Ein Komiker für die Hoffnung
Die anstehenden Wahlen in der Ukraine sollen zu Veränderungen führen
Am 31. März wählen die Ukrainer einen neuen Präsidenten, für Ende Oktober sind Parlamentswahlen geplant. Der durch die russische Regierung gefütterte Krieg in der Ostukraine geht ins sechste Jahr; trotz des Minsk-2-Abkommens vom Februar 2015 sterben auf beiden Seiten weiterhin Soldaten, Kämpfer und Zivilisten. Zum Jahresende zog die Kyiv Post (24. Dezember) eine traurige Bilanz des Jahres 2018: Danach verloren mindestens 134 ukrainische Soldaten und 43 Zivilisten ihr Leben. Mittlerweile hat der Krieg nach Angaben der ukrainischen Regierung und Schätzungen der UN fast 13 000 Opfer auf beiden Seiten gefordert; 1,5 Millionen Menschen verließen ihre Heimat im Donbass und auf der Krim.
Dennoch ist der Krieg nicht mehr das ganz große Thema bei den Menschen. Wer häufig in der Ukraine unterwegs ist, hört in Gesprächen von der Kriegsmüdigkeit. Die Ukrainer wissen aber, dass eine Lösung des Konflikts auch der Schlüssel für viele andere gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Herausforderungen im Land ist.
So ist es nicht verwunderlich, dass die Nachrichtenagentur Unian (12. Januar) von einer am Jahresende durchgeführten Umfrage unter 40 000 Ukrainern aus allen Landesteilen berichtet, in der 72 Prozent der Befragten den Krieg als eines der maßgeblichen Probleme der Ukraine angeben. Die Angst vor einer weiteren Eskalation des Krieges wurde geschürt, als Schiffe der russischen Marine Ende November 2018 drei Boote der ukrainischen Marine daran hinderten, die Straße von Kertsch am Zugang zum Asowschen Meer zu passieren. Daraufhin hatte Präsident Petro Poroschenko das Kriegsrecht in zehn Regionen verhängt. Bis zum Ende des Kriegsrechts am 26. Dezember 2018 durften zudem 1650 Russen nicht in die Ukraine einreisen.
In der Presse war die neuerliche russische Provokation das bestimmende Thema. Die Abgeordnete Svitlana Zalishchuk fragt auf dem Onlineportal Novoe Vremja (6. Dezember), wie man die Aggression seitens der russischen Regierung überhaupt bekämpfen könne. Sie fordert Sanktionen gegen russische Unternehmen und Geschäftsleute, die beispielsweise am Bau der Brücke von Kertsch beteiligt waren. Zudem plädiert sie für ein Ende der Freihandelszone mit der von Russland besetzten Krim, über die sich Oligarchen wie „Firtasch und Co.“ bereichern. Dagegen argumentiert der bekannte Sicherheitsexperte Iraklij Dzhanaschija ebenfalls auf Novoe Vremja (17. Dezember): „So funktioniert unsere Konfrontation mit Russland. Einerseits ist da die Ukraine, die einen Sieg auf Schritt und Tritt imitiert und dabei selbst in die Grube der Stagnation gerät, und andererseits ist da Russland, das vorgibt, unschuldig und untätig zu sein, während es ruhig und aktiv konkrete Pläne schmiedet und sehr lebhaft handelt.“
Dauerthema Korruption
Ein weiteres Dauerthema in den Medien ist die Korruption. In der bereits erwähnten Umfrage nennen 41 Prozent der Befragten Bestechung und Korruption als wesentliche Probleme in ihrem Land. Für das eigene Leben geben die Befragten an, dass niedrige Gehälter und Renten (50 Prozent) und die Inflation (40 Prozent) zu den größten Sorgen gehören. Der Wille, für die Demokratisierung und Westorientierung des Landes weiterhin einen langen, schmerzhaften Weg zu gehen, schwindet bei nicht wenigen.
Auch die Wirtschaft erholt sich nur langsam, zu langsam aber für ein Land, das freien Zugang zu den europäischen Märkten hat. Im vergangenen Jahr betrug die Wachstumsrate gerade mal 3 Prozent. Die Unzufriedenheit und Ernüchterung der Ukrainer sind groß, gerade nach dem verheißungsvollen Aufbruch durch die Kräfte des Euromaidan, der viele neue Akteure in Zivilgesellschaft und Politik hervorgebracht hat. Diese haben zwar viele, auch erfolgreiche Reformen in Gang gesetzt, aber weder die Korruption in der Politik noch die Machtstrukturen der Oligarchen (gerade im Parlament) konnten entscheidend gebrochen werden.
