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01. März 2016

Interdependenz als Waffe

Die EU muss die Zeichen der geoökonomischen Zeit erkennen

Die entscheidenden Kämpfe werden heute nicht mehr auf konventionellen Schlachtfeldern, sondern im Rahmen der hypervernetzten Infrastruktur der Weltwirtschaft geführt. Mithilfe ökonomischer Kriegführung, der Instrumentalisierung internationaler Organisationen sowie der Infrastruktur entwickelt sich eine neue G7, die Europa herausfordert.

Die Bilder vom Abschuss des russischen Kampfjets über der Türkei im November 2015 verbreiteten sich rasend schnell. Sofort wurden in Russlands sozialen Netzwerken und Medien Rufe nach Vergeltung laut. Demonstranten bewarfen die türkische Botschaft in Moskau mit Steinen und Eiern. Der Moderator der bekanntesten russischen Polit-Talkshow verstieg sich sogar dazu, den Abschuss des Jets mit dem Attentat auf den öster­reichischen Thronfolger Franz Ferdinand zu vergleichen, das 1914 den Ersten Weltkrieg ausgelöst hatte. Und wie reagierte der sich stets so kämpferisch gebende russische Präsident Wladimir Putin?

Er unterschrieb einen Erlass, der die Obst- und Gemüseimporte aus der Türkei stoppte, Charterflüge und den Verkauf von Pauschalreisen verbot und das bis dato mögliche visum­freie Reisen zwischen den beiden Ländern aussetzte. Aus Putins engeren Kreisen waren Warnungen zu hören, dass man auch zu schärferen Mitteln „mit Auswirkungen auf türkische Energie­importe“ greifen könne, und in den Medien wurde über Cyber-Attacken spekuliert. Solche hatte es bereits 2007 gegen Estland, 2008 während des Krieges in Georgien und zuletzt 2014 gegen die Ukraine während der Annexion der Krim gegeben.

Kurzum: Kämpfe in diesem Konflikt finden nicht in der Luft oder in Schützengräben statt, Schlachtfeld ist die vernetzte Infrastruktur der globalen Wirtschaft und als Waffe dient die Unterbrechung oder Reduzierung unserer globalen Verknüpfungen: Handel und Investitionen, interna­tionales Recht, Internet, Transportwege und Personenfreizügigkeit. Willkommen im Zeitalter der Verknüpfungskriege.

Es ist keineswegs nur Russland, das diese Art der Kriegführung bevorzugt. Just als Putin Sanktionen gegen die Türkei verhängte, traf deren Präsident, Recep Tayyip Erdo­gan, bei einem Gipfel zur Flüchtlingskrise europäische Staats- und Regierungschefs. Er hat nur zu gut verstanden, dass der Flüchtlingsstrom aus seinem Land in Richtung Europa das Machtverhältnis Ankaras gegenüber der EU verändert hat. Seine Kontrolle über die Migrationsströme nutzt er nun mit Erfolg als Waffe. War Ankara vor Kurzem noch der ewige Anwärter auf eine EU-Mitgliedschaft, ist es nun zu einem mächtigen politischen Spieler geworden, der Geld und politisches Entgegenkommen fordern kann.

Die EU weiß ökonomische Abhängigkeiten ebenfalls geschickt zu geopolitischen Zwecken zu nutzen. Nach der Annexion der Krim durch Moskau entsandte sie keineswegs Kampfeinheiten zur Verteidigung ukrainischen Territoriums. Sie entschloss sich zu Sanktionen, zum Beispiel Einreiseverbote, Einfrieren von Vermögenswerten bestimmter Personen und Maßnahmen, die auf wichtige Sektoren der russischen Wirtschaft wie den Energiesektor abzielten, unter anderem durch einen Finanzierungsstopp für Energieerschließungsprojekte. Auch die Vereinten Nationen greifen seit Jahrzehnten immer wieder auf das Mittel der Sanktionen zurück, und die USA haben seit dem Beginn des „War on Terror“ ohnehin die Spielregeln finanzieller Kriegführung grundlegend verändert.

Sanktionen sind einem konven­tionellen Krieg natürlich vorzuziehen. Doch die Leichtigkeit, mit der Länder die Strukturen des internationalen Systems als Waffe instrumentalisieren können, lässt Böses ahnen für die bestehende Weltordnung. Im Jahr 1914 brach die Globalisierung zusammen, weil die mächtigsten Nationen der Welt in den Krieg zogen. 100 Jahre später könnte es paradoxerweise der Unwille der großen Mächte zu einem militärisch geführten Krieg sein, der wiederum einen Zusammenbruch der Weltwirtschaft zur Folge haben könnte.

