Auf Wiedersehen, Homo Sowjeticus
In Weißrussland wächst die Sehnsucht nach Selbstbestimmung
Es ist Abend und Minsk leuchtet. Träge schiebt sich die Autoschlange über den Prospekt der Unabhängigkeit, die Lebensader der weißrussischen Hauptstadt. In den regennassen Scheiben unseres gelben Wolgas spiegeln sich die Lichter der Festbeleuchtung über dem Prospekt wie tänzelnde Glühwürmchen. Links und rechts des Boulevards reihen sich die verschnörkelten stalinbarocken Gebäude aneinander, alle so hell illuminiert, dass selbst der Abendhimmel bläulich scheint. Man muss sich einfach wie ein Sonnenkönig vorkommen in dieser Kulisse. Wie hatte der Künstler Artur Klinau bei seiner Führung durch Minsk am Morgen gesagt? „Mit seinen sozialistischen Palästen ist Minsk die herrschaftliche Stadt des Proletariats.“ So wollten es die Sowjets, als sie die im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstörte Stadt zur sozialistischen Mustermetropole ausbauten, zur aus Stein und Beton gebauten Illusion einer neuen, besseren Zeit. Heute herrscht ein anderer, neosowjetischer König in Minsk und in Weißrussland: Alexander Lukaschenko, ein Präsident aus einer alten Zeit, die sich selbst in Weißrussland nicht mehr konservieren lässt.
Minsk ist der Motor dieser kulturellen Veränderung, die schleichend und schwierig sein mag, aber nicht zu übersehen ist. Auch wenn sie dem Westen entgeht, weil er immer noch in Erwartung einer großen politischen Veränderung verharrt, die das Regime mit Pauken und Trompeten hinwegfegen möge wie 2004 in der Ukraine. Vor dem zentralen McDonald’s am Prospekt treffen sich abends die Jugendlichen; sie sind fröhlich, ihre Gesten frei. Die emotionale Zurückgezogenheit und öffentliche Miesepetrigkeit des Homo Sowjeticus verschwinden. Eine neue Generation, urban, gebildet, weltoffen und vor allem pragmatischer als ihre am Sowjetismus oder am Nationalismus geschulten ideologischen Eltern, schält sich aus der weißrussischen Gesellschaft heraus. Es könnte die Generation sein, die das Land entscheidend verändern wird.
Im März 2006 zeigte sich die Kraft dieser jungen Elite erstmals. Auf dem Minsker Oktober-Platz demonstrierten sie fünf Tage lang gegen Wahlfälschungen bei den Präsidentschaftswahlen. Diese Bewegung ist lebendig, aber zweifelsohne diffus. Von den alten Oppositionsrecken wird sie als zu wenig politisch und konfrontativ kritisiert. Tatsächlich mag sie sich schlecht in ein politisches Korsett zwängen lassen, dennoch ist sie das Beste, was die Gesellschaft gerade zu bieten hat.
Vertreter dieser Generation haben 2009 bereits die Führung der national-konservativen Oppositionspartei BNF (Belarussische Volksfront) übernommen. Alexei Janukewitsch, der neue Vorsitzende der ältesten und größten Oppositionspartei, ist 34 Jahre alt und hat Wirtschaftswissenschaften studiert. Das aber ist nicht das einzige sichtbare Zeichen der neuen Generation. Man sieht junge Geschäftsmänner, die schicke und alternative Cafés oder Restaurants betreiben; Projektmanagerinnen, die anspruchsvolle Literaturveranstaltungen organisieren; Künstler, Musiker oder Literaten, die sich an neue Formen wagen. Es gibt eine neue Welle junger englischsprachiger Rockbands wie The Toobes, deren Kreativität sicher noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hat, die aber zeigt, wie sehr die Jungen den Anschluss an die Welt suchen.
Minsk ist nicht New York, aber es ist mitnichten ein Niemandsland der Kreativität, wie man es als Westler vermuten würde. Erst im vergangenen Jahr fand in Minsk die erste große Schau weißrussischer moderner Kunst statt. Zudem eröffnete die Galerie Y, ein privates Unternehmen, das sich experimentell daran wagt, sowohl die sowjetischen als auch die national-weißrussischen Mythen und Ästhetiken in Frage zu stellen.
Wir passieren den Palast der Republik, einen gewaltigen Klotz auf dem Oktober-Platz. Bunte Fähnchen flattern im Wind. Ein roter Teppich ist ausgerollt für die Premiere des ersten weißrussischen Horrorfilms „Masakra“, gedreht mit staatlichen Geldern von Andrej Kudinjenko. Der Film vermischt Mystik, Romantik, weißrussische Legenden und die Geschichte der weißrussischen Adeligen zu einer attraktiven Mischung, die man durchaus als genuin „weißrussisch“ bezeichnen kann. Ein erster Versuch, auch die Kinobesucher jenseits des Grenzflusses Bug zu erreichen.
Es ist unübersehbar: Auch wenn das Regime immer noch die Regeln in Politik, Wirtschaft oder Kultur setzt, so wächst die Sehnsucht nach Qualität, nach Professionalität, nach Selbstbestimmung und alternativen Denkweisen. Die Liberalisierung in Kultur und Wirtschaft haben die Selbstgestaltungsräume für die Menschen erweitert. Und auch im Regime selbst gibt es eine neue Generation, die den Provinzialismus und die Starre der Alten abwerfen will. Ob sie auch die Autokratie abwerfen wollen, wird sich zeigen.
Vielleicht klingt das zu optimistisch, aber man muss einfach optimistisch sein bei einem Land, das in seiner Geschichte immer wieder von Armeen verwüstet wurde, das so häufig als Verlierer dastand, das sich aber dennoch behauptet hat.
INGO PETZ lebt als Journalist und Autor in Berlin. Er bereist Weißrussland seit über 15 Jahren.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 122-123