Auch ist die mangelhafte Unabhängigkeit des Rechtssystems ein tiefgreifendes Problem auf dem Weg zum Rechtsstaat. Entsprechend groß sind die Hoffnungen der Ukrainer und der internationalen Geldgeber in Bezug auf das Hohe Antikorruptionsgericht (HACC), für das seit Ende 2018 die Auswahl der 39 Richter läuft. Allerdings gibt es auch bei der Auswahl geeigneter Kandidaten zahlreiche Probleme, wie die Kyiv Post (4. Januar) berichtet. „Chesno (eine ukrainische Antikorruptions-NGO) zufolge erfüllen mindestens 30 der 113 Kandidaten für das Antikorruptionsgericht nicht die professionellen Standards für Ethik und Integrität.“
Ukrainische Medien berichten Tag für Tag über die Reformanstrengungen, über Erfolge und Rückschläge, die zusätzlich in den sozialen Medien ihre Verbreitung finden und lebhaft diskutiert werden. So wundert es nicht, dass die Medien zum fünfjährigen Maidan-Jubiläum Ende November 2018 ihren Lesern kaum große Bilanzartikel präsentierten. Der Kampf um die Revolution und deren Deutung gehört eben zum Alltag. Unter dem Titel „Der neue Feudalismus und das Ende der Revolution“ erklärt Dmytro Gnap auf dem Nachrichtenportal Ukrainskaja Pravda (15. Januar), warum er das aktuelle System in der Ukraine für vergleichbar mit dem Feudalismus des Mittelalters hält: „Wahlen und Gewaltenteilung – diese Attribute der Demokratie verleihen unserem Staatssystem natürlich ein modernes Aussehen. Aber seine Essenz ändert sich nicht. Wenn man genau hinsieht, ist Feudalismus auch in Zeiten von Smartphones, Elektroautos und 4G-Internet durchaus möglich. Die heutige Ukraine lebt von mittelalterlichen Prinzipien, angepasst an die Errungenschaften der Zivilisation. In den Jahren der Unabhängigkeit wurde das Feudalmodell so weit perfektioniert, dass wir heute ein hässliches und sehr stabiles sozialpolitisches System erleben – mit der Bezeichnung: neuer Feudalismus.“
Gnap ist eine interessante Persönlichkeit. Der 41-Jährige stammt aus Donezk, arbeitete als investigativer Journalist, bis er im Sommer vergangenen Jahres seinen Beruf aufgab, um in die Politik zu gehen. Er ist Mitglied der Partei „Sila ljudej“ (Die Kraft der Menschen), die sich 2014 gründete und die versucht, mit jungen und unverbrauchten Leuten die Politik aufzumischen. Gnap wird als Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen antreten, ist aber wohl chancenlos.
Für das Nachrichtenportal Novosti Donbassa (11. Januar) setzt sich die Autorin Tatjana Monachova mit der Frage auseinander, ob der Euromaidan die ukrainische Gesellschaft in Bezug auf Homophobie, Sexismus oder Minderheitenrechte verändert habe, ob also „europäische Werte“ tatsächlich angekommen seien. Sie kommt zu dem Schluss, dass die ukrainische Gesellschaft, auch aufgrund ihres sowjetischen Erbes, nach wie vor sehr konservativ sei, dass sie sich aber dennoch wandeln würde. Es gebe immer mehr Konferenzen, Veranstaltungen und Publikationen zur Akzeptanz von Minderheiten und „dem Anderen“, so Monachova. Zudem böten die sozialen Medien die Möglichkeit, Hate Speech, Sexismus oder Rassismus zu thematisieren und als Korrektiv zur bestehenden Meinung zu etablieren.