Nun ließe sich natürlich einwenden, Sanktionen seien ein uraltes Mittel in der Politik. Warum sollte ein Instrument, das schon in den Peloponnesischen Kriegen eingesetzt wurde, so brandgefährlich sein?

Die knappe Antwort lautet: Hyperkonnektivität. Während des Kalten Krieges spiegelte die globale Wirtschaft die globale Ordnung einer Trennung in zwei Lager wider, zwischen denen es nur wenige Verbindungen gab. Mit dem Untergang der Sowjetunion wurde aus einer geteilten Welt eine Welt der Interdependenzen und Interkonnektivität. Handel, Investitionen, Kommunikation und andere Verbindungen zwischen Staaten vervielfachten sich. Hinzu kam die Vernetzung von Menschen, die der technologische Fortschritt ermöglicht hatte. Im Jahr 2020 werden 80 Prozent der Weltbevölkerung ein Smartphone besitzen, das über die Prozessorleistung eines Supercomputers von gestern verfügt. Fast die gesamte Menschheit wird durch ein einziges Netzwerk verbunden sein.

Was viele hofften, trat jedoch nicht ein. Die Intensivierung der Verbindungen zwischen Menschen und zwischen Staaten hat Spannungen nicht einfach verschwinden lassen. Die Machtkämpfe des geopolitischen Zeitalters dauern an, allerdings haben sie eine neue Dimension gewonnen. Just die Elemente, die Länder ­näher zueinander gebracht haben, sind nun zur Waffe geworden. Wohl will niemand auf die vorteilhaften und gewinnbringenden Seiten der ­Globalisierung verzichten. Und doch benutzen Regierungen diese Verbindungen – oder besser: das Kappen solcher Verbindungen – als Waffe. Aus der „Mutual Assured Destruction“ des Kalten Krieges ist eine „Mutal Assured Disruption“ geworden.

Interdependenz, einst als Verhinderer von Konflikten gepriesen, ist zu einem Machtmittel geworden, weil Staaten versuchen, die Asymmetrien in ihren Beziehungen auszunutzen. Sie haben nur zu gut verstanden, dass es gilt, eigene Abhängigkeiten zu reduzieren und das „Gleichgewicht des Schadens“ in Richtung des Gegners zu verändern, um sich selbst größere Handlungsspielräume zu eröffnen.

Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 entstand eine neue, unsichtbare Mauer zwischen der Steuerung der Weltwirtschaft und geopolitischen Auseinandersetzungen. Wirtschaft hieß schlicht Geschäft. Und Außenpolitik bedeutete, sich auf die Lösung geopolitischer Krisen in wirtschaftlich eher marginalen Teilen der Welt zu konzentrieren. Doch in Wirklichkeit sind heute alle – wirtschaftliche, politische, physische oder virtuelle – Elemente des globalen Systems anfällig für Störungen. Auch die unsichtbare Mauer zwischen Politik und Wirtschaft ist gefallen, und politische Konflikte werden in den Systemen ausgetragen, die die globale Wirtschaft steuern. Drei Schlachtfelder stechen hervor.
 

Ökonomische Kriegführung

Alle Arten wirtschaftlicher Aktivitäten – Handel, Zugriff auf Finanzmittel und Investitionen – werden als „Unterbrechungswaffen“ genutzt. Da westliche Gesellschaften kriegsmüde geworden sind und die Bereitschaft sinkt, für Militärisches Ressourcen bereitzustellen, ist die Währung der Macht für westliche Staaten deren Einfluss auf die weltweite Wirtschaft, das Finanz- und Handelssystem (einschließlich Dollar und Euro) sowie ihre Kontrolle über multinationale, aber in ihren Ländern beheimatete Unternehmen. Erst vor Kurzem stellte der britische Außenminister Philip Hammond die Frage, „ob die EU – die keine militärischen Kapazitäten hat oder haben möchte – eine alternative Quelle genuin strategischer Macht in Form von Sanktionswaffen entwickeln sollte“.

