entgegenzuwirken. Die EU sollte ebenfalls mit gleichgesinnten Staaten zusammenarbeiten, um die Durchsetzung der völkerrechtlichen Prinzipien in bewaffneten Konflikten zu stärken.

Die EU wird den Wertewettbewerb gegen Russland, China und vielleicht auch die USA am ehesten dann gewinnen können, wenn sie überzeugende Argumente für ihr eigenes Modell vorbringen kann. Eine Stärkung des inneren Zusammenhalts und die Überwindung der Spaltung innerhalb der europäischen Länder würden die EU gegenüber externen Störkampagnen widerstandsfähiger machen.

Handel und Investitionen

Im Mittelpunkt der europäischen Vision der internationalen Ordnung steht die Entwicklung von offenen, regelbasierten Wirtschaftsbeziehungen. Die wirtschaftlichen Vorteile aus dem internationalen Handel sind beeindruckend: Zwischen 1950 und 2015 verfünffachte sich das weltweite Pro-Kopf-Einkommen, und der Anteil der Weltbevölkerung, die in extremer Armut lebt, sank von 72 auf 10 Prozent. Inzwischen ist allerdings deutlich geworden, dass die westlich geprägte Wirtschaftsordnung gleichermaßen zu erfolgreich und nicht erfolgreich genug war. Der steigende Wohlstand der Entwicklungsländer hat die dominante Rolle des Westens in der Wirtschaftsordnung unhaltbar gemacht. Die Gewinne aus der marktorientierten Globalisierung der vergangenen Jahrzehnte waren ungleich verteilt. Viele Europäer und Amerikaner meinen heute, die wirtschaftliche Öffnung habe vor allem den Reichen und den Schwellenländern genutzt – auf Kosten der Arbeiter und der Mittelschicht in den westlichen Ländern.

Trump hat diesem Gefühl Rechnung getragen, als er aus dem Transpazifischen Partnerschaftsabkommen TPP ausgestiegen ist und die Neuverhandlung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA gefordert hat. Noch beunruhigender für Europa ist, dass Trump mit seinen Angriffen auf die WTO begonnen hat, die Grundlage des regelbasierten multilateralen Handelssystems zu untergraben. Trump hat die WTO wiederholt als „Katastrophe“ für die USA bezeichnet. Unter der fadenscheinigen Begründung der „nationalen Sicherheit“ hat er zusätzliche Zölle auf Stahl und Aluminium eingeführt und so die Glaubwürdigkeit des Systems weiter geschwächt. Trump hat weitere Strafzölle gegen China angedroht, was die Angst vor einem großen Handelskrieg zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt befeuert.

Trumps Schlag gegen den Freihandel kommt zu einem Zeitpunkt, an dem in Europa wie in den USA die Erkenntnis wächst, dass China das internationale Handelssystem zu seinem Vorteil ausgenutzt hat. Die EU sollte den USA deswegen anbieten, bei der Korrektur von Ungleichgewichten im Welthandel zusammenzuarbeiten. Aber zugleich darf sie keinen Zweifel daran lassen, dass sie sich Maßnahmen zur Schwächung der WTO widersetzen würde. Die Größe des europäischen Marktes gibt der EU die Macht, sich notfalls auch gegen die USA zu behaupten.

Als wirtschaftliches Schwergewicht ist die EU auch in der Lage, einseitig Regulierungsstandards zu setzen, die weltweit großen Einfluss haben. Dieser „Brüsseler Effekt“ beruht darauf, dass der europäische Markt so groß ist, dass weltweit viele Exporteure freiwillig und umfassend die EU-Standards in Bereichen wie Lebensmittelsicherheit, Verbraucherschutz, Chemikalien und Emissionen einhalten. Denn oft ist es zu teuer, verschiedene Produktlinien für verschiedene Märkte herzustellen.

Eine umfassende Strategie

Die EU sollte ihr Konzept einer internationalen Ordnung an die neuen Herausforderungen anpassen. Das bedeutet, dass sie das Spannungsverhältnis zwischen nationaler Souveränität und internationaler Ordnung neu austarie­ren muss. Die staatliche Souveränität sollte gestärkt werden, indem Europa sich dafür einsetzt, völkerrechtswidrige Interventionen zu erschweren, eigene Standards durch Regulierung und Handel zu bekräftigen und freiwillige Verpflichtungen als Basis für einige internationale Abkommen zu akzeptieren. Im Gegenzug sollte die EU ihr Bekenntnis zum Multilateralismus als dem Garanten der Sicherheit und des Wohlstands der Europäer erneuern. Sie sollte außerdem versuchen, neue Normen für die stärker vernetzte Welt zu entwickeln sowie Wirtschaft und Zivilgesellschaft in die Ausgestaltung der internationalen Ordnung einzubeziehen.