Monachova macht das Fernsehen als wirkungsvollste Bremse in Bezug auf die Liberalisierung der Gesellschaft aus: „Die Rhetorik der Fernsehsender des Landes ist voller Hassrede. Aufgrund der hohen Ratings und der politischen Ambitionen von Eigentümern der Sender nimmt die Produktion toxischer Inhalte zu. Die Zuschauer sind Geiseln der Redaktionspolitik und ihrer eigenen Dopamin-Fluten, die von aggressiven Themen und Äußerungen angeheizt werden. Dieser Zustand verstärkt die Polarisierung der Meinungen in der Gesellschaft, die natürlich nicht zum gesellschaftlichen Zusammenwachsen des Landes beiträgt.“
Ein ungewöhnlicher Kandidat
Große Hoffnungen für einen weiteren demokratischen Wandel verbinden sich mit den Präsidentschaftswahlen, an denen sich auch ein Mitbewerber beteiligen wird, der eher ungewöhnlich ist und dem zumindest gute Chancen auf den Einzug in die Stichwahl eingeräumt werden. Sein Name: Volodymyr Zelenskiy. Der 40-Jährige ist der bekannteste Komiker des Landes. Berühmt gemacht hat ihn ausgerechnet seine Rolle in der Fernsehserie „Diener des Volkes“. Darin steigt er als Lehrer zum unbestechlichen Präsidenten der Ukraine auf.
Gleich nach Bekanntgabe seiner Kandidatur am Silvesterabend begann die Vermutungsmaschinerie, Zelenskiy als Schattenkandidaten des Oligarchen Ihor Kolomoyski zu diskreditieren. Diesem gehört schließlich der Fernsehsender 1+1, in dem die meisten von Zelenskiys Programmen laufen. Während Kritiker ihm vorwerfen, dass er keinerlei politische Erfahrung habe, und sich fragen, wer den Wahlkampf des Komikers tatsächlich finanzieren und mit welchem politischen Programm er aufwarten wird, glaubt Wladimir Fesenko auf Novoe Vremja (12. Januar), dass gerade Zelenskiys Status als unverbrauchter Neuling ihm zum Erfolg verhelfen könnte.
Doch gleichzeitig sieht der Kommentator eine eklatante Schwäche des Kandidaten: „Ein Schwachpunkt von Zelenskiy liegt darin – und die Soziologen wissen es –, dass zu seinen Unterstützern vor allem junge Menschen gehören. Und deren Aktivität als Wähler ist normalerweise viel geringer als die anderer Bevölkerungsschichten.“ Die Sendung „Schemy“ (Machenschaften) auf Radio Svoboda deckte am 17. Januar auf, dass Zelenskiy an drei Filmunternehmen beteiligt sei, die ihr Geld in Russland machen – obwohl der Komiker bereits 2014 sagte, dass er keine Geschäfte mehr im Nachbarland unterhalte.
Wenig Hoffnung auf eine Wiederwahl darf sich der amtierende Präsident Poroschenko machen, der in der neuesten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Rejting auf Platz drei (10,8 Prozent) hinter der altbekannten Julija Tymoschenko (13,1) und eben Zelenskiy (14,1) liegt. Der Ausgang der Wahl ist allerdings noch völlig offen. Poroschenko, der unter dem Motto „Armee, Sprache, Glaube“ für sich wirbt, wird vorgeworfen, zu wenig gegen Korruption und Oligarchentum getan zu haben. Selbst von seinem Einsatz für die Verleihung der kirchenrechtlichen Unabhängigkeit an die neue orthodoxe Kirche in der Ukraine konnte er nicht wesentlich profitieren.
Am 6. Januar 2019 hatte Bartholomaios I., ökumenischer Patriarch der Orthodoxen Kirche, das Unabhängigkeitsdokument bei einem Festgottesdienst in der Istanbuler Georgskathedrale an Epiphanius, dem Metropoliten von Kiew und der Ukraine, übergeben. Zum Ärger der russischen orthodoxen Kirche und der Regierung in Moskau, die damit weiter an Einfluss in der Ukraine verlieren.
Der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy, der für zahlreiche deutsche Medien über seine Heimat berichtet, kommentiert am 5. Januar auf seiner Facebook-Seite die durchaus umstrittene Entscheidung, den ukrainischen Orthodoxen eine kirchliche Unabhängigkeit zuzugestehen: „Für die Zukunft der Ukraine ist mittel- und langfristig vor allem wichtig, dass der Einfluss der immer noch großen Kirche des Moskauer Patriarchats geringer wird. Für die Meinungsbildung im Sinne Moskaus spielte sie oft eine ähnliche Rolle wie das russische Staatsfernsehen. Das habe ich immer wieder in privaten Gesprächen erlebt.“
Ingo Petz, der seit 1998 zu osteuropäischen Themen schreibt, lebt als Autor und freier Journalist in Berlin.
Internationale Politik 2, März-April 2019, S. 132-135