Für die Obama-Regierung sind immer raffiniertere finanzielle Sanktionen die neuen Drohnen. Wie Drohnen machen sie es möglich, verheerend effektive und angeblich nur chirurgische Eingriffe vorzunehmen, ohne das Risiko eines Bodeneinsatzes in Kauf nehmen zu müssen.

Auch nichtwestliche Länder verhängen Sanktionen, allerdings nicht unbedingt unter diesem Namen. Sie sind eher als striktere Grenzkontrollen und zollbedingte Verzögerungen getarnt. Russland hat derartige Sanktionen gegenüber Georgien, Moldawien und der Ukraine veranlasst, um deren Weg in eine Westbindung zu blockieren. Die Türkei sanktioniert Syrien und blockiert Armenien; und China hat Sanktionen gegen Japan und die Philippinen im Streit über Hoheitsgebiete auf See eingesetzt.

Sanktionen stören den globalen Handel und können heimische Unternehmen genauso hart treffen wie die Zielländer. US-Firmen durften sich nicht im Iran betätigen. Die Sanktionen gegen Russland haben deutschen Firmen – von denen 58 Prozent Einbußen erlitten haben – ebenso geschadet wie französischen Schiffswerften, die ihre Mistral-Hubschrauberträger nicht ausliefern durften. Sanktionen können überdies Gegenmaßnahmen provozieren. 2014 rächte sich Moskau an den Ländern, die Sanktionen gegen Russland unterstützen, indem es Nahrungsmittelimporte aus diesen Staaten verbot.

Ökonomische Kriegführung ist deshalb so explosiv, weil Staaten zu Maßnahmen greifen, die mit der Globalisierung eigentlich hinfällig geworden sein müssten. Wechselkursmanipulationen, Regulierungen und Subventionen zielen darauf ab, ausländische Konkurrenten zu benachteiligen. Der Erfolg der BRIC-Länder ist zu einem nicht geringen Teil der Bereitschaft ihrer Regierungen geschuldet, in den Markt einzugreifen und das System des Staatskapitalismus zu fördern. Das führt zu einem nur dem Namen nach offenen Markt und einem immer stärker manipulierten Handelssystem.

Auch der Versuch, Migrations­ströme zu lenken, darf als wirtschaftliches Druckmittel gelten. Erdogan ist dabei nur der aktuellste Fall eines Staatschefs. Seit den fünfziger Jahren gab es mehr als 75 Versuche staatlicher wie nichtstaatlicher Akteure, Bevölkerungsbewegungen als politische Waffe einzusetzen. Muammar al-Gaddafi oder Slobodan Milosevic haben gedroht, Bevölkerungsgruppen umzusiedeln oder zu vertreiben, um finanzielle Hilfe, politische Anerkennung oder das Ende militärischer Interventionen zu erpressen.

Solche ökonomische Kriegführung dürfte dazu führen, dass Staaten wie Unternehmen gleichermaßen der Globalisierung den Rücken zuwenden werden. Um sich vor einem Kappen oder einer Einschränkung glo­baler Verknüpfungen zu schützen, verzerren sie den Markt noch stärker. Das betrifft nicht nur die Länder, die Grund haben, sich vor Sanktionen zu fürchten; die Hyperkonnektivität des globalen Marktsystems verursacht eine Sogwirkung, die auch Länder einbezieht, die nicht direkt in ein Sanktionsregime verwickelt sind. So versucht Indien, seitdem die Vereinten Nationen erstmals Sanktionen gegen den Iran verhängten, seine Energieversorgung zu diversifizieren. Aus der Sicht einzelner Länder mag es sinnvoll erscheinen, Abhängigkeiten möglichst schnell abzubauen; aber es führt zu Ineffizienz und mindert den wirtschaftlichen Nutzen der Globalisierung.

 

Internationale Institutionen

Das zweite Schlachtfeld sind internationale Institutionen oder eher der Versuch, sie als Waffe zu instrumentalisieren. Optimisten hatten gehofft, dass die globalen Handelsbeziehungen dazu beitragen würden, aus aufstrebenden Mächten wie Russland und China „verantwortungsvolle Stakeholder“ in einem großen globalen System mit gemeinsamen Gesetzen und Normen zu machen. Allerdings scheint multilaterale Integration zuweilen eher zu entzweien als zu vereinen.