Konkret ergibt sich aus dieser Agenda an mehreren Stellen Handlungsbedarf für die EU: Erstens muss sie ihre eigene Handlungs- und Widerstands­fähigkeit stärken. In der Sicherheitspolitik geht es darum, angesichts des nachlassenden US-Engagements in Europa strategische Autonomie zu erlangen. Dazu sollten die EU-Staaten ihre Verteidigungsausgaben erhöhen, ihre Ressourcen durch Pooling and Sharing besser nutzen und sowohl in der NATO als auch außerhalb ihres Rahmens enger zusammenarbeiten. Dies betrifft insbesondere die im Entstehen begriffene Europäische Interventionsinitiative. In der Wirtschaftspolitik sollten die Europäer in einen neuen Wirtschafts- und Sozialpakt investieren, um denjenigen zu helfen, die sich von der Globalisierung zurückgelassen fühlen. Gleichzeitig braucht es härtere Maßnahmen, um China und andere aufstrebende Akteure an der Verzerrung des Wettbewerbs zu hindern. Zum Beispiel sollten ausländische Direktinvestitionen strenger geprüft werden.

Zweitens muss Europa dazu beitragen, das globale Defizit an Diplomatie wettzumachen, indem es auf eine Vermittlerrolle in den Krisen und Konflikten in der europäischen Nachbarschaft drängt und viel aktiver auf andere Staaten zugeht. In Abstimmung mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) sollten die Mitgliedstaaten Länder wie Brasilien, Indien und Indonesien in die wesentlichen Fragen der internationalen Ordnung einbinden – und den Schutz der regelbasierten Ordnung zum zentralen Thema der EU-Gipfel machen.Die EU sollte ihr finanzielles Engagement in den Konfliktregionen der Welt – darunter Syrien, Irak, Jemen und die Ukraine – nutzen, um mehr Einfluss im Sinne einer Stabilisierung auszuüben.

Drittens sollte die EU ihre wirtschaftliche Hebelwirkung nutzen, um die regelgestützte Ordnung zu erhalten. Sie sollte das Pariser Klimaabkommen stützen, indem sie Umweltstandards in Handelsabkommen einbaut und einen steuerlichen Ausgleich für Kohlenstoffe an den EU-Außengrenzen einführt. Sie kann die Größe des europäischen Marktes nutzen, um Standards für eine bessere Regulierung des Internets zu definieren und diese international zu exportieren. Infragen der internationalen Ordnung kann die EU eigene Entscheidungsräume schaffen, indem sie gegen die extraterritoriale Wirkung der US-Sanktionen vorgeht. Die EU sollte Unternehmen, die im Iran Geschäfte machen, mit kurzfristigen Maßnahmen wie der Einrichtung von Euro-Kreditlinien und Zweckgesellschaften unterstützen. Schließlich sollte die EU eine Task Force einrichten, die alle relevanten EU-Institutionen zusammenbringt und längerfristige Optionen für eine größere finanzielle Unabhängigkeit von den USA prüft.

Viertens sollte die EU sektorale Strategien zum Schutz der regelbasierten Ordnung entwickeln – im Handel, bei der Rüstungskontrolle und im Umweltschutz. Diese Strategien sollten komplementäre Instrumente umfassen, zu denen das gesamte Spektrum von Diplomatie, Handel, Verteidigung, Entwicklung und Finanzen gehört. Der EAD könnte die Nutzung dieser Instrumente koordinieren, die jeweils von mehreren Mitgliedstaaten bereitgestellt werden sollten. Ein solcher Ansatz würde die Zusammenarbeit zwischen den EU-­Institutionen und den Mitgliedstaaten in strategischen Fragen verbessern.

Um diese Agenda umzusetzen, muss die EU ihre Arbeitsweise überdenken. Sie muss schneller und flexibler werden, ihre Initiativen aber trotzdem mit ihrem gesamten, kollektiven Gewicht unterlegen. Eine enge Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit wird ebenfalls wichtig sein. Nach außen sollte die EU insbesondere in ihre Beziehungen zu gleichgesinnten Mächten investieren. Gegenüber den USA wird sie dagegen eine eigenständigere Haltung entwickeln müssen. Die EU sollte auch in Zukunft überall dort mit den USA zusammenarbeiten, wo es möglich ist, aber sie sollte ihr Engagement für die regelbasierte Ordnung über den traditionellen Reflex stellen, der amerikanischen Politik zu folgen.

Einige Europäer befürchten nun, dass eine unabhängige und zuweilen trotzige Haltung gegenüber den USA die Sicherheitsgarantien, von denen die EU noch immer abhängig ist, gefährden könnte. Doch Trump hat mehrfach bewiesen, dass er Zugeständnisse nicht honoriert. Unter seiner Führung folgt die US-Sicherheitspolitik nur eigenen Interessen, ohne Rücksicht auf die jahrzehntelange Loyalität der Verbündeten. Die EU kann ihre Beziehungen zu den USA und ihre Anstrengungen zur Stärkung der regelbasierten internationalen Ordnung am besten miteinander vereinen, wenn sie sich zu einem unabhängigen strategischen Akteur entwickelt. Europa muss die eigenen Weichen stellen, wenn es die liberale Weltordnung retten will.

Anthony Dworkin ist Senior Policy Fellow am European Council on Foreign Relations (ECFR).

Mark Leonard ist Gründungsdirektor des European Council on Foreign Relations (ECFR).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2018, S. 118 - 127

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