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01. März 2016

Goodbye? Hello!

Nicht die Briten per se wollen raus aus der EU, sondern ein Teil der Elite.

Bei manchen Vertretern der Konservativen Partei oder der Medien ist ein Ende der britischen Mitgliedschaft geradezu zur Obses­sion ­geworden. Premier David Cameron muss deshalb einen Mehr-­Fronten-Kampf führen. Großbritanniens Nachbarn könnten ihm dabei helfen.

Wer sich britische Meinungsumfragen über längere Zeiträume ansieht, wird feststellen, dass es ein Mythos ist, von „den euroskeptischen Briten“ zu sprechen. Für die überwältigende Mehrheit gehört die Frage der EU-Mitgliedschaft nicht zu den dringendsten Problemen, vor denen das Vereinigte Königreich steht. Alles in allem ist die britische Bevölkerung pragmatisch und willens, Souveränität abzutreten und auf europäischer Ebene zu bündeln, wenn das vor allem einen wirtschaftlichen Nutzen hat. Die Briten sind „skeptisch“ im eigentlichen Wortsinne, aber die Frage der EU-Mitgliedschaft raubt ihnen nicht den Schlaf.

Was es stattdessen gibt, ist ein „euroskeptischer“, um nicht zu sagen „europafeindlicher“ Teil der britischen Elite, insbesondere innerhalb der Konservativen Partei und in den Medien, vor allem der meinungsmächtigen Presse, die das europäische Integrationsprojekt fortwährend in den düstersten Farben malt. Diesem Teil der Elite lässt das Europa-Thema keine Ruhe; es ist geradezu eine Obsession. Für sie gibt es kein wichtigeres Thema als das, wie man Großbritannien aus der EU führen kann – wichtiger noch als der nächste Wahlsieg oder der Machterhalt der eigenen Partei. Diese virulente Europa-Feindschaft hat über die Jahrzehnte eine Reihe konservativer Regierungen destabilisiert und es Großbritannien im Grunde unmöglich gemacht, auf europäischer Ebene sein ganzes Gewicht in die Waagschale zu werfen.

Geht das Referendum mit einer deutlichen Mehrheit für einen Verbleib Großbritanniens in der EU aus, dürfte dieser Teil der Elitenmeinung für einige Zeit neutralisiert werden. Das wäre eine große Chance für das Land, wieder eine konstruktivere Rolle zu spielen. Mehr noch: Die britische Öffentlichkeit dürfte Gefallen an den Vorteilen einer solchen Politik finden. Nach dem letzten Referendum von 1975 war Großbritannien vielleicht nicht der einfachste Partner, aber London hat in dieser Phase eine Reihe großer Projekte vorangetrieben. Roy Jenkins wurde kurz nach dem Referendum Kommissionspräsident in Brüssel und war an der Gründung des Europäischen Währungssystems (EMS) beteiligt, dem Vorläufer des Euro. Der konservative Politiker Lord Cockfield hat als Kommissar zwischen 1984 und 1988 das Projekt des Gemeinsamen Marktes wesentlich vorangebracht – bevor die Tories unter Margaret Thatchers Nachfolger John Major nach dem Vertrag von Maastricht begannen, sich wegen „Europa“ zu zerfleischen.

Der große Wahlsieg der Labour Party mit Tony Blair an der Spitze 1997 dämpfte diese parteiinternen Kämpfe, und Großbritannien konnte eine Zeitlang eine wirklich konstruktive Rolle spielen: Blair hat einige europäische Großprojekte angestoßen: die Osterweiterung, die Verteidigungsinitiative von St. Malo, die Lissabon-Agenda. Obwohl Blairs Kurs beim Irak-Krieg Europa spaltete und Großbritanniens Rolle minderte, gelangen in dieser Phase immer noch wichtige Erfolge wie die Aufnahme von Verhandlungen mit Teheran über das iranische Atomprogramm.