Einige Staaten unterminieren das internationale System, indem sie ­Institutionen blockieren oder auf eine selektive Anwendung von Regeln drängen. So haben Schwellenländer wie Indien, China oder Russland versucht, die etablierten Mächte zu frustrieren, indem sie bestimmte Institutionen – beispielsweise die WTO und ihre Handelsgespräche im Rahmen der Doha-Runde oder die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit ihren Wahlbeobachtungsmissionen – gelähmt oder sabotiert haben. Damit, so behaupten sie, verhielten sie sich ja nicht anders als die USA und deren Verbündete, die ebenfalls immer häufiger Ausnahmen von den Regeln für sich zu beanspruchen ­versuchten.

Tatsächlich ruft Washington andere Länder dazu auf, sich an das internationale Seerecht zu halten, obwohl die USA die entsprechende UN-Konvention selbst nicht ratifiziert haben. Die EU und die USA pochen auf die Unverletzbarkeit von Grenzen und nationaler Souveränität, haben aber während der Kosovo-Intervention beide Normen nicht respektiert. Erst nachträglich hat man versucht, diese Verletzung mit der Prägung des Begriffs „Responsibility to Protect“ zu legitimieren.

Es gibt einen weltweiten Trend hin zu konkurrierenden, exklusiven „minilateralen“ Zusammenschlüssen anstatt zu inklusiven, universellen multilateralen Projekten. Diese Vereinigungen, die durch gemeinsame Werte – und zuweilen durch gemeinsame Feindbilder – zusammengehalten werden, bestehen aus gleichgesinnten Ländern auf vergleichbaren Entwicklungsniveaus. Zu den „Welt-­ohne-Westen“-Gruppierungen gehören die BRIC-Staaten und die Eurasische Wirtschaftsunion (EEU), aber auch unzählige subregionale Körperschaften. China ist dabei, parallele Institutionen wie etwa die Asiatische Infrastruktur-Investmentbank (AIIB) und die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) zu unterstützen, von denen manche die bestehende Ordnung ergänzen, andere aber mit ihr konkurrieren.

Auch die westlichen Staaten schaffen neue Gruppierungen unter Ausschluss Chinas und Russlands außerhalb der universellen Institutionen, wie die Transpazifische Partnerschaft (TPP) in Asien und die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP). Hillary Clinton bezeichnete TTIP als eine „wirtschaftliche NATO“, Präsident Barack Obama erklärte kürzlich zu TPP: „Wir dürfen es nicht Ländern wie China überlassen, die Regeln der Weltwirtschaft zu bestimmen. Wir sollten diese Regeln setzen.“

Die chinesischen Institutionen sind derweil nicht wirklich multilaterale Organisationen, die Mitgliedstaaten die Möglichkeit der Interessenvertretung im Rahmen bindender Regeln ermöglichen. Sie dienen eher als Tarnung für bilaterale Beziehungen zwischen einer Reihe kleinerer Länder und dem mächtigen ­Peking. Russlands Politik gegenüber seinem „nahen Ausland“ reduziert die Nachbarländer nicht, wie manche behaupten, zu Vasallenstaaten; Moskau versucht aber, Asymmetrien in den Beziehungen zu nutzen, um sie in ein russisches System einzubinden. Konkurrenz zwischen rivalisierenden Projekten kann zu Konflikten führen: Die Ukraine-Krise entstand durch das Aufeinandertreffen zweier inkompatibler Projekte multilateraler Integration – der Östlichen Partnerschaft der EU und Russlands EEU.

 

Infrastruktur

Das dritte Schlachtfeld ist die Infrastruktur der Globalisierung, sowohl die physische als auch die virtuelle. Transportinfrastruktur ist eine essenzielle Waffe in diesem Kampf, und China ist in ihrer Nutzung führend. Staatspräsident Xi Jinping kündigte 2013 unter dem Schlagwort „One Belt, One Road“ die Neue Seiden­straßen-Initiative an, die China mit Städten von Bangkok bis Budapest verbinden und die eurasische Küste entwickeln soll. Dies ist nur ein Beispiel für Infrastrukturprojekte, mit denen China darauf abzielt, Überschusskapazitäten zu exportieren und gleichzeitig seinen Zugang zu Rohstoffen und Exportmärkten auszubauen.