Seitdem aber die Konservativen wieder am Ruder sind, ist deren ungelöster Europa-Streit zurück – was unter anderem dazu geführt hat, dass Großbritannien bei vielen großen Fragen schlicht nicht präsent war, allen voran in der Ukraine-Krise, wo es nicht Teil des „Normandie-Formats“ wurde. Bei einem deutlichen „Ja“ für die EU-Mitgliedschaft dürfte London wieder die seiner Größe entsprechende Rolle in Europa spielen. Gerade die Blair-Jahre haben gezeigt, dass die Briten es viel lieber sehen, dass Europa-Politik in ihrem Namen gemacht wird, als dass sie ihnen zustößt.

David Cameron kämpft tatsächlich an drei Fronten. Zum einen geht es ihm um die Zukunft der EU und die Verhandlungen zwischen Großbritannien und den einzelnen Mitgliedstaaten. Die zweite Front ist der mörderische Europa-Krieg innerhalb der Konservativen Partei, die dritte die britische Öffentlichkeit. Gemäß seiner Theorie kann er, um letztere für sich zu gewinnen, nicht den Status quo verkaufen, denn für jedermann ist offensichtlich, dass in der heutigen EU eine Menge falsch läuft. Und das Referendum kann auch kein Beliebtheitswettbewerb sein, denn den würde die EU angesichts der schweren, ungelösten Probleme wie der Euro- und Staatsschuldenkrise sowie der Flüchtlingskrise derzeit in praktisch jedem Mitgliedsland verlieren. Wir haben es derzeit nicht mit einer EU zu tun, die mit sich im Reinen wäre.

Deshalb denkt Cameron, er müsse ein neues, ein besseres Europa anbieten – um dort, wo die tiefste Spaltung über die Frage herrscht, im konservativen Lager, möglichst viele auf seine Seite zu ziehen. Dies richtet sich auch an maßgebliche, eher euroskeptische Stimmen, die großen Einfluss haben, zum Beispiel Londons charismatischen Bürgermeister Boris Johnson, der zugleich Unterhausabgeordneter ist und sich Chancen auf Camerons Nachfolge ausrechnet; oder Innenministerin Theresa May, in deren Verantwortungsbereich Flüchtlings- und Migrationsfragen fallen. Sie und andere sind recht eurokritisch eingestellt und fürchten sich vor ihren Wahlkreisen, denn dort bestehen die Tories meist aus recht alten und euroskeptischen Parteimitgliedern, die zum Beispiel gern die Todesstrafe wieder einführen würden. Ein Unterhauskandidat oder -abgeordneter, der dies nicht auch befürwortet, wird nicht aufgestellt, sondern aussortiert. In jüngster Zeit lautete die Antwort auf die Frage, welches Gesetz diese alten Tory-Aktivisten gern kassiert sehen würden, stets: der 1972 European Communities Act. Mit anderen Worten: Raus aus der EU!
 

Konzessionen als dünnes Drahtseil

Vor diesem Hintergrund sind Camerons Neuverhandlungen des britischen Verhältnisses zur EU zu sehen. Sie werden, so die Hoffnung, Cameron und vielen seiner Kabinettsmitglieder als dünnes Drahtseil ins „In“-Camp dienen. Das erklärt die detailreichen Verhandlungen mit Brüssel und den Mitgliedstaaten, die die meisten Briten gar nicht interessieren. Zum Beispiel ist das Lossagen von der Formulierung, eine – wie es in den Römischen Verträgen heißt – „immer engere Union“ zu schaffen, für konservative Unterhausabgeordnete von ungeheurer symbolischer Bedeutung; die breite Öffentlichkeit ist da eher desinteressiert. Ähnliches gilt für die „Rote Karte“, die nationale Parlamente erhalten sollen, um europäische Gesetzgebung stoppen zu können. Die größten Konfliktpunkte sind Fragen, die die Währungsunion betreffen, über die insbesondere Schatzkanzler George Osborne sehr besorgt ist.

Für die Öffentlichkeit ist aber Migration das größte Thema – und die Euroskeptiker haben, in geradezu genialer Weise, dieses mit der Europa-Frage vermengt, also die eher abstrakte Frage von Souveränität mit der konkreten Frage von Grenzkontrollen verknüpft. Aus diesem Grund geht es beim Referendum gar nicht so sehr um die Frage auf dem Papier, sondern um das, was dahintersteht: Geht es um unsere wirtschaftliche Zukunft und die Gefahren, die ein Verlassen des europäischen Binnenmarkts mit sich brächte, oder um Einwanderung und die Rückerlangung der Kontrolle über unsere Grenzen?

Großbritannien hatte in den vergangenen Jahren eine steigende Nettoeinwanderung zu verzeichnen, die 2014 bei über 330 000 Menschen lag – der rasanteste Zuwachs seit dem Zweiten Weltkrieg. 1,5 Millionen Osteuropäer sind ins Land gekommen, und die Migrationsströme sind keine Kurzzeitphänomene, sondern haben sich über die Jahre verstetigt. Die Sorgen der Briten kreisen dabei nicht nur um Fragen der Identität, sondern auch um die Folgen für öffentliche Dienstleistungen und Schulen, für den Immobilienmarkt; und sie bestärken das allgemeine Gefühl, dass die Dinge aus dem Ruder laufen.

Vor diesem Hintergrund argumentiert das „Out“-Lager: Es geht um Kon­trolle, und wir können die Kontrolle nur dann zurückgewinnen, wenn wir die EU verlassen. Das „In“-Lager hält dagegen, dass es nicht um Kontrolle gehe, sondern darum, stark zu sein. Es argumentiert, Großbritannien sei innerhalb der EU stärker. „Britain stronger in Europe“ lautet der Slogan: Als EU-Mitglied habe das Land eine stärkere Wirtschaft, eine stärkere Außenpolitik, eine stärkere Stimme in der Welt. Die EU-Befürworter versuchen aufzuzeigen, dass die „Outers“ keinen vernünftigen Plan haben.

Zugleich signalisiert das „In“-Lager: Wir hören eure Sorgen in Sachen Einwanderung und tun alles, um das Problem zu lösen. An dieser Stelle kommt der „Tusk-Plan“ ins Spiel, zum Beispiel mit den Zugeständnissen bei der Beschränkung von Sozialleistungen für EU-Bürger. Die EU-Befürworter sagen: Würden wir die EU verlassen, würden wir nicht nur unsere Wirtschaft zerstören und unsere Sicherheit aufs Spiel setzen, sondern womöglich noch nicht einmal das Einwanderungsproblem lösen – denn tatsächlich hilft unsere EU-Mitgliedschaft uns auch bei der Migrationsfrage, dank ihr können wir unsere Grenze in Calais und nicht erst in Dover kontrollieren. Die Flüchtlinge säßen in Kent und nicht in Nordfrankreich, wären wir nicht in der EU.

Das „Out“-Lager hat seine Argumente noch nicht richtig sortiert. Man behauptet: Großbritannien ist ein ganz wichtiges Land, mit einem massiven Handelsbilanzdefizit gegenüber dem Rest der EU; wir sind sechsmal so groß wie das Nicht-EU-Mitglied Norwegen, deshalb werden wir von der EU auch einen sechsmal so guten Deal bekommen. Wir müssen nicht so viele Kompromisse machen, um Zugang zum Gemeinsamen Markt zu erhalten. Wir werden all die Vorzüge des Binnenmarkts genießen, ohne ins EU-Budget einzahlen oder Freizügigkeit gewähren zu müssen.

Hier können die anderen Europäer den EU-Befürwortern helfen, indem sie sagen: Das soll wohl ein Witz sein! Wer Zugang zum Binnenmarkt haben möchte, muss auch Verantwortung übernehmen, Beiträge zum Haushalt zahlen, die Freizügigkeit von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen akzeptieren. Oder es gibt eben nur ein Freihandelsabkommen oder eine Zollunion, und Großbritannien findet sich in der gleichen Situation wie die Türkei oder Kanada wieder. Und das andere ist die Frage von Migra­tion und Sozialleistungen – denn die wird sich wirklich auf das Referen­dum auswirken.

Mark Leonard ist Direktor des ­European Council on Foreign Relations (ECFR) in London.

Bibliografische Angaben

IP Länderporträt 1, März - Juni 2016, S. 6-9

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