Dieser Ansatz unterscheidet sich von regionaler Integration im Stil von ASEAN oder der EU. Anstatt multilaterale Verträge zur Liberalisierung von Märkten zu nutzen, verspricht China Wohlstand, indem es Länder an sein fortdauerndes Wachstum koppelt. Dies geschieht mithilfe physischer Infrastruktur wie Bahnstrecken, Autobahnen, Häfen, Pipelines, Industrieparks, Grenzzollanlagen und Sonderhandelszonen, aber auch mit institutioneller Infrastruktur wie Entwicklungsfinanzierung, Handels- und Investitionsabkommen und multilateralen Kooperationsforen.

Neue Verbindungen zu schaffen, sieht auf den ersten Blick ja nicht nach einer Unterbrechung von Interkonnektivität aus. Chinas Seidenstraßen-Initiative sorgt jedoch für Abhängigkeiten, die ausgenutzt werden können, sie umgeht aber auch gewisse Länder. Das Netzwerk, die regionale Entscheidungsfindung und der Mitgliedsstatus werden eine Zentrum-­Peripherie-Struktur haben, eine Vereinbarung zwischen zentralem Knotenpunkt (Peking) und seiner „Umgebung“ (die anderen Länder). Die wechselseitigen Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie werden darin bestehen, dass China jenen Staaten materielle Vorteile gewähren wird, die sich respektvoll verhalten – und jene abstraft, die dies nicht tun. Chinas Infrastrukturprojekte könnten für die Welt des 21. Jahrhunderts so wichtig werden, wie es der amerikanische Schutz der Seerouten im vergangenen Jahrhundert war.

Wenn Transportwege die Hardware der Globalisierung sind, so ist das Internet ihre Software. Es ist nicht der öffentliche Platz geworden, an dem internationale Grenzen keine Gültigkeit mehr besäßen. Länder wie Australien, Frankreich, Südkorea, Indien, Indonesien, Kasachstan, Malaysia und Vietnam haben bereits Schritte unternommen, um bestimmte Daten auf Servern innerhalb ihrer Grenzen zu behalten. Die Deutsche Telekom hat ein ausschließlich deutsches „Internetz“ vorgeschlagen, die EU zieht einen virtuellen Schengen-Raum in Betracht.
 

Die neuen, geoökonomischen G7

Im neuen Zeitalter der Geoökonomie werden sich einige Länder und regionale Blöcke in einer besseren Position wiederfinden als andere. Sieben archetypische Formen der Macht lassen sich beschreiben: die neuen G7.

Die Finanzsupermacht: die USA

Die Vereinigten Staaten bleiben die einzige Supermacht der Welt; sie können ihre militärische Kraft mit größerer Leichtigkeit einsetzen als jedes andere Land. Seit dem „War on Terror“ konzentriert sich das US-­Finanzministerium auf Möglichkeiten, die Allgegenwart des Dollar und die Dominanz der USA im internationalen Finanzsystem zu nutzen, um die Finanzierung von Terrorismus zu unterbinden. Was als Krieg gegen Al-Kaida ­begann, umfasste bald ­Maßnahmen gegen Nordkorea, den Iran, Sudan und sogar Russland. Die enormen Geldstrafen, die Banken drohten, die sich nicht an diese Sanktionen hielten, verfehlten ihre Wirkung auf die globalen Finanzmärkte nicht. Der ­damalige CIA-­Direktor Michael Hayden sprach sogar von „präzisionsgelenkter Munition des 21. Jahrhunderts“.

Regulierungsweltmeister EU

Die Europäische Union ist der weltweit größte Binnenmarkt. Da die meisten multinationalen Konzerne vom Zugang zu diesem Markt abhängig sind, müssen sie sich an EU-­Standards halten. Die Union hat diese Macht im wirtschaftlichen Bereich zu nutzen gewusst. Sie blockierte die Fusion von General Electric und Honeywell, zwang Microsoft dazu, Windows vom Explorer-Browser zu entkoppeln und behinderte US-­Agrargeschäfte in Afrika und anderen globalen Märkten im Bereich gentechnisch veränderter ­Organismen.

Die Einhaltung von EU-Gesetzen und -Standards ist Voraussetzung für den Zugang zum EU-Binnenmarkt sowie zur EU-Mitgliedschaft. Um Mitglied in der Union zu werden, müssen Kandidaten über 80 000 Seiten Gesetze in die heimische Gesetzgebung integrieren, die von Rechten für Homosexuelle über Nahrungsmittelsicherheit bis hin zu Lautstärkevorschriften für Rasenmäher so ziemlich alles regeln. Dazu kommt: Regulative Macht kostet weniger, hält länger, ist leichter einsetzbar und weniger leicht angreifbar als traditionelle außenpolitische Werkzeuge.

Baumeister China

Chinas Handels- und Wirtschaftsmacht wächst. Doch Pekings innovativstes geoökonomisches Werkzeug ist die Infrastruktur – die physische wie institutionelle. Pekings Budget für die AIIB beträgt 100 Milliarden Dollar. Das entspricht dem 1947 verkündeten Marshall-Plan für Europa. Dieses Geld fließt meist in die Finanzierung von Straßen, Bahnlinien, Pipelines und anderer Infrastrukturprojekte in Eurasien und ebnet den Weg für Chinas Ausdehnung gen Westen. Chinesischen Quellen zufolge werden diese Projekte in den nächsten zehn Jahren einen Wert von bis zu 2,5 Billionen Dollar zu Chinas Handel beisteuern. Das ist mehr als der Wert aller chinesischer Exporte im Jahr 2013.

Obwohl es weiterhin ein aktives Mitglied in bestehenden internationalen Institutionen ist, finanziert ­Peking darüber hinaus Parallelstrukturen wie die AIIB und die SCO. Das übergreifende Ziel ist es, größere ­Unabhängigkeit vor allem von den USA zu erlangen und das chinesische Einflussgebiet in Asien und darüber hinaus auszuweiten.

Chinas Ambitionen erstrecken sich auch auf die virtuelle Welt. Hier verfolgt Peking eine Agenda der ­Cyber-Souveränität, die das von den USA bevorzugte offene Modell der Internetverwaltung herausfordert. Nach chinesischen Vorstellungen sollen nationale Regierungen Datenströme und World Wide Web innerhalb ihres Hoheitsgebiets beaufsichtigen können. Die Regierung in Peking festigt schon jetzt beständig ihre Kontrolle über das Internet und die Technologiehersteller. Durch die große Anzahl chinesischer Internetnutzer hat China auch auf diesem ­Gebiet Gewicht.

Migrations-Supermacht Türkei

In einem Zeitalter der Massenmigra­tion ist die Möglichkeit, Bevölkerungsströme zu lenken, eine Quelle der Macht. Dass Migrationsströme enormen Druck verursachen können, nutzt Ankara, um die Machtbalance zwischen der Türkei und der EU zu verändern. Die türkische Regierung fordert die Beendigung der Visum­pflicht, Hilfen, um die Aufnahme von über zwei Millionen Syrern zu finanzieren, und eine Wiederaufnahme der Gespräche zum EU-Beitritt.

Störer Russland

Nach dem Ende der Sowjetunion wurde Russland zum Disruptions­pionier. In den vergangenen Jahren hat Moskau erfolgreich das Verhalten von Nachbarn und anderen Mächten beeinflusst, sei es durch die Unterbrechung von Gaslieferungen, Sanktionen, die Ausweisung von Arbeitern, Cyber-Attacken, Fehlinformationen und Propaganda­kampagnen oder durch Versuche, vom Westen dominierte internationale Organisationen wie die UN und die OSZE zu blockieren. Parallel dazu hat Moskau sich um den Aufbau neuer Organisationen wie BRICS, SCO und EEU bemüht. Allerdings hat Russland es verpasst, seine Wirtschaft zu diversifizieren und zu stärken; es bleibt vom Export fossiler Rohstoffe abhängig, sein Anteil an der Weltwirtschaft sinkt beständig. Das wird Moskaus Möglichkeiten, sich als Störer zu betätigen, mit der Zeit beeinträchtigen.

Energie-Supermacht Saudi-Arabien

Die geoökonomische Macht Saudi-­Arabiens beruht auf zehn Millionen Barrel Öl, die es jeden Tag fördert. Das Land stellt damit ein Fünftel des globalen Ölhandelsvolumens. Seit Jahrzehnten verwandelt Riad seinen Rohstoffreichtum in wirtschaftliche und geopolitische Macht und fördert die OPEC als sein Hauptinstrument, um Marktmacht in internationale, ökonomische Einflussnahme umzumünzen. Mit seiner Bereitschaft, kurzzeitige Einbußen hinzunehmen, hat es globale Märkte zu eigenem Vorteil geprägt – und zum Nachteil von Rivalen wie dem Iran oder amerikanischen Schieferölproduzenten. Überdies investiert Saudi-Arabien Milliarden Öldollars in außenpolitische Ziele wie die Unterstützung von Revolu­tionsgegnern während des Arabischen Frühlings oder in regionale Stellvertreterkriege gegen den Iran.

Die Macht des Volkes

Die vernetzte Wirtschaft und Gesellschaft sind anfällig für Störungen von unten – ob durch feindliche Regierungen, Terroristen oder Teenager mit Laptops. Die Möglichkeit einfacher Bürger, sich im Netz zusammenzuschließen – in imaginierten Mehrheiten – macht Politik in demokratischen wie autoritären Systemen unbeständiger und anfälliger für Kampagnen gegen bestimmte Vorgehensweisen (Francis Fukuyama sprach schon von der Geburt der „Vetokratie“, in der ängstliche Regierungen sich dem Willen der Bevölkerung beugen). Hacking, öffentliche Boykotte und De-Investitions-Kampagnen – ob autonom oder von Regierungen angeführt – häufen sich, werden effektiver, schneller und bedürfen weniger Ressourcen.
 

Wo bleibt Europa?

Theoretisch sollte es der EU in einer geoökonomischen Welt besser gehen als in der klassisch geopolitischen. Ökonomisch ist die EU ein Riese. Sie sitzt im Herzen einer Eurosphäre aus 80 Staaten, die auf den Handel mit und Investitionen aus der EU angewiesen sind. Sie ist eine ordnungspolitische Supermacht, und einige ihrer führenden Mitgliedstaaten wie Deutschland als weltgrößte Exportnation sind besonders geeignet, Macht in einer geoökonomischen Welt auszuüben.

Nur: Wie nachhaltig ist Europas geoökonomische Macht? Wie lange wird die ordnungspolitische Stärke halten? Wird die EU – die, anders als die anderen Großmächte, kein Staat ist – in der Lage sein, ihre strukturelle Teilung zu überwinden und die vorhandenen Ressourcen in gemeinsame Politik zu bündeln?

Am hinderlichsten aber ist, dass die Europäer weiterhin tief und unverbrüchlich an den Mythos vom „Ende der Geschichte“ und an die Orthodoxie einer Win-win-Globalisierung glauben. Viele Regierungen sind immer noch der Überzeugung, dass die Wirtschaft vor Politik und Geopolitik geschützt werden sollte und dass zwischenstaat­liche Konflikte durch Integration und Interdependenz verhindert werden können.

Dabei wäre es an der Zeit, ganz andere Lektionen zu lernen: Europäische Staaten sollten erkennen, dass Staatsinterventionen bisweilen die beste Möglichkeit sein können, um eine offene globale Wirtschaft voranzutreiben. So könnten westliche Länder von ­Chinas „Infrastructure First“-Modell lernen und es an ihre Stärken anpassen. Sie sollten Methoden entwickeln, Mitgliedstaaten zu entschädigen, denen bei bestimmten geoökonomischen Politiken Nachteile entstehen, sodass sie ihre gemeinsame Stärke effektiver nutzen. Sie müssen – auf nationaler wie EU-Ebene – Mechanismen für ökonomische Staatsführung entwickeln, die denen anderer Großmächte gleichen. Die EU sollte eine Taskforce für wirtschaftliche Staatskunst entwickeln und ein „Sanctions Bureau“ einrichten, um dieses immer mächtigere Instrument zu ­koordinieren.

Vor allem aber sollten die Europäer an der vordersten Front stehen, wenn es darum geht, Einsatzregeln für die ökonomische Kriegführung festzulegen. So wie Staaten eine Reihe von Abkommen geschlossen haben, die die konventionelle Kriegführung zwischen Staaten regeln, so müssen Verhaltensprinzipien für den ökonomischen Bereich festgelegt werden. Natürlich wird sich dies als schwierig erweisen, angesichts der tiefen Abneigung gegenüber konventioneller Kriegführung, die überhaupt erst dafür gesorgt hat, dass ökonomische Beeinträchtigungen so attraktiv und weit verbreitet sind.

Mehr als alle anderen haben Europäer ein Interesse daran, stärkere politische, regionale und kreative Formen von kollektivem Handeln zu entwickeln, um der Stimmung der Atomisierung entgegenzuwirken, die die Welt immer stärker definiert.

Mark Leonard ist Direktor des ­European Council on Foreign Relations (ECFR) in London.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2016, S. 94-103

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